Einst ein guter Ort zu leben, heute nicht mehr: der Mehringplatz Foto: Jens Gyarmaty

Fehlgeleitete Stadtplanung:Viktoria? Für'n Arsch

Unsere Autoren leben am Mehringplatz in Berlin. In jüngerer Zeit geht es mit dem Kiez bergab. Und das hat am wenigsten mit den Anwohnern selbst zu tun.

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16.12.2023, 17:01  Uhr

Septembermorgen am Halleschen Tor, wo die berühmte Friedrichstraße überraschend in einer Großwohnsiedlung der frühen siebziger Jahre endet. Einer Betonburg mit bis zu 18 Stockwerken. Klassische Stadtrandbebauung eigentlich. Dabei ist die geografische Mitte Berlins nur wenige hundert Meter entfernt, und selbst von unserem Balkon im 5. Stock aus kann man den Potsdamer Platz sehen. Auf der Rasenfläche des kleinen Parks vorm Tommy-Weisbecker-Haus, das an die linksradikale Geschichte des Viertels erinnert, tollen ein paar Hunde herum.

Vom Checkpoint Charlie her weht es eine Gruppe übernächtigter Feiertouristen in den Kiez. Junge Leute in Designerklamotten retten sich torkelnd aus dem Berufsverkehr in die kleine Fußgängerzone unter uns. Doch auch dort rangieren heute schwere Limousinen und Wohnmobile herum. Ein Nachbar beschwert sich: „Scheiße, was soll das da unten?!“

Die Antwort bekommen wir an einem Absperrband, dessen Bewacher knapp erklärt, dass unser Viertel heute als Filmkulisse dient. „Ruhe jetzt! Kamera läuft!“ Das Rondell am zentralen Mehringplatz füllt sich mit Statisten, so verkleidet, wie sich das Fernsehteam die Anwohner offenbar vorstellt: Frauen in schwarzen Burkas, tätowierte Schläger. Filmkreuzberg.

Jenes Kreuzberg, das nicht Deutschland ist, wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz unlängst erklärte. Erst am Nachmittag werden die Kameras abgebaut, und mit ihnen verschwindet die Inszenierung als „sozialer Brennpunkt“. Vorm Al-Sultan-Bistro versammelt sich wieder der Klub älterer Damen türkischer und arabischer Herkunft.

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Wie jeden Tag beobachten sie bei Zigaretten und Sonnenblumenkernen das Treiben im Rondell. Am Stammtisch vorm Café MadaMe werden erste Biere bestellt. Zwei Omis mit Rollatoren füttern Tauben. Eine Bande halbwüchsiger Mädchen in Sportklamotten, manche mit, manche ohne Hid­schab, stürmt aus der U-Bahn. Laut und übermütig treten sie den Ball, beenden ihr Fußballtraining erst hier, wo sie wohnen, mit einem kleinen Kick zu Füßen der Siegesgöttin Viktoria, die auf ihrer Säule das Zentrum des Platzes markiert.

Würde man jetzt filmen, das Ergebnis könnte als Werbevideo für eine funktionierende interkulturelle Gemeinschaft auf niedrigem finanziellen Niveau dienen. Doch auch dieser Eindruck täuscht. Trotz stabiler Einwohnerstruktur ist das soziale Gefüge binnen weniger Jahre brüchig geworden. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Einst mondän, heute für viele ein Schandfleck

Die Viktoria auf dem Mehringplatz erinnert an die mondäne Geschichte des Viertels als südlicher Teil der ab 1688 errichteten und 1944/45 in Schutt und Asche gebombten Friedrichstadt – Prädikat: „vollständig zerstört“. Erst als der Bau der Berliner Mauer diesen Teil des historischen Zentrums zur Randlage Westberlins machte, entstand die Idee, hier eine hermetische Großwohnsiedlung mit sozialem Wohnungsbestand zu errichten. Das Rondell und die südliche Friedrichstraße wurden zur Fußgängerzone – mit Restaurants, Sozialräumen und Läden für den täglichen Bedarf. „Ein guter Ort zum Leben“, da sind sich diejenigen unserer rund 6.550 Nachbarn einig, die schon seit Fertigstellung Anfang der siebziger Jahre hier wohnen.

