Überlastete Berliner Jugendhilfe: Jugendamt kapituliert

Seit Monaten warnen So­zi­al­ar­bei­te­nde vor einem Kollaps des Hilfesystems. Nun hat sich ein Jugendamtsteam in Berlin wegen Überlastung aufgelöst.

Ein braunes Haus, aus dessen Fenstern weiße Banner hängen, auf denen unter anderem "Jugendhilfe in der Krise!!!" steht

Als Zeichen der Kapitulation haben die Mit­ar­bei­te­r*in­nen weiße Fahnen aus den Fenstern gehängt Foto: privat

BERLIN taz | An der Tür des Jugendamts in der Planetenstraße in Neukölln hängt ein Zettel mit einer knappen Information, die weitreichende Folgen hat: Das Team 1 des Regionalen Sozialpädagogischen Dienstes, kurz RSD, ist „für längere Zeit“ nicht besetzt, steht dort. „Eine persönliche Beratung ist nicht möglich!“, heißt es weiter, darunter ist eine Nummer für Notfälle angegeben. Wer hier Hilfe sucht, steht im wahrsten Sinne des Wortes vor verschlossenen Türen.

Das Team 1 ist eines von insgesamt acht des RSD in Neukölln, einer Anlaufstelle des Jugendamts für Eltern, Kinder und Jugendliche bei Erziehungsfragen und familiären Problemen. Zuständig ist es für die Bereiche Köllnische Heide und Weiße Siedlung, also den Teil Neuköllns, der im Zuge der Silvesterkrawalle bundesweit Schlagzeilen machte. Umso fataler ist es, dass durch die Auflösung des Teams genau hier seit Anfang September keine Beratung und Hilfe durch Sozialarbeitende der Jugendhilfe mehr stattfindet.

„Die Belastung ist immer größer geworden, dadurch haben immer mehr Leute gekündigt oder sind krank geworden“, sagt Kim Meier. Meier hat in dem vormals achtköpfigen Team 1 in Neukölln gearbeitet und heißt eigentlich anders. Aus Angst vor negativen Konsequenzen möchte Meier nicht mit richtigem Namen in der Zeitung stehen. „Wir konnten unserem gesetzlichen Auftrag nicht mehr nachkommen und den Kinderschutz nicht mehr zuverlässig gewährleisten“, sagt Meier.

Im schlimmsten Fall hieße das: Misshandlungen, die nicht gesehen werden, Gewalt, bei der nicht interveniert wird, ausbleibende Unterstützung, wenn Kinder vernachlässigt werden. Von vorbeugenden Hilfen ganz zu schweigen. Das Team sei mehr und mehr zu einer Art Feuerwehr geworden, der tägliche Druck, entscheiden zu müssen, wo es mehr brennt, sei am Ende zu groß geworden. Doch statt die So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen zu unterstützen, seien die Gelder für Supervision um fast die Hälfte gekürzt worden.

Hilferufe wurden nicht gehört

Am Ende war der Druck so groß, dass sich das Team nach und nach auflöste. Dabei hätte es laut Meier gar nicht so weit kommen müssen. „Wir haben über Monate gesagt, dass es nicht mehr geht. Als Reaktion gab es nur Durchhalteparolen und warme Worte.“ Als Zeichen der Überlastung hängten die So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen immer wieder weiße Fahnen aus den Fenstern, auf denen sie vor einem Kollaps warnten. Auch auf Demonstrationen machten sie auf ihre prekäre Lage aufmerksam. Schließlich stellten sie Ende März eine Überlastungsanzeige, doch auch diese sei ohne Konsequenzen geblieben.

