Baerbock und Habeck im Osten: Grüne reisen nach Sachsen

Die Lage der Grünen im Osten ist prekär. Bei der Sachsen-Tour von Habeck und Baerbock bleiben aber direkte Konflikte aus, trotz protestierender Nazis.

Menschen in Schutzanzügen

Berührungsängste: Grüne Mi­nis­te­r*in­nen Habeck (links) und Baerbock besuchen Dresdner Chipfabrik Foto: Sebastian Kahnert/dpa

DRESDEN/OTTENDORF-OKRILLA/CHEMNITZ taz | Annalena Baerbock wird persönlich, wie oft bei ihren Auftritten. Sie erzählt, wie kurz nach dem russischen Überfall junge Leute aus Russland, Belarus und der Ukraine bei einem Treffen gemeinsam geweint und sich in den Armen gelegen hätten, „ich auch“. Wie ein ukrainisches Flüchtlingskind sie gebeten habe, dem ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenski zu sagen: „Ich will meinen Papa wiederhaben.“ Der Vater kämpfe im Krieg. Und wie der Leiter eines ukrainischen Waisenhauses ihr berichtete, dass russische Soldaten Kinder verschleppt hätten: „Sie nahmen neun Kinder einfach mit.“

Konkrete Beispiele mit persönlichem Bezug helfen, das Publikum für sich einzunehmen, das gehört zum Einmaleins der politischen Kommunikation. Und dass dieser Freitagabend für sie kein Heimspiel wird, davon dürfte Baerbock fest ausgegangen sein. Im weißen Kleid sitzt die grüne Außenministerin auf der Bühne im „Kraftverkehr“, einem Veranstaltungszentrum in Chemnitz. In jener Stadt in Sachsen also, in der 2018 nach rechtsextremen Ausschreitungen ein „Schweigemarsch“ der AfD durch die Stadt zog, bei der von harten Neonazis bis zum vermeintlich braven Bürger alles mitmarschierte.

Neben Baerbock hat Ex-Boxprofi Wladimir Klitschko Platz genommen, dessen Bruder Vitali Bürgermeister von Kiew ist. Die Regionalzeitung Freie Presse hat zur „Leser-Debatte“ geladen. Das Interesse war riesig, die Zeitung hat die 280 Plätze nach eigenen Angaben verlost.

Erste Frage an Baerbock: Wie gehe sie damit um, dass die Skepsis wegen des Ukrainekriegs im Osten deutlich größer als im Westen ist? Ein emotionales Thema sei der Krieg für alle, sagt die Ministerin. Vor ein paar Stunden, an der deutsch-tschechischen Grenze, sei sie als „Kriegstreiberin“ beschimpft worden. Aber: „Niemand wollte diesen Krieg. Einer hat ihn vom Zaun gebrochen und wir tun jeden Tag alles dafür, dass die Menschen in der Ukraine wieder in Frieden leben können.“ Der große Teil des Publikums klatscht.

So geht es weiter. Anderthalb Stunden lang keine aufgebrachten Zwischenrufe, kein Pfeifen, keine Pöbelei. Stattdessen Applaus. Zwar gibt es einige Zuschauer, die demonstrativ kopfschüttelnd die Arme vor der Brust verschränken. Aber sie schweigen. Die wenigen Fragen, die die Mo­de­ra­to­r*in­nen aus dem Publikum zulassen, bleiben sachlich. Der erste Leser sagt gar: „Verzeihen Sie uns, dass es so viele Irre gibt in dieser Stadt, die mit Russlandfahnen rumlaufen.“ Da applaudieren sehr viele im Saal.

Diese „Irren“ allerdings stehen auch vor der Tür. Zur Demonstration der rechtsextremen Freien Sachsen sind laut Polizei 400 Leute gekommen. Auch „Kriegstreiberin“ wurde aus einer kleinen Gruppe Freier Sachsen gerufen.