Stadtplanern von heute aber gilt der Kiez als Schandfleck. Nicht nur der massierten Betonarchitektur wegen, die sich der von Norden herankriechenden „Aufwertung“ mächtig entgegenstemmt, sondern auch wegen der Menschen, die hier leben. Über 70 Prozent haben einen Migrationshintergrund, mehr als ein Drittel bezieht Transferleistungen.

Darf denn so was sein, hier, im Zentrum der Hauptstadt? Gehören Marginalisierte nicht dem Wortsinn nach an den Rand?

Infografik: Infotext

Die Schlagzeilen aus jüngster Zeit scheinen die Einschätzung als „Problemviertel“ zu bestätigen: Angriff auf ein schwules Paar mitten am Tag, Massenschlägereien zwischen arabischen Familien, und wenig später wird ein Obdachlosenschlafplatz angezündet. Zum Glück kommen weder das dort hausende Paar noch ihr Hund körperlich zu Schaden. Was nirgendwo zu lesen war: Auslöser der Schlägereien war ein banaler Streit um Müllentsorgung, wie Karin Lücker, Betreiberin des Café MadaMe, neben dem sich alles abspielte, mitbekommen hat. Und für das obdachlose Paar organisierten Nachbarn und Gäste des Cafés noch vor Tagesanbruch eine neue Matratze, Decken, Hundefutter.

Die Zahl der Konflikte hat zugenommen

Alles halb so wild also? Nein. Tatsächlich ist die Stimmung im Kiez zuletzt kontinuierlich schlechter geworden, haben spontane Gewaltausbrüche unter Jugendlichen zugenommen. Der Kiez vermüllt. Hauseingänge und Treppenhäuser werden zum Drogenkonsum missbraucht, und im Sommer bilden sich feste Obdachlosencamps rund um den Platz. Eine Abwärtsspirale.

Gerade mal neun Jahre ist es her, dass wir an den Mehringplatz zogen. Das erste bezahlbare Angebot nach monatelanger Wohnungssuche. Ohne zu wissen, was uns erwarten würde, hatten wir zugesagt. Umso größer die Überraschung: Im Innern der abweisenden Betonburg herrschte eine geradezu beschauliche Stimmung. Rund um den Platz gab es alles, was man brauchte: Supermarkt und Drogerie, lauter kleine Geschäfte, ein türkisches Restaurant und sogar eine Kiezkneipe mit schwulem Stammtisch.

Die Nachbarschaft: eine erstaunlich entspannte Mischung aus alten Westberlinern türkischer und deutscher Herkunft, Kriegsflüchtlingen, jüdischen Rentnern aus der früheren Sowjetunion und enorm vielen Kindern. Auch Obdachlose waren fest in die Gemeinschaft integriert. Lulu zum Beispiel, eine ältere Dame im Rollstuhl, die regelmäßig von den Nachbarn neu eingekleidet wird und morgens am türkischen Backshop ihren Kaffee bekommt.

Markus Liske (links), Manja Präkels (Mitte) und zwei Anwohner bei ihren täglichen Besorgungen. Man kennt sich, man mag sich Foto: Jens Gyarmaty

Natürlich gab es Konflikte, aber wenn sich Jugendliche in der Fußgängerzone prügelten, schritt der Besitzer des Restaurants Yıldız zuverlässig ein. Nachts patrouillierten zwei eher skurrile Security-Männer durch die Gebäude, die durch bloße Anwesenheit verhinderten, dass Junkies und Dealer die Treppenhäuser in Beschlag nahmen. Über all dem lag eine täglich neu in Gesten, Worten und Haltungen verhandelte Friedfertigkeit, die man auch heute noch manchmal spüren kann. Doch vieles ist seither schiefgegangen, und das hat nichts mit der Einwohnerstruktur des Viertels zu tun.

Defekte Laternen, Heizungen, Fahrstühle

Binnen weniger Jahre verschwanden fast alle Geschäfte. Zuletzt sogar der Supermarkt. Keine Nahversorgung mehr für 5.500 Menschen. Straßenlaternen sind defekt. Dunkelheit schafft Angst­räume. Nicht weniger schlimm ist die Situation in den Gebäuden. War früher öfter mal einer von zwei Fahrstühlen kaputt, ist das heute in allen Häusern der Normalzustand, manchmal fallen auch beide für Tage aus. Dazu defekte Haustüren und Heizungen, Spritzen, Alufolie und Fäkalien.

