Der Hausbesuch: Tanzender Wandervogel

Die Jugendbewegung hat Hedo Holland politisiert. Heute ist er 90 Jahre alt. Zum Glücklichsein gehört für ihn nicht viel.

Hedo Holland spielt auf seiner Gitarre.

Hedo Holland war früher in der SPD, dann bei den Grünen. Viele in der Gegend würden aus Protest AfD wählen, sagt er Foto: Christian Jungeblodt

Auf dem Klingelschild steht: „Rabenhof – Hedo Holland“. Detlef Walter Wilhelm Holland soll hier wohnen, warum „Hedo“? Es sei sein Wandervogel-Name, erklärt er. Er will so genannt werden. Denn die Jugendbewegung habe ihn geprägt.

Draußen: Das Dorf Lüttenmark in Mecklenburg-Vorpommern, das „kleine Festung“ bedeutet, liegt abgeschieden. Hamburg ist 50 Kilometer entfernt, der nächste Bahnhof 12. Die Taxis, die für das Verkehrsunternehmen als „Rufbus“ hier rausfahren, lassen sich nur alle zwei Stunden bestellen. Auf dem Weg zu Hollands Haus kommt man an einem Friedhof mit Kapelle vorbei, vor allem aber an Schafen und Hühnern. Zwischen den vereinzelt stehenden Häusern sind große Abstände. Einen Dorfkern oder einen Laden gibt es nicht. Nur Felder und Weite. Vermeintlich ist es eine Idylle. Doch Wahlprognosen sehen die AfD hier als stärkste Kraft.

Drinnen: Schon der Vorbau des 240 Quadratmeter großen ehemaligen Bauern­anwesens strahlt durch viel Holz Wärme aus. In einem Raum mit niedrigen Decken, in dem einst Schweine gehalten wurden, stehen heute Tische und Bänke. Außerdem gibt es einen Tanzsaal, eine Bibliothek, einen Gesprächsraum, einen Schlafsaal mit Matratzen, ein Gästezimmer, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer und Bäder. Im 5.000 Quadratmeter großen Garten eine Jurte mit Feuerschale, Baumhaus, Bungalow und Bienenhaus. „Der Großteil ist für die Gemeinschaft. Ich brauche nicht viel.“

Wandervogel: Er habe, erzählt Holland an einem großen Holztisch in der Wohnküche, das Haus vor 30 Jahren für den „Wandervogel“ gekauft und ausgebaut. Seit 1947 gehört er der 1901 entstandenen und während der NS-Zeit und später in der DDR verbotenen Bewegung an. Sein Vater habe nach dem Krieg neue Horten, also Gruppen, aufgebaut: „Durch den Wandervogel bin ich politisch, bin ich Lehrer geworden.“ Und unabhängig von Ideologien geblieben. Der Grundsatz dort laute: „Ich will mein Leben mit eigener Verantwortung und nach innerer Überzeugung selbst gestalten, nach Möglichkeit in Gemeinschaft.“

Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Glücksregeln: „Singen, musizieren, tanzen, essen, trinken, lieben, philosophierende Gespräche führen, wandern und unterwegs sein, im Geiste und innerlich“, so die Wandervogel-Regeln. „Wer die vollzieht, hat ein fröhliches Leben. Wer drei Freuden am Tag hat, ist glücklich“, sagt Holland. Als Grund für sein eigenes Glück und seine Fitness im Alter sieht er noch seine Frau: „Also eine gute Beziehung.“ In dem Moment kommt Monia Holland herein, seine zweite Frau, die die Hälfte der Woche 100 Kilometer entfernt in ihrem eigenen Haus lebt. Sie umarmt ihn lächelnd: „Guten Tag, Herr Holland.“

Tanz und Musik: Es ist ein Donnerstagmittag. Wie jeden Donnerstag trifft sich hier am Abend eine Folklore-Tanzgruppe. Die „Rabentänzer“ kommen auch aus angrenzenden Gemeinden, um Gemeinschaftstänze zu tanzen. Musik spielt eine große Rolle in Hollands Leben: Seit „erst 45 Jahren“ hat er eine Band, die „Elbraben“, genauso lange gibt er das Folkmagazin heraus. In seiner Familie sei immer viel gesungen worden, Holland hat neben dem Magazin zwei Bücher mit seinen Liedern publiziert: „Das dritte liegt beim Drucker.“ Die meisten Lieder seien selbst komponiert: „Bei anderen habe ich neue Texte gedichtet.“ Er holt eines der Bücher und singt.

Ein altes Bild von Hedo Holland, auf dem er Gitarre spielt und im Stroh sitzt.

