Corona-Langzeitfolgen: Die Statistik ist kurzatmig

Menschen mit Long Covid tauchen in Erhebungen zu Arbeitsausfällen in Deutschland bisher kaum auf. Weil es so wenige sind? So einfach ist es nicht.

Eine Mundschutzmaske liegt zwischen Herbstblättern

Das Statistische Bundesamt registrierte in den beiden ersten Coronajahren durchschnittlich 11,2 Fehltage Foto: Olaf Schuelke/imago

Wer sich die Statistiken zum Krankenstand der Arbeit­neh­me­r:in­nen ansieht, kann nur zu diesem Schluss kommen: Eine Pandemie hat es nie gegeben, jedenfalls nicht in den Jahren 2020 und 2021. Durchschnittlich 11,2 Fehltage registrierte das Statistische Bundesamt in den beiden ersten Coronajahren. Von einem sprunghaften Anstieg gegenüber dem Vorjahr ist in den Daten nichts zu sehen – im Gegenteil.

Seit dem Jahr 2007 mit einem Tiefststand von 8,1 Fehltagen war der Krankenstand mit kleinen Schwankungen immer weiter nach oben geklettert. Inmitten der ersten Coronawellen flachte die Kurve dagegen sogar ab. Eine ernsthafte Gesundheitskrise ließe sich aus dieser Statistik also nicht ablesen. Wenn, dann für das Jahr 2022, als die Fehltage plötzlich auf 15 anstiegen, oder für 1995, dem bisherigen Rekordjahr mit einem Krankenstand von durchschnittlich 13 Tagen – wer erinnert sich noch, welche Erreger uns damals plagten?

Natürlich ist das nur eine statistische Spielerei. Sie zeigt, wie trügerisch vermeintlich aussagekräftige Zahlen sein können. Wenn sich ein Massenereignis für die Volksgesundheit zuträgt, müsste es sich doch in den Krankschreibungen widerspiegeln, oder? Nein, aus den Daten zum Krankenstand lässt sich also mitnichten auf die Existenz einer Pandemie schließen. Dennoch machen wir praktisch denselben Fehler erneut: Bei Long Covid.

Wieder argumentierten manche Medien oder Wissenschaftler: Wären post­virale Erkrankungen ein ernsthaftes Problem, müssten doch Unternehmen Alarm schlagen und die Ausfallstatistiken explodieren ob der hohen Krankenstände. Der Fehler liegt im Umkehrschluss. Weil beides nicht geschieht, gibt es also auch kein Problem? Falsch. Wer so argumentiert, übersieht, wie schlecht die Datenlage ist und welchen Verzerrungen die vorhandenen Statistiken unterliegen.

Eine Diagnose dauert oft lange

Die Zahl der Krankheitstage, so vermuten Statistiker, beeinflussen viele Faktoren, die mit dem Gesundheitszustand der Beschäftigten erst einmal nichts zu tun haben. Vereinfacht gesagt: Stottert die Konjunktur, hustet der Arbeitnehmer seltener. Denn muss er sich Sorgen um seinen Job machen, geht er auch schon mal angeschlagen zur Arbeit. Dass die Zahl der Krankheitstage bei prekären Jobverhältnissen oder in wirtschaftlich schwierigen Zeiten also niedriger ist, heißt deshalb noch lange nicht, dass es um die Gesundheit der Beschäftigten besonders gut steht.

Für die Coronajahre wiederum weist keine Statistik aus, wie viele Menschen trotz Krankheit im Homeoffice weitergearbeitet haben. Und umgekehrt, wie viele Krankheitstage die Pandemie verhindert hat, weil soziale Kontakte wegfielen. Ohne Faktoren wie diese lassen sich die bloßen Zahlen nicht auslegen.

Im Wunsch nach greifbaren Werten prägen Trugschlüsse auch die Diskussion über die Corona-Langzeitfolgen. Im Frühjahr unternahm das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) den Versuch, die Zahl der Long-Covid-Fälle irgendwie aus den Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen abzuleiten, und kam zu dem Schluss: Es gebe nur „wenige Betroffene“. Unter den AOK-Versicherten waren es weniger als 1 Prozent.