Sicher, die Pandemiezeit hat Probleme verschärft, aber die Gründe für die Fehlentwicklung sind systemischer Natur, da sind sich die Nachbarn einig.

„Ich hab beim Volksentscheid für die Vergesellschaftung von Deutsche Wohnen & Co. gestimmt“, sagt einer. „Nur was machen wir mit der Gewobag? Die gehört ja schon der Stadt, und nun schaut euch den Mist hier an!“

Eigentlich genießen kommunale Wohnungsbaugesellschaften wie die Gewobag, der die Mehrzahl der Wohnungen hier gehört, einen guten Ruf. Doch auch sie müssen gewinnorientiert arbeiten, so will es ihr Hauptaktionär, die Stadt Berlin.

Und wegen der Wohnungsnot müssen sie zudem bauen, viel bauen.

Mieter in der Warteschleife

Die Gewobag scheint deshalb am Bestand sparen zu wollen. Nicht nur an der Security, auch an Hausmeistern.

Diesen Job hat der Dienstleister Fletwerk übernommen, offenbar mit klarem Reparaturverhinderungsauftrag. In der Regel hocken alle Mitarbeiter zusammen in ihrem verschlossenen Büro und öffnen nicht einmal, wenn jemand panisch an die Scheibe klopft. Der Weg für Schadensmeldungen ist klar vorgeschrieben: Erst muss – in der Regel mehrfach – die Hotline der Gewobag angerufen werden, dann schaut ein Hausmeister vorbei und notiert den Schaden. Daraufhin passiert wochenlang nichts, bis man erneut die Hotline anruft, und alles von vorn beginnt.

Wohnen als Beschäftigungsprogramm.

Auf der Website von Fletwerk heißt es, im Mittelpunkt des „zertifizierten Qualitätsmanagementsystem“ stünden „die Kunden“. Damit sind aber nicht Mieter, sondern Vermieter gemeint. Und tatsächlich ist das dysfunktionale System aus Gewobag-Perspektive höchst funktional, weil die Leute Schäden oft gar nicht mehr melden.

Auf unsere Nachfrage antwortet die Gewobag, die Hausmeister seien doch an zwei Tagen für jeweils eine Stunde erreichbar und zudem „wöchentlich in jedem Gebäude unterwegs“. Bei uns nehmen sie dabei wohl stets den Hintereingang. Vorne ist der Türgriff wieder seit Monaten abgerissen. Erst als ein Nachbar die bezirkliche Wohnungsaufsicht einschaltet, erfolgt eine „Reparatur“. Mit Kleber. Der ist noch zu sehen. Der Griff hielt, wenig überraschend, keinen Tag. Für die Wohnungsaufsicht gilt der Fall dennoch als erledigt. Sie arbeitet nach demselben System wie die Gewobag-Hotline: Jede Meldung ist ein neuer Vorgang, monatelange Bearbeitungszeit inklusive.

Seniorin, 15. Stock

„Wenn kein Fahrstuhl fährt, kommt kein Pflegedienst. Wir sind dann auf uns allein gestellt“

Wenn vom Bezirk keine Hilfe zu erwarten ist, dachten sich die Bewohner eines der Hochhäuser, in denen regelmäßig beide Fahrstühle ausfallen, wenden wir uns eben an den Senat. Dessen Antwort allerdings wurde offenbar per drag & drop aus einem Standardschreiben der Gewobag entnommen: Sofern ein Defekt vorläge, schreibt der Staatssekretär, würde „die Reparatur grundsätzlich umgehend beauftragt und zeitnah ausgeführt“. Auch „prüfe“ das Unternehmen eine Sanierung der Anlagen. Fall erledigt. Eine der Seniorinnen aus dem 15. Stock bricht am Telefon in Tränen aus. „Wenn kein Fahrstuhl fährt, kommt kein Pflegedienst. Wir sind dann auf uns allein gestellt!“

No-go-Area für arme Bewohner

Nicht nur „kommunales Wohnen“, auch andere eigentlich wohlklingende Begriffe kann hier keiner mehr hören, „Sanierungsgebiet“ zum Beispiel oder „Bürgerbeteiligung“: „Ständig sollen wir unsere Meinung sagen, aber niemand hört zu. Ich rede mit keinem mehr!“