Nach der Auflösung des Teams wurden die Fälle auf die anderen Teams in Neukölln übertragen. „Die Betreuung der Familien in der Köllnischen Heide und natürlich die Sicherung des Kinderschutzes sind gewährleistet“, so der Sprecher des Bezirksamtes Neukölln zur taz. Kim Meier beruhigt das wenig. „Die anderen Teams sind selbst schon überlastet.“ Was bleibt, ist ein schlechtes Gewissen. „Das sind Familien, nicht einfach nur Fälle.“

Kim Meier, So­zi­al­ar­bei­te­r*in

„Das sind Familien, nicht einfach nur Fälle.“

Nicht nur für Familien und Kinder in Krisensituationen ist der Wegfall des Teams eine Katastrophe. Auch andere Jugendhilfeträger vor Ort, die mit dem Jugendamt kooperieren, sind davon betroffen. „Man merkt ihre Abwesenheit auf jeden Fall“, sagt eine Schulsozialarbeiterin, die ebenfalls nicht namentlich genannt werden möchte, der taz. „Sie haben unglaublich viel geleistet, wir brauchen sie.“ Die Köllnische Heide gilt als schwieriger Kiez, „der Bedarf ist sehr hoch“. Insbesondere seit Corona seien die Kinderschutzfälle extrem angestiegen.

Personalbemessung entspricht nicht dem Bedarf

Das ist nicht nur in Neukölln der Fall. Seit Monaten gehen So­zi­al­ar­bei­te­r*in­nen auf die Straße, um auf die Probleme durch Unterfinanzierung und Personalmangel aufmerksam zu machen. „Ich kenne kein Jugendamt, das nicht über Überlastung klagt“, sagt Fabian Schmidt von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Die Personalbemessung bildet nicht den Bedarf ab“, so Schmidt. Durch die permanente Überlastung komme es zu mehr krankheitsbedingten Ausfällen, was wiederum die verbliebenen Kol­le­g*in­nen zusätzlich belastet, die dann auch ausfallen – ein Teufelskreis.

Dass ein Jugendamtsbüro vorübergehend für den Publikumsverkehr schließt, um mit der Bearbeitung der Fälle hinterherzukommen, passiere regelmäßig. Dass es komplett ausfällt, hat der Gewerkschafter jedoch noch nicht erlebt. „Das ist eine neue Eskalation.“

Neben einer Überarbeitung der Berechnung des Stellenschlüssels fordern Gewerkschaften bereits seit längerem eine Obergrenze von 28 Fällen pro Jugendamts-Mitarbeiter*in. Oft sind es eher um die 70. Doch die Fallzahlen alleine sind nicht der Schlüssel zur Lösung der Krise: „Man muss nach den Bedarfen schauen. Der ist von Bezirk zu Bezirk sehr unterschiedlich“, sagt Schmidt. Ju­gend­amts­mit­ar­bei­ter*in Kim Meier aus Neukölln kann das nur bestätigen: „Die Bedarfe bei uns im Kiez sind einfach sehr hoch und komplexer als woanders.“

Neues Team, neues Glück?

Laut Bezirksamt Neukölln soll im Dezember eine neue Teamleitung ihre Arbeit aufnehmen. Zudem liefen mehrere Besetzungsverfahren beim RSD. „In den kommenden Wochen wird die Arbeitsfähigkeit des Teams insofern wieder hergestellt sein“, so ein Sprecher.

Ob sich dann auch etwas an der Arbeitsbelastung ändern wird, damit die neuen Mit­ar­bei­te­r*in­nen nicht ebenfalls ausbrennen? Die zuständige Bezirksstadträtin Sarah Nagel (Linke) will sich dazu nicht äußern. Seitens des Senats gibt es bislang ebenfalls wenig Bewegung. Im Oktober hatten Jugendhilfeträger einen Forderungskatalog an den zuständigen Staatssekretär Falko Liecke (CDU) übergeben. Laut Senatsjugendverwaltung soll noch in diesem Jahr ein Treffen dazu stattfinden, um „Maßnahmen zu besprechen und Wege zu suchen, die schwierige Lage in der Sozialarbeit positiv zu gestalten.“ Auch im Rahmen des Jugendgewaltgipfels seien Maßnahmen zur Verbesserung beschlossen worden.

Ob am Ende wirklich mehr Geld in die Hand genommen wird, wird sich zeigen. Sinnvoll wäre es allemal. „Jeder Euro, der jetzt in die Jugendhilfe fließt, muss später nicht ins Justizsystem oder in Transferleistungen fließen“, ist Kim Meier überzeugt.

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