Femizide in Hamburg: Jede Menge Einzelfälle

Nach dem sechsten Femizid in Hamburg protestieren Ak­ti­vis­t*in­nen gegen die Verharmlosung als Ausnahmefall. Sie fordern eine Aufarbeitung.

Auf einem städtischen, belebten Platz stehen Aktivistinnen mit Kerzen und einem Transparent, Aufschrift: Keine Mehr. Gemeinsam gegen Feminizide.

Sie wollen Femizide nicht länger hinnehmen: Protest auf dem Hamburger Alma-Wartenberg-Platz Foto: Katarina Machmer

HAMBURG taz | „Alle sollen wissen, es reicht!“, ruft eine junge Frau auf dem Alma-Wartenberg-Platz in Hamburg-Altona. „Unser Körper, unsere Freiheit und unser Leben gehören einzig und allein uns!“

Die Aktivistin ist Teil des Anti-Feminizid-Netzwerks Hamburg, eines Kollektivs feministischer Organisationen, Beratungsstellen und Schutzeinrichtungen, das nach jedem Frauenmord in Hamburg eine Mahnwache hält. Im Juli ereignete sich nach den Recherchen des Netzwerks der neueste Femizid: Eine 82-Jährige wurde in Hamburg-Hamm von ihrem Mann umgebracht.

Laut Angaben des Hamburger Senats sind 2022 17 Frauen getötet worden. In den ersten drei Monaten dieses Jahres gab es fünf Opfer. Laut dem Bundesfamilienministerium wird in Deutschland jede dritte Frau in ihrem Leben Opfer von physischer und/oder sexualisierter Gewalt.

Das Anti-Feminizid-Netzwerk zählt Frauenmorde in Hamburg zusammen mit der Linksfraktion, die regelmäßig Anfragen an den Senat stellt und damit die Zahlen öffentlich macht. Ein behördliches Monitoring von Femiziden gibt es weder in Hamburg noch anderswo in Deutschland.

Femizide nicht in Kriminalstatistik

Auf Anfrage der Linken schrieb der Hamburger Senat Ende 2020, Bund und Länder stünden im Austausch zum Aufbau einer Monitoringstelle. Auf eine Anfrage im Juni 2023, ob es eine Dokumentation von Tatmotiven gäbe, antwortete der Senat: „Der Sachstand ist unverändert“.

Auch in der Kriminalstatistik tauchen Femizide nicht unter dieser Bezeichnung auf. Stattdessen führt das Bundeskriminalamt eine Statistik zu „Partnerschaftsgewalt“. Das Anti-Feminizid-Netzwerk Hamburg kritisiert, dass Femizide nicht ausdrücklich als solche benannt werden. Eher würden sie von den Medien und dem Staat verharmlost und als Einzelschicksale betrachtet.

Über den letzten Frauenmord sagt eine Sprecherin des Netzwerks: „Die Staatsanwaltschaft spricht von einem ‚besonders tragischen Fall‘. Wir nennen es Feminizid.“ Damit nutzt das Netzwerk einen Begriff aus Lateinamerika. Der bezieht ein, dass die Tötung von Frauen in einem politischen und gesellschaftlichen System stattfindet, das die Täter gar nicht oder nicht angemessen bestraft.

Teil des Hamburger Anti-Feminizid-Netzwerks sind auch Frauen mit lateinamerikanischen Wurzeln. In Lateinamerika, wo es viele Femizide gibt, wird zunehmend versucht, die Gewalt gegenüber Frauen sichtbar zu machen. Schon Mitte der 2000er Jahre wurde der Straftatbestand „Feminizid“ eingeführt.

Anika Ziemba, Frauenhaus

„Da sagen viele: ‚Ich halte diese drei Jahre durch und hoffe, ich überlebe das‘

In Deutschland hat Justizminister Marco Buschmann (FDP) im letzten Jahr angekündigt, Paragraf 46 des Strafgesetzbuchs, in dem es um die Strafzumessung geht, um das Merkmal „geschlechtsspezifische Motive“ zu ergänzen. Bisher wurde dieser Plan nicht umgesetzt.

Anika Ziemba vom Frauenhaus Hamburg sagt, Femizide seien die Spitze eines Eisbergs aus physischer, sexualisierter und psychischer Gewalt. In jedem vierten Fall ist der Täter ein aktueller oder ehemaliger Partner. „Meistens sind Trennungen der Moment, wo die Gewalt in einen Mord eskaliert“, so Ziemba. In Beratungsgesprächen erzählten Frauen regelmäßig, ihr Partner habe gesagt: „Wenn du dich von mir trennst, bringe ich dich um“.

Aber für die Frauen gibt es deutlich zu wenig Zufluchtsorte. In Hamburg fehlen laut Ziemba rund 200 Plätze, die existierenden Frauenhäuser seien „immer voll“. Bundesweit mangele es an etwa 15.000 Plätzen. Erst mit 21.000 Frauenhausplätzen in ganz Deutschland wären die Vorgaben der Istanbul-Konvention erfüllt, ein Abkommen des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.

Doch auch das Frauenhaus kann keinen absoluten Schutz bieten. Regelmäßig erlebt Anika Ziemba, dass Männer Bewohnerinnen von Frauenhäusern über gemeinsame Kinder ausfindig machen und den Frauen dann auflauern. Deswegen fordert Ziemba, dass der Umgang der Kinder mit dem Vater leichter ausgesetzt werden kann. „Wir brauchen einen umfassenden Gewaltschutz ohne Hintertüren, der Täter in die Verantwortung nimmt“.

Zu wenig Notplätze

Ohnehin haben Ziemba und ihre Kol­le­g*in­nen oft nur in der Notaufnahme Platz, „und auch da arbeiten wir am Limit“. Häufig müssen Schutzsuchende an andere Frauenhäuser verwiesen werden. Viele entscheiden sich dann, trotz häuslicher Gewalt und Morddrohungen in Hamburg zu bleiben, erzählt Anika Ziemba. Denn hier hätten sie ihre Jobs und ihr soziales Netzwerk, das in Krisensituationen besonders wichtig sei.

Betroffene Frauen zahlen dafür einen hohen Preis – insbesondere, wenn sie aus dem Ausland nach Deutschland kommen. Sind sie verheiratet, bindet die Ehe sie laut Anika Ziemba hierzulande drei Jahre an den Mann. Trennen sich die Frauen vorher, müssen sie zurück ins Heimatland. „Da sagen dann viele: ‚Ich halte diese drei Jahre durch, und ich hoffe, ich überlebe das‘“, sagt Ziemba.

Transparenzhinweis: Wir haben auf Wunsch das Zitat eines Mitglieds des Anti-Feminizid-Netzwerks Hamburg aus dem Text entfernt. Die Redaktion

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