Dabei bestätigte auch der stellvertretende WIdO-Geschäftsführer Helmut Schröder, dass sich von den Krankmeldungen eigentlich nicht auf die Zahl der Betroffenen schließen lasse – man tat es dennoch. Über wesentliche Verzerrungsfaktoren setzte sich die Analyse hinweg: Wer nach Corona nicht wieder gesund wird, erhält, wenn überhaupt, oft erst spät die Diagnose Long Covid – taucht erst einmal also in einer solchen Statistik gar nicht auf. Die Unsicherheit vieler Ärzte spielt dabei ebenso eine Rolle wie die meist viele Monate langen Wartezeiten an den Long-Covid-Ambulanzen der Kliniken.

„Nur die Spitze des Eisbergs“

So gibt es Menschen, die unter Corona-Langzeitfolgen leiden, aber keine Long-Covid-Diagnose haben, und wohl ebenso Menschen, deren ungeklärte Beschwerden irrtümlich als Long Covid bescheinigt wurden. Dass die Datenlage auch jenseits der ärztlichen Diagnosen schlecht ist, hängt mit einem politischen Versäumnis zusammen. Zu Beginn der Pandemie wurde keine aussagekräftige Studienkohorte eingerichtet, um bei den Teilnehmenden Infektionsverläufe, Spätfolgen und Impfstatus zu verfolgen. Damit hätte sich sehr viel besser sagen lassen, wie viele Menschen wie lange und wie schwer von Long Covid betroffen sind und welche Rolle die Impfung spielte.

Heute ist es dafür praktisch zu spät. Fast vier Jahre nach Pandemiebeginn und drei Jahre nach den ersten Impfungen lassen sich kaum noch Gruppen auseinanderhalten und vergleichen, weil fast jeder mutmaßlich oder gesichert wenigstens einmal infiziert war und auch die meisten Menschen geimpft sind. Mit der statistischen Unsicherheit wird man also leben müssen. Sie lässt Raum für Spekulationen.

Dennoch scheint es paradox: Auf der einen Seite gibt es erste Berechnungen, die Long Covid mit volkswirtschaftlichen Schäden in Milliardenhöhe verbinden – auf der anderen Seite werden die Ausfälle auf dem Arbeitsmarkt bislang kaum sichtbar. Müssten die Arbeitgeber nicht aufschreien, wenn ihnen überdurchschnittlich viele Leute ausfielen? Oder anders gefragt: Wo sind all die Long-Covid-Betroffenen, wenn es sie gibt?

Astrid-Weber, Leiterin der Long-Covid-Ambulanz in Koblenz, begegnet diesen Fällen in ihrer Sprechstunde. „Viele reduzieren freiwillig ihre Stunden und gehen in Teilzeit. Andere schleppen sich nur noch zur Arbeit. Das geht gerade so, aber Hobby, Freizeit und Familie fahren sie auf Null. Es sind ganz viele, die außer dem Job alles kappen – und die erscheinen in keiner Statistik“, meint die Ärztin. Über diejenigen, die tatsächlich als Arbeitsausfall in die Statistik eingehen, sagt sie: „Das ist nur die Spitze des Eisbergs.“

Monate später nicht arbeitsfähig

Der Jenaer Psychiatrie-Professor Martin Walter teilt diese Beobachtung. „Das verdeckt die große wirtschaftliche und gesellschaftliche Dimension, die wir noch gar nicht verstanden haben“, sagt der Präsident des Ärzteverbandes Long Covid. Er warnt: „Das post­infektiöse Krankheitsgeschehen ist nicht vorbei, und im Moment tragen wir dazu bei, dass wir die Problematik für die Zukunft eher vergrößern.“

Es könne keine Lösung sein, „die gewünschte Leistung aus den Menschen herauszupressen“. Diese würden dann im Beruf zwar kurzfristig irgendwie funktionieren, als nachhaltig stuft Walter dies aber nicht ein. Er forderte zum Beispiel neue Modelle für die berufliche Wiedereingliederung. Es gelte zu akzeptieren, dass Menschen mit Corona-Langzeitfolgen nur deutlich langsamer als andere wieder einsteigen könnten, viele zudem auf absehbare Zeit überhaupt nicht zu ihrer vollen Belastbarkeit zurückfinden. „Wenn wir das mit Blick auf die wirtschaftliche Entwicklung und den Fachkräftemangel ignorieren, machen wir das Pro­blem nur noch größer“, sagt Walter.