Die Sätze gelten Florian Schmidt, dem grünen Bezirksstadtrat für Bauen, Planen und Kooperative Stadtentwicklung, der an diesem Tag mit Leuten vom Verein Bauhütte Kreuzberg an einem Stand in der Fußgängerzone herumsteht. Sie wollen über das neueste Bauprojekt im Kiez, den Block 616, informieren und die Anwohner ermuntern, Ideen einzubringen. Die meisten laufen so blicklos vorbei wie an den Zeugen Jehovas im U-Bahnhof. In den letzten zwölf Jahren haben sie gelernt, dass sich Stadtentwicklung nie an den Bedarfen realer Menschen orientiert, sondern an übergeordneten politischen Interessen. Und dass auch von städtebaulichen Aktivisten aus dem kulturellen Spektrum keine Fürsprache zu erwarten ist.

2011, drei Jahre vor unserem Einzug, war die Südliche Friedrichstadt zum Sanierungsgebiet erklärt worden. Für die Menschen im Viertel hatten sich damit viele falsche Hoffnungen verbunden, weil Sanierung in diesem Kontext nur öffentliche Räume meint, nicht Wohnhäuser. Begründete Hoffnung hatten sich hingegen die Betreiber der KMA Antenne gemacht, einer gemeinnützigen Tanz- und Musikschule, die gleichzeitig die einzige Kinder- und Jugendeinrichtung in diesem so kinderreichen Kiez ist. Ihr Gebäude ist schon lange marode. Dach und Fenster sind undicht. Im obersten Stock dürfen sich nur noch sieben Menschen gleichzeitig aufhalten.

Aus Brandschutzgründen. „Von Anfang an hieß es, dass wir Teil der Sanierung werden. Das Haus gehört ja dem Bezirk“, sagt Mareike Stanze, Leiterin des Jugendclubs. „Also haben wir viel Arbeit reingesteckt, um Lösungen zu finden, wie sich der Betrieb auch während der Bauzeit aufrechterhalten lässt.“

Doch während am Mehringplatz bald immer größere Teile des öffentlichen Raums für Jahre nutzlos hinter Baugittern verschwanden, begann die Sanierung weiter nördlich, wo die schicke Berliner Mitte längst mit Luxus-Hotels, Büros und Galerien über den Checkpoint Charlie nach Kreuzberg rüberwuchert. Eine vom Bezirk offenbar gewünschte Entwicklung, die man mit schneller „Aufwertung“ des Stadtraums dort befördern wollte.

Florian Schmidt, Baustadtrat

„Dieses Tüpfelchen Hochwertigkeit wird keine Welle der Gentrifizierung auslösen“

Parallel wurde das Areal des einstigen Blumengroßmarkts gegenüber dem Jüdischen Museum passend „entwickelt“ – mit Neubaublöcken für Büros und Eigentumswohnungen, die sich „Integrationsprojekt“ oder „Metropolenhaus“ nennen und nebenbei „Projekträume für die Kreativwirtschaft“ bieten. Unter dem beliebten Stadtplaner-Euphemismus „aktivierte Erdgeschosse“ wurden eine „Organic Bakery“, ein Lastenfahrradladen und ein Frühstücksrestaurant angesiedelt – Kimchi-Croissant mit Tomatenmarmelade und Essig-Heidelbeeren für 18 Euro. Eine No-go-Area für die armen Bewohner des südlich angrenzenden Kiezes.

„Während wir in der KMA bei Regen Eimer aufstellen müssen, floss das ganze Geld erst mal dorthin. Das war frustrierend“, sagt Mareike Stanze.