Hedo Holland spielt „seit erst 45 Jahren“ in einer Band und gibt ein Musikmagazin heraus Foto: Christian Jungeblodt

Kindheit und Jugend: Geboren ist er 1933, im Jahr der Machtergreifung durch die Nazis, in Hamburg. „Da wurde ich natürlich indoktriniert.“ Mit 11 sollte er zur Ausbildung an der Panzerfaust. Mit Waffen aber wollte er nichts zu tun haben. „Da bin ich abgehauen.“ Zurück bei seinen Eltern im zerbombten Hamburg sei es hart gewesen. Die einst wohlhabende Familie hatte alles verloren, der Vater war vom Krieg traumatisiert. „Wir haben dann 15 Jahre beengt in einem Haus mit nur einem Zimmer gelebt.“

Beruf: Auf Wunsch seines Vaters machte er nach dem Realschulabschluss zunächst eine kaufmännische Ausbildung. Anschließend holte er sein Abitur nach und studierte. Später arbeitete er als Lehrer an einer Haupt- und Realschule und leitete nebenbei ein Kulturzentrum, das nicht von der Stadt Hamburg, sondern durch Beiträge finanziert wurde. „Ich habe mich selbst ausgebeutet. Aus einem Idealismus heraus.“

Politisches Engagement: Seit den 60ern verortet er sich politisch links. 20 Jahre lang war er Mitglied der SPD. Nun ist er schon seit über 40 Jahren bei den Grünen, erzählt, er habe die Partei mitgegründet: „Aber mein Grünsein ist anders als das offizielle.“ Seine Leitlinien seien nicht die der Partei, sondern Mitmenschlichkeit und Frieden. Seit ungefähr 20 Jahren ist er auch Vorsitzender des Nabu-Landkreisvereins, hat mit seiner Frau den Fahrradweg vom Dorf in die Stadt veranlasst.

Abgehängt: Viele, sagt er, wählten aus Protest AfD. „Die werden mit ihren Problemen nicht gesehen, fühlen sich abgehängt.“ Über zwei Stunden erzählt er, was aus seiner Sicht schiefläuft, und das ist einiges: von Wendeverlier*innen, geringen Gehältern, unbezahlten Überstunden bis zum Glyphosat, das jahrelang über die Felder geweht sei, weshalb kein Obst mehr wuchs. Vom Breitband-Internet, das immer noch nicht funktioniere. Vom Rufbus-System, das nicht ideal sei, und den weiten Arbeitswegen bei steigenden Spritpreisen. Und von der Angst der Menschen vor politischen Entscheidungen wie in Upahl.

Containerdorf: In Upahl, einer nahegelegenen Gemeinde mit 400 Einwohner*innen, wurde ein Containerdorf gebaut, in dem 400 geflüchtete Menschen unterkommen sollten. Holland schüttelt den Kopf: „In einem Dorf ohne jegliche Infrastruktur, ohne Anbindung.“ Er findet, Integration müsse sofort geschehen, durch Einbindung, durch Erlernen der Sprache. Die Sprache sei das A und O: „Und die lernt man nur im ersten Vierteljahr.“ Er wisse, wovon er spreche: „Ich hatte die Boat­people in meinen Klassen.“

Lösungsvorschläge: Auch sonst hat Hedo Holland viele Ideen, was die Politik machen müsste, um das politische Klima auf dem Land zu verbessern: „Nachhaltige Kulturförderung“ beispielsweise. Und eine bessere Anbindung an den Rest der Welt. Eben durch funktionierendes Breitband und ein Sammelbestellsystem statt dem jetzigen Rufbus: „Ein Bus, der auf Anmeldung alle Dörfer anfährt und am Bahnhof ankommt, wenn die Züge fahren.“

Medienkritik: Die Bericht­erstattung in den Medien sieht er kritisch, meint, die taz beispielsweise berichte über Randständiges, „statt Hintergründe zu den Themen zu liefern, die mir unter den Nägeln brennen“. Er würde sich wünschen, dass Zeitungen auch Nachrichten für Kinder bringen. Und im Feuilleton mehr über europäische Folklore. Auf die Frage, wen man seiner Meinung nach in der Musikszene kennen sollte, schüttelt er erst den Kopf. „In der Folk­musik gibt es keine Stars.“ Dann denkt er noch einmal nach und sagt: „‚Die Grenzgänger‘ aus Bremen.“ Ihm selbst seien die Texte allerdings bisweilen zu kommunistisch.

Das Alter: Nach wie vor arbeitet er sechs Stunden am Tag am Computer und fährt noch Auto. Während er Kaffee zubereitet, sagt er, er sei im Kopf eher fitter geworden. „Ich vergesse mehr, aber ich kann Dinge schneller und besser einordnen.“ Die meisten seiner Freunde sind gestorben. „Jeden Monat stirbt ein weiterer.“ Er hat eine Tochter, einen Sohn und zwei Enkel.

Ein Maibaum im Schnee vor dem Rabenhof in Mecklenburg-Vorpommern.

Überreste vom Mai: Den Hof hat Holland vor 30 Jahren für den Wandervogel gekauft Foto: Christian Jungeblodt

Einsamkeitsverdorbenheit: Viel an dem, was schiefläuft, führt er auf mangelnde Gemeinschaft zurück. „Einsamkeitsverdorben in der Großstadt“ ist die Formulierung, die er dafür findet. Allerdings geht es laut seinen Erzählungen auf dem Dorf genauso viel oder wenig gemeinschaftlich zu. Er sagt, er habe keine Freunde hier, sei für die anderen immer ein Fremder geblieben, angesehen, aber nicht beliebt: „Die nennen mich den Dorfprofessor.“ Zu seinen Tanzabenden seien sie nie gekommen. Er sei dennoch glücklich im Dorf und mache unbeirrt sein eigenes Ding.

Sinn: Der Sinn unserer Existenz sei doch, „möglichst viel glücklich zu sein“, sagt Hedo Holland. Und: „dazu beizutragen, die Kultur und das Leben auf der Erde zu fördern“.

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