Wirklich valide Zahlen, wie viele Menschen wie stark betroffen sind, gibt es derzeit schlichtweg nicht. Jüngere Studien legten zumindest nahe, dass eher weniger als fünf Prozent der Infizierten an Long Covid erkrankten. Wie viele von ihnen wie lang und wie schwer, dazu schwanken die Studienergebnisse. Bei der Epiloc-Studie beispielsweise, einer Befragung nachweislich an Covid-19 erkrankter Menschen aus Baden-Württemberg, litt ein Viertel der Long-Covid-Erkrankten auch nach sechs bis zwölf Monaten noch unter Symptomen. Das liegt im Bereich internationaler Auswertungen, denen zufolge rund 20 Prozent der Betroffenen auch nach einem Jahr mit erheblichen Einschränkungen zu tun hatten.

Eine noch unveröffentlichte Studie der Universität Greifswald verfolgte die Entwicklung von 200 Patienten, die sich im Schnitt acht Monate nach einer Corona-Infektion in der dortigen Long-Covid-Sprechstunde vorstellten: Bei ihrem ersten Termin waren 47 Prozent nicht arbeitsfähig – sechs Monate später immer noch 33 Prozent. Dass postvirale Erkrankungen nicht spurlos am Arbeitsmarkt vorbeigehen, ist also anzunehmen.

In Fertigungsberufen unterdiagnostiziert

Als das Uniklinikum Jena Ende November unter Leitung des Psychiaters Walter zum zweiten Mal einen Long-Covid-Kongress für Ärzte und Betroffene ausrichtete, war Long Covid im Beruf eines der Schwerpunktthemen. Auch bei Nico Dragano: Der Medizinsoziologe und Arbeitsepidemiologe von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf präsentierte ein weiteres Beispiel für trügerische Statistiken. Seinen Daten zufolge tritt Long Covid nicht unbedingt dort am stärksten auf, wo es die meisten akuten Corona-Infektionen gab: „Wir haben sehr viele Jobs, die unterdurchschnittliche Long-Covid-Raten haben. Wir haben aber auch Berufe mit sehr hohen Fallzahlen“, so Dragano.

Beim Abgleich von PCR-bestätigten Covid-19-Erkrankungen mit den von Kassenärzten diagnostizierten Long-Covid-Fällen nach Berufsgruppen hatte er auffällige Unterschiede bemerkt. Beispielsweise werden in Fertigungsberufen – man denke an die Masseninfektionen etwa in der Fleischindustrie – weniger Long-Covid-Fälle festgestellt als aufgrund der Infektionen zu erwarten gewesen wäre. Erhöhte Fallzahlen zeigten sich hingegen vor allem bei Frauen in Gesundheits- sowie so­zia­len und kulturellen Dienstleistungsberufen, wozu Lehr- und Erziehungsberufe gehören.

Warum es zu diesen Unterschieden kommt, dafür gibt es bislang nur Thesen. Womöglich sind Long-Covid-Fälle im Gesundheitswesen über-, in Fertigungsberufen hingegen unterdiagnostiziert. Auch hier gilt: Je unsicherer Arbeitsplätze sind, umso seltener lassen sich Arbeitnehmer krankschreiben. Unterschiedliche Regenerationsmöglichkeiten in den Tätigkeitsfeldern könnten sich ebenso auswirken wie der Umstand, dass zu den häufigsten Symptomen neurokognitive Erscheinungen wie Konzentrations- und Wortfindungsstörungen gehören. Für einige Berufe fällt dies weniger ins Gewicht, während sich ein Lehrer mit Konzentrationsmängeln im Unterricht besonders schwertut. „Es lohnt sich, hier weiterzuforschen“, sagt Dragano.

Weil so viele Fragen offen, viele Daten so wenig belastbar sind, lädt Long Covid regelmäßig dazu ein, wilde Thesen zu entwickeln. Manche Untersuchungen beschrieben das Syndrom bereits als ein Phänomen gebildeter Weißer, das zudem in reichen Ländern viel häufiger auftrete – was wiederum als Indiz dafür herangezogen wurde, dass die Beschwerden rein psychische Ursachen haben müssen. Davon hat sich eine breite Mehrheit in der Wissenschaft längst verabschiedet, und wer die Berichte von Betroffenen und behandelnden Ärzten hört, der weiß es eben einzuordnen, warum Long Covid nicht in allen Berufen gleichermaßen auftritt.

Auch für die regionalen Unterschiede gibt es Erklärungen. Ein Kommentar im Fachjournal The Lancet wies darauf hin, was die These vom Pro­blem wohlhabender Gebiete des Globalen Nordens übersieht: Zum Beispiel, dass es in Ländern mit geringem Wohlstand oft auch weniger Forschung, weniger Anlaufstellen für die Versorgung und eine schlechtere Datenerfassung gibt. Eine noch schlechtere, sollte das wohl heißen.

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