Baustadtrat Florian Schmidt kann die Kritik am Blumengroßmarkt nicht vollständig teilen, als wir ihn vorm Café MadaMe zum Interview treffen. Damals noch städtebaulicher Aktivist, hatte er mit Gleichgesinnten aus der Berliner „Kreativwirtschaft“ die „Bauhütte Kreuzberg“ als eine Art selbsternannte Bürgervertretung gegründet, um Einfluss zu nehmen: „Wir haben uns dafür engagiert, dass das Gelände nicht einfach an einen Investor verkauft wird, sondern man ein Konzeptverfahren macht.“

Dessen Hauptziel war indes nicht sozialer Ausgleich, sondern die Ansiedlung kultureller Akteure. Gut für die taz, deren neues Gebäude an der Friedrichstraße seine Existenz dieser Festlegung verdankt. Gut auch für die Aktivisten der Bauhütte, die sich so teilweise selbst neue Flächen schufen. Einer von ihnen betreibt im dritten großen Gebäuderiegel „Frizz23“ jetzt ein „Miniloft Apartment Hotel“. Konkrete Mehrwerte für die Bevölkerungsmehrheit in der Südlichen Friedrichstadt gab es jedoch nicht.

Schmidts Resümee: „Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass wir nicht alles erreicht haben, was wir uns wünschten. Heute hätte man die Grundstücke in Erbbaurecht vergeben und nur an Genossenschaften, diese Möglichkeit bestand damals nicht. Aber wenn man bedenkt, dass wir in der Südlichen Friedrichstadt – auch durch unsere Zukäufe in den letzten Jahren – knapp 70 Prozent kommunalen Wohnungsbau haben, kann dieses Tüpfelchen Hochwertigkeit, das da entstanden ist, keine Welle der Gentrifizierung auslösen.“

„Man könnte durchaus sagen, dass die Leute, die sich damals so für den Blumengroßmarkt eingesetzt haben, vor allem eigene Interessen verfolgten“, sagt Mareike Stanzes Kollegin Marthe Eggebrecht. Und eigentlich wäre das gar nicht schlimm, wenn zugleich der Mehringplatz profitiert hätte. Doch als dort 2020 endlich die Bauzäune abgeräumt wurden, waren die meisten Läden längst weg. Was der Kiez dafür bekam? Neues Straßenpflaster, eine absurd fehlgeplante Durchwegung des Platzes und die Ausweisung der öffentlichen Parkanlagen als „Premium-Grünflächen“.

Ballspielende Kinder sind jetzt nicht mehr erlaubt. Auch nicht das kostenlose Kreuzberger Spielmobil, das jeden Dienstag im Park die Jüngsten bespaßte. Nun wird neben der menschenleeren Rasenfläche ein Stück Straße zum Spielen abgesperrt. Knie auf Pflaster statt grüner Wiese.

Der Kiez wird zum Labor

Florian Schmidt ist erstaunt, als wir ihn mit den Vorbehalten vieler Kiezbewohner gegen die Bauhütte konfrontieren. Schmidt ist gekommen, um uns Fragen zum geplanten Block 616 zu beantworten, dem Neubauvorhaben, das weitere Wohnungen in den dicht besiedelten Kiez bringen soll.

Seine alten Gefährten von der Bauhütte und die „Parkakademie“, ein Projekt von Urbanitas BB, wo Schmidt bis 2016 Mitinhaber war, haben die bezirkliche Ausschreibung für eine „informelle Bürgerbeteiligung“ gewonnen. Ein neues Verfahren, das die Website der Parkakademie als „milieuübergreifendes Experiment der Koproduktion und kollektiven Gestaltung des öffentlichen Raumes“ beschreibt. Die Bauhütte will dafür gar ein „Labor 616“ aufbauen, einen „Testraum“, um „zukunftsweisende Lösungen für städtische Herausforderungen zu entwickeln“.

„Ach, das ist ja schön, und wir sind dann wohl die Labormäuschen“, sagt eine derjenigen Anwohnerinnen, die stets dort helfen, wo die Institutionen versagen: Briefverkehr mit Behörden oder Einkäufe organisieren. Aber konkrete Alltagshilfen dieser Art meint Maria Muñoz Duyos, Leiterin des Urbanitas-BB-Büros, wohl nicht, wenn sie sagt: „Die Menschen müssen ein Wir finden, um zusammenzuarbeiten, ein Wir, das neue Konstellationen der Zusammenarbeit zwischen Sektoren oder sozialen und kulturellen Akteuren schafft.“

Ihr Ansatz: „Wir wollen reale Konflikte – Edeka ist weg und all das – auf eine gute Weise nutzen. Strategien der Zusammenarbeit und der kulturellen Produktion nutzen, um einen neuen Kontext aufzubauen.“

Bislang greifbarstes Ergebnis: eine „mobile Modewerkstatt“ in der jetzt zweimal im Monat Stickworkshops stattfinden. Kulturelle Pflaster für materielle Probleme – so präsentiert sich der neoliberale Grundsatz, dass stets die Menschen das Problem sind, nicht deren Lebensumstände in grünem Gewand.