Klitschko und Baerbock vor einem interessierten Publikum

In der Ecke der Ukraine: Baerbock in Chemnitz mit Ex-Boxer Wladimir Klitschko Foto: Hendrik Schmidt/dpa

Baerbock ist für zwei Tage auf Sommertour in Sachsen, Wirtschaftsminister Robert Habeck gleichzeitig auch, abgesprochen war das anfangs nicht. Im ehemaligen Dreamteam der Grünen kämpft jeder für sich. Nach einem gemeinsamen Besuch beim Chiphersteller Infineon in Dresden, dem ersten gemeinsamen Termin dieser Art, seitdem die Grünen an der Regierung beteiligt sind, trennen sich die Wege. Doch die Erfolgsstory von Infineon, die nehmen beide mit.

Das Werk in Dresden wird deutlich erweitert, von 2026 an sollen hier Leistungshalbleiter produziert werden, die vor allem der Dekarbonisierung und Digitalisierung dienen. Tausend neue Arbeitsplätze soll das bringen, der Bund hat 1 Milliarde Euro Förderung zugesagt.

Die grüne Spitze will im Osten mehr Präsenz zeigen. Als die Partei im Mai den Zusammenschluss von Bündnis 90 mit den Grünen vor 30 Jahren in Leipzig festlich beging, forderte die Basis Unterstützung vor Ort. Nicht nur Habeck und Baerbock reisen derzeit durch Sachsen, auch Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt ist unterwegs, ein Besuch von Fraktionschefin Katharina Dröge ist angekündigt. Die Zustimmungswerte der Grünen sind nach dem Streit über das Heizungsgesetz bundesweit abgesackt, Habeck hat enorm an Beliebtheit eingebüßt. In Ostdeutschland aber, wo die Grünen schon immer zu kämpfen haben, ist die Lage besonders prekär.

Das Heizungsgesetz hat nach Baerbock nun auch Habeck hier mancherorts zu einer Hassfigur gemacht, die AfD hat die Grünen schon lange als Feind markiert, von den Freien Sachsen ganz zu schweigen. Dass CDU-Chef Friedrich Merz die Partei zum Hauptgegner erklärte und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) ihm beipflichtete, obwohl er mit den Grünen regiert, dürfte die Sache nicht besser machen.

Doch der Streit über das Heizungsgesetz hat nicht nur die Grünen in Umfragen Prozente gekostet, er hat auch zum neuen Auftrieb für die AfD beigetragen. Bundesweit steht die extrem rechte Partei bei 20 Prozent, bei der Landtagswahl im kommenden Jahr könnte sie in Sachsen, aber auch in Thüringen und Brandenburg, stärkste Kraft werden. Die sächsischen Grünen holten bei der Landtagswahl 2019 gerade 8,6 Prozent, das sind zwölf Sitze.

„Die Debatte um Klimaschutz ist zu einem Thema der Spaltung geworden, das wurde auch so gespielt“, sagt Habeck. „Aber das war mal anders.“ Es habe einen breiten Konsens in der Mitte der demokratischen Parteien gegeben, dahin müsse man zurück.

Habeck will Unternehmen besuchen, die für die Transformation wichtig sind. Hier in Sachsen, dem wirtschaftlich stärksten der ostdeutschen Länder, sind das neben Infineon ein Dachdeckerbetrieb und ein Maschinenbauer, Weltmarktführer für Windrad- und Getriebeteile. Als Habecks Tross dort ankommt, geht es zu einem Nebeneingang. Vor dem Haupttor stehen knapp 20 De­mons­tran­t*in­nen und brüllen, auch hier hin haben die Freien Sachsen mobilisiert. Ein Gespräch mit Un­ter­neh­me­r*in­nen bei der Industrie- und Handelskammer steht ebenfalls auf Habecks Programm, dahin darf die Presse aber nicht mit. Ein anvisierter Bürgerdialog fällt wegen Zeitmangels flach.

