Digitalisierung der deutschen Verwaltung: Im Land der Digital Naives

Eigentlich sollte die deutsche Verwaltung schon Ende 2022 digital laufen. Das hat, nun ja, nicht ganz geklappt. Die nächste Zielmarke: Ende 2024.

Hände liegen auf einem Schreibtisch, auf dem Tisch steht ein Stempelhalter mit verschiedenen Stempeln wie "ungültig" oder "Original lag vor"

Deutschland geht weiter stempeln: Noch sind wenige Verwaltungsleistungen hierzulande digitalisiert Foto: Florian Boillot

taz | Eine Baugenehmigung kann nervenaufreibend sein. Oft sind ordnerweise Formulare auszufüllen und Gutachten abzugeben. Fehlt eine Kleinigkeit, kann der ganze Prozess ins Stocken geraten. Für jeden weiteren Schritt müssen die An­trag­stel­le­r:in­nen höchstpersönlich aufs Amt marschieren, um gedruckte Formulare abzugeben, Unterschriften zu leisten oder Informationen nachzutragen. Digitalisierung leider Fehlanzeige. Manche Bauprojekte ziehen sich so mehrere Jahre bis zu ihrer Genehmigung.

Das ist nicht gerade hilfreich in einem Land, in dem dringende Infrastrukturprojekte lange auf sich warten lassen. Brücken, Bildung, Breitband: Die Ampelkoalition wollte da ran. Anfang September formulierte Bundeskanzler Scholz im Bundestag den „Deutschland-Pakt“ als eine Art bürokratisches Beschleunigungsversprechen. Wichtige Transformationsprozesse wie die Energiewende oder der Ausbau von Breitband-Internet sollen vorankommen, indem Genehmigungen schneller erteilt werden. Ein entscheidender Bremsklotz laut Scholz: die mangelnde Digitalisierung der deutschen Verwaltung.

Von Online-Behördengängen können viele Deutsche bis heute nur träumen. 2017 hatte die Große Koalition das Onlinezugangsgesetz (OZG) beschlossen, nach dem bis Ende 2022 alle Verwaltungsleistungen auch digital zur Verfügung stehen sollten. Heute, im September 2023, ist nur ein Bruchteil der Leistungen tatsächlich schon digitalisiert. Und das längst noch nicht deutschlandweit.

Als Ende vergangenen Jahres das Scheitern der Gesetzesziele absehbar war, nahm die Ampel einen neuen Anlauf: das OZG 2.0. Was futuristisch klingt, so als würde jetzt wirklich alles von Kopf bis Fuß durchdigitalisiert, ist eigentlich nur ein Eingeständnis von Realismus. Immerhin 15 Fokusleistungen, also besonders wichtige Verwaltungsprozesse, sollen jetzt bis Ende 2024 online verfügbar sein. Gleichzeitig schärft das Gesetz, das am Mittwoch zum ersten Mal im Bundestag beraten wurde, noch einige andere strittige Punkte rund um die Digitalisierung der Verwaltung nach. Dokumente sollen Bür­ge­r:in­nen nur noch bei einer Behörde einreichen müssen, überflüssige Prozesse sollen nicht digitalisiert, sondern abgeschafft werden. Die einzelnen Fokusleistungen sollen nach dem „Einer-für-alle“-Prinzip zunächst nur einem Bundesland oder einer Bundesbehörde digitalisiert und dann von allen anderen Ländern übernommen werden.

Einer macht, keinen interessiert es?

Verpflichtend ist das aber laut dem aktuellen Entwurf nicht, was während der Bundestagsdebatte am Mittwoch Abgeordnete von Regierungs- und Oppositionsfraktionen in seltener Einmütigkeit kritisierten: „Es gibt keine Konsequenzen, wenn man sich nicht an die Vorgaben hält. Das muss sich ändern“, forderte beispielsweise Misbah Khan (Grüne). „Lassen Sie die Länder machen“, konterte hingegen die bayerische Staatsministerin für Digitales, Judith Gerlach, die als Vertreterin des Bundesrats anwesend war. Volker Redder (FDP) zweifelt daran, dass sich die Länder auf einheitliche Standards einlassen würden. Bayern zum Beispiel wolle die vom Bund bereitgestellte Lösung zur digitalen Identifikation nicht übernehmen. Gleiches gilt auch für viele der einzelnen Fokusleistungen.

Für die digitale Umsetzung von Baugenehmigungen ist zum Beispiel Mecklenburg-Vorpommern zuständig. Als man sich dort für die Fokusleistung gemeldet hatte, sei erst mal ein Raunen durch die Runde gegangen, berichtet Christoph Vollmer. Er ist im Landesinnenministerium als Projektleiter für den digitalen Bauantrag zuständig: „Eines der kleinsten Bundesländer übernimmt die größte Leistung, da waren die anderen Bundesländer anfänglich erstaunt“. Das sei Vollmer zufolge heute anders: „Die digitale Baugenehmigung ist ein Musterbeispiel für umfassende Digitalisierung aus dem OZG-Kontext.“

Doch wie umfassend das Online-Angebot den Bür­ge­r:in­nen tatsächlich zur Verfügung steht, darauf haben die Ent­wick­le­r:in­nen keinen Einfluss. Denn keine Behörde ist verpflichtet, die digitale Entwicklung einer anderen zu übernehmen. „Von unserer Seite aus ist der Rollout in den bereits eingerichteten Kommunen nahezu abgeschlossen. Alle eingerichteten Behörden sind in der Lage, die digitale Baugenehmigung live zu schalten. Wann es dann in den einzelnen Bauämtern tatsächlich so weit ist, wird vor Ort entschieden.“ Es gehe nun vor allem darum, den Livebetrieb mit ausgewählten Anträgen zu testen, damit die Sachbearbeiter sich einarbeiten können.