Was wirklich fehlt, meint Mareike Stanze von der Kinder- und Jugendeinrichtung KMA, sind mehr Stellen für echte Sozialarbeit und – natürlich – Geld: „Es gibt hier Familien, die mit 9 Personen in 3-Zimmer-Wohnungen leben. Das ist ein Albtraum. Armut zu Hause, nicht genug Endgeräte, kein Netz – die Kids müssen in den U-Bahnhof, um sich ihre Hausaufgaben runterzuladen. Viele schaffen so keinen Schulabschluss, und durch Corona sind noch mehr auf der Strecke geblieben.“

Die KMA konzentriere sich mangels Kapazitäten inzwischen mehr auf die Jüngeren. Für die zunehmende Aggression der Älteren brauche es Streetworker. Die gibt es zwar, aber das Gebiet, das die gerade mal vier Mitarbeiter von Outreach zu betreuen haben, reicht vom Mehring- bis zum fernen Moritzplatz.

Jetzt ist auch noch der Supermarkt weg

Rückblick: Ein sonniger Tag im Juli. Die Schließung des Edeka hat bei vielen Anwohnern das Fass zum Überlaufen gebracht. Vor allem der Grund dafür: Zehn Jahre lang waren die Betreiber mit dem Versprechen auf einen Neubau hingehalten worden. Aber dem Eigentümer des Gebäudes wurde die Realisierung mehrfach sanierungsrechtlich versagt.

Weil er über dem Laden hauptsächlich Büros bauen wollte und Baustadtrat Florian Schmidt auf Wohnungen bestand. Nun gibt es weder das eine noch das andere und keine Nahversorgung mehr.

Bis vor ein paar Monaten noch der einzige Supermarkt am Platz, heute – auch wegen städtischer Fehlplanung – geschlossen Foto: Jens Gyarmaty

Man trifft sich vorm Al-Sultan-Bistro. Stühle werden herangeschleppt. Auch wir sind dabei. Schluss mit journalistischem Abstand, heute sind wir wieder Anwohner. Initiator des Treffens sind die Guerilla Architects, ein Künstlerkollektiv, dessen Ziel nicht befriedendes Sticken ist. Sie wollen den Leuten helfen, sich zu wehren. Im Durcheinanderreden scheint Kampfeswille auf: „Kein Bock mehr zu betteln. Wir fordern jetzt!“ – „Was wird eigentlich für die Kinder getan? Sind die nicht die Zukunft?“ – „Sagt doch, worum es geht: Die wollen uns vertreiben!“ – „Uns?“ – „Na, die Ausländer, die armen Schlucker und die Alten. Alle, die nix bringen.“

Pläne werden geschmiedet, weitere Treffen vereinbart. Einen Namen braucht man noch. „Revolutionärer An­woh­ne­r*in­nen-Rat“ (RAR) – das trifft die Stimmung.

Vier Wochen später hängen überall im Kiez riesige Transparente mit dem RAR-Logo. „Wo kaufen wir ein?“, ist über dem geschlossenen Edeka zu lesen, „Wie teuer ist Leerstand?“ über anderen verrammelten Läden. An der KMA prangt: „Wann wird Jugendarbeit ausfinanziert?“ Dazu gibt es Plakate in allen Sprachen, die hier gesprochen werden. „Engagiert euch doch lieber im Sanierungsbeirat!“, echauffiert sich ein Mann während der Anbringung und bezieht sich damit auf ein Gremium, in dem Verwaltung, kommunale Wohnungsunternehmen und Sanierungsbetroffene miteinander ins Gespräch kommen und Empfehlungen ausarbeiten. Auch er selbst macht dort mit.

Die Antwort: „Ihr macht doch schon gute Arbeit.“ Und das stimmt. Von reinen Gestaltungsfragen bis zur Anmahnung eines bedarfsbezogenen Gewerbekonzepts – nahezu alle Forderungen von ihm und den anderen Gebietsvertretern sind im Viertel konsensfähig. Sie werden nur stets „souverän wegmoderiert“, wie Cafébetreiberin Karin Lücker sagt.