In den Unternehmen geht es um das Heizungsgesetz und hohe Energiepreise, um fehlende Azubis und zu viel Bürokratie. Die hohen Zustimmungswerte für die AfD sind dabei der Elefant im Raum, den niemand anspricht. Jochen Hanebeck, der Vorstandschef von Infineon, betont den großen Bedarf an Fachkräften für sein Unternehmen. Als Habeck den Maschinenbauer Flender in Penig besucht, werden ihm flugs zwei Mitarbeiter aus der Ukraine vorgestellt. Und beim Dachdeckerbetrieb Dittrich in Ottendorf-Okrilla betont der Juniorchef, dass die Firma für „Freiheit, Demokratie und offenen Meinungsaustausch“ stehe. Der Familienbetrieb sei 1905 gegründet worden und habe die „DDR-Diktatur“ überlebt. Jetzt führe ihn die Familie in der fünften Generation. Das alles darf man wohl auch als Statements verstehen.

Lob für Habeck

Wenig später steht Habeck in der Lehrlingswerkstatt vor einem Übungsdachstuhl mit ein paar Tonziegeln dran, an denen er sich später versuchen darf. Daneben: Jörg Dittrich, der Chef. Der Dachdeckermeister ist zudem Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks. Was er sagt, ist also auch jenseits seines Betriebs von Bedeutung. Dittrich fordert mehr Wertschätzung für die berufliche Bildung und dass der Bund da nicht kürze: „Dachdecker, einer von 30 klima­relevanten Berufen, in diesen Berufen arbeiten 3,1 Millionen Beschäftigte in ungefähr 490.000 Betrieben. All diese Betriebe brauchen Leute.“

Die Stimmung sei negativ, die Gesellschaft durch die vielen Krisen erschöpft. Dazu kämen starke Veränderungen wie durch das Heizungsgesetz. „Die Zeit der Diskussion war zu kurz“, fährt der Handwerkspräsident fort. Er sagt aber auch, dass er nicht einer Partei die Schuld gebe, und: „Das Ergebnis ist für das Handwerk tragbar.“ Die Kunden seien noch verunsichert, aber er hoffe, diese Phase sei bald durch. Dann ist der Minister dran, er bedankt sich überschwänglich. Die Ausführungen zur Familiengeschichte des Unternehmens seien, und „das meine ich von ganzem Herzen“, ergreifend und auch politisch gewesen, sagt Habeck ganz habecklike. So hätten sie miterklärt, warum eine gesellschaftliche Unruhe und Skepsis auch aus einer geschichtlichen Erfahrung entstehe. Er betont, die Politik habe den Stellenwert des Handwerks begriffen, und verspricht, sich für pragmatische Lösungen einzusetzen.

Am Rande in der Werkstatt steht Kassem Taher Saleh, Bauingenieur und Bundestagsabgeordneter der Grünen aus Dresden. „Der Besuch von Robert ist gigantisch“, sagt er. Auch dass die anderen aus der grünen Spitze nach Sachsen kommen, sei sehr wichtig. „Wir haben Probleme beim Mobilisieren der Mitglieder.“ 3.500 Säch­s*in­nen sind bei den Grünen. Das ist gut im Vergleich zu den anderen ostdeutschen Landesverbänden und liegt auch an Dresden und Leipzig, den großen Städten. Doch angesichts der gesellschaftlichen Stimmung ist es besonders auf dem Land schwer, Leute zu finden, die sich engagieren. Und wer kandidiert schon gern, wenn sich am Laternenpfahl Plakate finden, auf denen „Hängt die Grünen“ steht?

„Dass Robert sich auf Erfahrungen aus Ostdeutschland bezogen hat, nehmen die Leute hier wahr“, meint Taher Saleh. Er ist im Irak geboren und in Plauen aufgewachsen, im Bundestagswahlkampf ist er bedroht und mit Eiern beworfen worden, zweimal wurde er fast geschlagen. Abhalten lässt er sich davon nicht. „Wir müssen da volle Kanne raus, knallhart unsere Standpunkte verteidigen“, sagt er. Natürlich gebe es Vorurteile, aber wenn man auf die Leute zugehe und mit ihnen rede, ende es oft positiv. „Zwei Punkte sind wichtig: Identifikation und Stolz. Ich bin von hier und ich stelle einen positiven Bezug dazu her. Wenn das geklärt ist, kann man inhaltlich debattieren. Manchmal jedenfalls.“

Die gesamte Führungsspitze der Grünen, Göring-Eckardt und die Umweltministerin Steffi Lemke einmal ausgenommen, stammt aus dem Westen.

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