Dabei bleibt ihnen nicht mehr viel Zeit: Im Zuge seines Deutschland-Pakts hat Bundeskanzler Scholz die digitale Lösung bei Bauanträgen bis Ende 2023 angekündigt. Vollmer hält diese Frist prinzipiell für realistisch, wenn in den Ländern alle Beteiligten dieses Ziel verfolgen. Das bedeute nicht unbedingt, dass zu diesem Zeitpunkt in ganz Deutschland flächendeckend das digitale Angebot aus Mecklenburg-Vorpommern eingesetzt werde, sondern lediglich, dass es überall ein digitales Angebot für die Antragstellung geben werde. Denn obwohl der aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung zum OZG 2.0 am „Einer-für-alle“-Prinzip festhalten will, möchten zum aktuellen Zeitpunkt nur zehn Bundesländer die Baugenehmigung aus Schwerin übernehmen. Mit vier weiteren Ländern sei man in Gesprächen, berichtet Vollmer. Es habe aber vielerorts schon vor der Verabschiedung des ersten OZG eigene Entwicklungen für digitale Baugenehmigungen gegeben.

Berlin hisst die weiße Fahne

Obwohl also noch einige Fragen offen sind, sind die Aussichten in Mecklenburg-Vorpommern deutlich besser als bei vielen anderen Fokusleistungen. Bei zehn von 15 gibt es zumindest schon eine digitale Antragstellung und digitale Bescheide, wie ein Sprecher des Bundesinnenministeriums der taz sagte. Ob dabei die gesamten Prozesse in den Behörden selbst schon digital ablaufen, konnte ein Sprecher des Ministeriums nicht beantworten. Die Zuständigkeit hierfür liege in der Verantwortung von Ländern und Kommunen.

Flächendeckend im Einsatz ist bislang nur eine einzige Leistung als quasi 16. Fokusleistung: Der Energiezuschuss für Studierende, den die Ampel nach Beginn des Ukraine-Kriegs beschlossen hatte, wurde komplett digital abgewickelt. Besonders düster sieht es bei der Digitalisierung des Passwesens aus. Die sollte eigentlich das Land Berlin bis Ende 2024 umgesetzt haben. Doch im Mai zeigte eine schriftliche Anfrage des Grünen-Abgeordneten Stefan Ziller, dass der Senat die Aufgabe ans Bundesinnenministerium abgegeben hat.

Inhaltlich ergibt die Arbeitsteilung durchaus Sinn, da das Innenministerium ohnehin für Teile des Passwesens verantwortlich ist. Doch mit der Zusage, einen Verwaltungsprozess zu digitalisieren, übernimmt ein Bundesland auch immer die Verantwortung für den langfristigen Betrieb des digitalen Systems für alle anderen Länder. Auch hierfür fühlt Berlin sich nun aber nicht mehr zuständig. Bislang sei die Suche nach einem anderen Bundesland, das den Betrieb übernehmen könne, vergeblich verlaufen – Ausgang ungewiss.

Die Posse rund um den Personalausweis ist ein Symptom für einen grundlegenden Fehler in der Architektur der deutschen Verwaltungsdigitalisierung, den Fachleute schon lange kritisieren. Anders als beispielsweise das Digitalisierungsmusterland Estland verzichtete Deutschland darauf, der digitalen Verwaltung im ersten Schritt ein solides, technisches Fundament, ein sogenanntes Backend, zu schaffen. Estland hat schon 2001 begonnen, sichere Kommunikationswege zwischen Behörden und Bürger:innen, eine verlässliche Möglichkeit, sich online auszuweisen und eine grundlegende IT-Infrastruktur zu schaffen, an die alle einzelnen digitalen Prozesse angeschlossen wurden – die beste Garantie, dass alle Systeme am Ende auch zusammenpassen.

Deutschland jedoch fängt bei vielen einzelnen Leistungen gleichzeitig an zu digitalisieren. Der Nachteil: In Ländern und Kommunen wurden vielerorts eigenständig Prozesse digitalisiert – unter unterschiedlichen technischen Voraussetzungen. Für jedes einzelne Projekt muss nun sichergestellt werden, dass sie mit den verschiedenen technischen Systemen, die in den Behörden zum Einsatz kommen, zusammenpassen. Das für die einheitlichen Digitalprojekte des Bundes sicherzustellen, beispielsweise die Online-Ausweisfunktion, ist noch relativ einfach.

Doch technisch gesehen ist die deutsche Behördenlandschaft ein Flickenteppich. Eine Änderung, die an einem Projekt in einem Bundesland vorgenommen wird, kann dazu führen, dass es in einem anderen Land mit anderen technischen Voraussetzungen nicht mehr funktioniert und mühsam angepasst werden muss. Das Innenministerium verweist auf die verfassungsrechtliche Autonomie der Länder, die es nötig gemacht habe, auch bereits bestehende Lösungen mit einzubinden. Im Verlauf der Umsetzungen des OZG solle aber auch die „Konsolidierung hin zu einem einheitlichen Backend“ stattfinden, so ein Sprecher.

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