Unterbringung von Flüchtlingen in Berlin: Heime machen kränker

Geflüchtete mit schweren Krankheiten werden in Berlin nur unzureichend versorgt, kritisieren Experten. Die Sozialverwaltung weiß noch nicht recht.

Ukraine-Flüchtling im Rollstuhl und alte Frau sitzend auf blauem Müllsack

Für kranke und behinderte Flüchtlinge gibt es auch in Berlin eigentlich keinen guten Ort

BERLIN taz | Die Unterbringungssituation für Geflüchtete in Berlin wird immer dramatischer – besonders für schwer kranke Menschen: „Krebskranke und Menschen mit anderen schlimmen Leiden werden in normalen Gemeinschaftsunterkünften abgeladen, ohne dass man sich um sie kümmert“, kritisiert eine Sozialarbeiterin, die anonym bleiben möchte. Allein in ihrem Bezirk, sagt sie, seien infolge der unzureichenden Unterbringung im vergangenen Jahr drei Menschen gestorben. „Sie sind schwer krank angekommen und die Verhältnisse hier haben sie weiter geschwächt, so dass sie früher gestorben sind als es hätte sein müssen.“

So sei ein HIV-kranker Mann, der dringend Ruhe gebraucht hätte, in einem Zweibett-Zimmer untergebracht gewesen „mit einem Alkoholiker, der immer Party machte“. Der Kranke hätte zudem eine Diät gebraucht, berichtet die Sozialarbeiterin, doch das gebe es ja nicht in einem „normalen“ Flüchtlingsheim, wo man sich selbst versorgen muss. Dazu sei er nicht in der Lage gewesen und habe sich nur von Keksen ernährt, schließlich sei er an Schwäche gestorben. Ebenso sei es einem alten, krebskranken Ukrainer gegangen, der allein in einer Gemeinschaftsunterkunft gelebt habe. „Ich habe versucht eine Palliativ-Einrichtung für ihn zu finden, aber das hat zu lange gedauert“, berichtet die Frau.

Die Sozialdienste in den Gemeinschaftsunterkünften seien zum Teil überlastet, zum Teil würden sie wegen der Sprachbarrieren nicht mitbekommen, was Be­woh­ne­r*in­nen fehlt – oder deren Beschwerden manchmal bagatellisieren. „Den Mitarbeitenden in den Heimen fehlt die Zeit und die medizinische Expertise sich um Kranke zu kümmern.“

Aktuell betreut die Sozialarbeiterin zwei krebskranke Frauen in einer Containerunterkunft, die baulich völlig ungeeignet für Kranke sei: im Sommer zu heiß, im Winter zu kalt, dazu Gemeinschaftsküche und -bad, „was viel zu unhygienisch ist für Menschen, die eine Chemotherapie machen müssen“. Doch ihre Bemühungen für die Frauen eine angemessene Unterbringung zu organisieren, würden im Behördenpingpong zerrieben: „Die soziale Wohnhilfe des Bezirks verweist mich zum Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten LAF und das LAF verweist mich zum Jobcenter welches wiederum zur sozialen Wohnhilfe verweist.“

Defekter Rollstuhl

In einem anderen Fall musste für eine Frau mit Lähmungen, die bewegungsunfähig in einer Unterkunft lag, erst einmal ein Rollstuhl gefunden werden. Dann habe sie, erzählt die Sozialarbeiterin, die Kranke mit dem eigenen Auto von Krankenhaus zu Krankenhaus gefahren, um eine Diagnose zu bekommen. „Einen Krankentransport und nötige Wegbegleitung haben wir aus versicherungstechnischen Gründen nicht bekommen, weil der besorgte Rollstuhl defekt war.“ Eine neuen zu beantragen hätte wiederum Monate gedauert.

Was Berlin dringend benötigt, so die Expertin, seien zwei bis vier bedarfsgerechte Unterkünfte für kranke und pflegebedürftige Geflüchtete mit medizinischem und psychologischem Personal sowie einem Sozialdienst rund um die Uhr.

Andere Fachleute stimmen ihr zu: Es brauche mehrere „Schwerpunktunterkünfte“ für krankheits- und behinderungsbedingte Bedarfe „mit besonders geschultem Personal, der angemessenen baulichen Ausstattung und mit Platz für pflegende Angehörige“, sagt Emily Barnickel vom Flüchtlingsrat. Ulrich Hundt vom Berliner Zentrum für Selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen eV (BZSL) schließt sich der Forderung an: „Die unzureichende Versorgung behinderter und schwer kranker Geflüchteter verletzt die Menschenwürde, denn sie macht noch kränker oder begünstigt sogar lebensgefährdende Situationen“, sagte er der taz.

Hundts Verein hatte Anfang Oktober in einem Pressestatement auf die drei Todesfälle in Berliner Flüchtlingsheimen aufmerksam gemacht und erklärt, dass diese „bei einer bedarfsgerechten Versorgung und Unterbringung zu diesem Zeitpunkt und auf diese Art und Weise“ hätten verhindert werden können. Auch sei anzunehmen, heißt es in der Erklärung, dass die Dunkelziffer in Berlin und deutschlandweit weitaus höher ist.