Noch sinnloser ist nur ein Engagement im Mieterbeirat der Gewobag, weshalb der sich kürzlich selbst aufgelöst hat.

Die Transparente des RAR aber haben gezeigt, dass der Kiez weiter da ist. Seine Bewohner nicht aufgegeben haben. Das mangelnde Interesse am Block 616 zeigt nur, dass sie genau wissen, dass dieser Neubau keines ihrer Probleme lösen wird. Zumal bis zur Realisierung laut Florian Schmidt „fünf bis sechs Jahre“ vergehen werden. Viele der älteren Anwohner werden mithin bis zu ihrem Tod auf Einkaufshilfe angewiesen sein. Werden damit vollends aus dem Kiezleben ausgeschlossen. Still greift Panik um sich.

Florian Schmidt treiben andere Themen um: „Eine Art Vernetzung der Kulturinstitutionen im Umfeld, dass sie vor Ort gehen, weil sie hier einen Projektraum haben, wo sie mit ihren Angeboten viel näher an den Leuten sind.“

Projektraum – das klingt nach Blumengroßmarkt. Nach Event-Kultur, Gentrifizierung. Und die ist inzwischen tatsächlich im Kiez angekommen. Im ehemaligen Sozialladen hat eine vegane Pizzeria mit Preisen um die 14 Euro eröffnet. Die Wohnungen der einstigen Seniorenresidenz nebendran werden jetzt als temporäres Wohnen vermarktet – möbliert, für 1.700 Euro im Monat.

Und auch der Neubezug einzelner Ladenflächen spricht für sich: Werkstatt für Designermöbel, Start-up-Büros und eine Filiale der Hipster-Imbisskette Sahara in direkter Konkurrenz zum Al-Sultan-Bistro. „Wenn dahinter wenigstens ein finsterer Verdrängungsplan stecken würde“, sagt einer aus dem RAR. „Aber was hier passiert, ist völlig planlos. Wir können ja gar nicht weg, weil es nirgendwo Wohnungen gibt.“ Also bleiben. Ausharren. Wie unerwünschte Gäste im eigenen Viertel, das anderen Projektraum oder Filmkulisse ist. Angst wächst. Ziellose Wut. Beteiligte Bürger in Ohnmacht. So schafft man „Pro­blem­viertel“.

Wem gehört der Kiez?

Nacht am Halleschen Ufer. Der Sommer ist lang vergangen. Menschen laufen schneller. Kälte hetzt. Der Pfad, den sie in stoischer Herdengewohnheit in den Mehringplatz getrampelt haben, leuchtet so hell wie die blonden Pferdeschwänze, die 500 Meter weiter im „Frizzforum“ am Blumengroßmarkt bei „transferfokussiertem Training“ fröhlich auf und ab hüpfen. Der Beat dröhnt in Richtung der Kinder- und Jugendeinrichtung KMA, wo ein neuer Termin die Sanierung in die Ferne schiebt. 2032. Noch neun Jahre.

Im Rondell quietschen Reifen. Seit der Baustellenzeit stehen die Schranken zum Viertel dauerhaft offen. Autos, Roller und E-Bikes rasen durch die Fußgängerzone, terrorisieren den öffentlichen Raum. Eltern fürchten um ihre Kinder, Hundebesitzer um ihre Kacknasen. Für die Schließung verantwortlich wären – na klar – die Hausmeister von Fletwerk.

„Ich bin echt ein bisschen am Ende, was den Mehringplatz im Großen angeht.“ Der Bezirksstadtrat wirkt müde, als er sich im Berliner Baukollegium, einem „Gremium zur Sicherung der Baukultur“, zu dieser Bemerkung hinreißen lässt.

Auch Lulu, die obdachlose Nachbarin, ist müde. Frierend kauert sie sich in eine dunkle Ecke der Betonburg. Unbeschützt vorm großen Wandel, der zuerst die Kleinsten, die Schwächsten, die Unbehausten und Einsamen trifft. Halb abgerissen flattert neben ihr trotzig ein RAR-Plakat im Wind: „Wem gehört der Kiez?“

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