Bedarf noch nicht idenfiziert

Der Sprecher der zuständigen Senatsverwaltung für Soziales Stefan Strauß sagte dazu auf taz-Anfrage: „Niemand kann aktuell eine seriöse Aussage über eine vermeintlich eklatante Unterversorgung schwer kranker und behinderter Geflüchteter treffen.“ Dies könne nur auf Basis eines „noch nicht eingeführten Identifizierungsverfahren“ geschehen – ein solches werde gerade erarbeitet. „Um die konkreten Bedarfe und die soziokulturelle Situation bei den ankommenden Menschen erheben zu können, entwickelt das Land gerade einen systematischen Prozess zur Identifizierung und Versorgung von Menschen mit besonderen Bedarfen.“

Im Zuge dessen werde auch die Einrichtung von spezialisierten Schwerpunktunterkünften geprüft, so Strauß. Ein Modellversuch dazu starte demnächst, dabei sollen in einer Lichtenberger Gemeinschaftsunterkunft 20 Pflegeplätze für Menschen ab Pflegestufe 3 von einem ambulanten Pflegedienst betreut werden. Ein weiteres schon laufendes Modell werde aktuell evaluiert.

In einem von der EU und der Sozialverwaltung finanzierten Projekt sollen Flüchtlingsrat, das Berliner Zentrum für Selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen e.V. (BZSL) und das Beratungs- und Betreuungszentrum für jugendliche Geflüchtete und Mi­gran­t*in­nen (BBZ) in den nächsten zwei Jahren strukturelle „Dysfunktionalitäten“ im Berliner Aufnahmesystem für Geflüchtete ermitteln und Lösungsvorschläge erarbeiten. Das BBZ berät hauptsächlich unbegleitete minderjährige Geflüchtete (UMF) und Familien mit Kindern, das BZSL Geflüchtete mit Beeinträchtigungen und chronischen Erkrankungen, der Flüchtlingsrat ist – in enger Vernetzung mit den beiden anderen – für die Erarbeitung von Vorschlägen zuständig.

Als größte Probleme haben die Projektträger bisher die fehlende adäquate Versorgung beeinträchtigter Geflüchteter identifiziert (siehe diesen Bericht), dazu die extrem langen Wartezeiten auf Schulplätze für geflüchtete Kinder. UMF müssen zudem bis zu 10 Monate auf ihr Erstgespräch beim Jugendamt warten, bis dahin ruht ihre Ausbildung, ihr Asylverfahren und der Familiennachzug. Ein weiteres großes Problem ist derzeit lauf Flüchtlingsrat die verzögerte Antragsbearbeitung beim Landeseinwanderungsamt (LEA), die oft zu Folgeproblemen u.a. in den Bereichen Wohnen, Leistungsgewährung, Arbeit führt. (sum)

Was die Erstversorgung neu ankommender Geflüchteter angeht, gebe es im Ankunftszentrum Tegel 40 Plätze für Menschen mit besonderem Pflegebedarf, „die perspektivisch in Regelunterkünfte verlegt werden sollen, wenn dies möglich ist“, so Strauss. Sollte dies nicht möglich sein, müssten die Betreffenden eigentlich in ein Pflegeheim – doch dies wollten die mitreisenden Angehörigen oft nicht, da sie dann voneinander getrennt würden. „Es braucht dringend Lösungen für Asyl suchende und geflüchtete Menschen mit Pflegebedarfen, die durch Angehörige Unterstützung erhalten“, sagte Strauss – der Modellversuch in Lichtenberg ziele in diese Richtung.

Die 40 Pflegeplätze in Tegel seien viel zu wenig, sagt jedoch Barnickel vom Flüchtlingsrat. Hundt vom BZSL stimmt ihr zu: Auch Menschen mit Gehbehinderungen würden in Tegel wie alle übrigen in den Großzelten leben und bekämen nur enge Doppelstockbett zugewiesen, die sie dann nicht wirklich nutzen könnten.

Versorgungslücke im Rechtskreiswechsel

Die Sozialarbeiterin, die anonym bleiben möchte, sagt zudem, die Geflüchteten würden bei der Erstregistrierung im Ankunftszentrum Tegel oder Reinickendorf zwar gefragt, ob sie gesundheitliche oder andere Beeinträchtigungen haben, dies habe jedoch keine Konsequenzen. „Sie bekommen dann einen Zettel, wo „Rollstuhl“ oder „Tumorerkrankung“ draufsteht, und werden trotzdem in normale Unterkünfte geschickt.“

Die laut Hundt „eklatante Unterversorgung“ behinderter und schwer kranker Geflüchteter bezieht sich nach seiner Darstellung nicht nur auf fehlende Kapazitäten bei der Unterbringung. Ein großes Problem sei auch die lange Anmeldezeit bei der Krankenkasse. „Das verzögert den Zugang zu Behandlungen und Hilfs- und Heilmitteln wie Rollstühlen und Therapien manchmal für Monate, weil das Risiko besteht, dass Ärz­t*in­nen auf den Kosten sitzen bleiben könnten“, so Hundt.

Barnickel vom Flüchtlingsrat macht auf eine weitere „Lücke“ bei der medizinischen Versorgung aufmerksam, den so genannten Rechtskreiswechsel – etwa wenn nach der Anerkennung eines Asylantrags nicht mehr das LAF sondern das Jobcenter zuständig wird. „Dann wird die Krankenkasse erst einmal wieder abgemeldet.“

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