Daniel Finkelstein über Antisemitismus: „Man muss immer wachsam sein“

Gegenüber antidemokratischen Kräften, sagt Daniel Finkelstein, reicht der Glaube an die Wahrheit nicht aus. Ein Gespräch mit dem Ex-Chefredakteur der „Times“.

Eine Menschenmenge mit Gepäck, dicht gedrängt in einer Straße

Juden, die 1943 aus Warschau deportiert werden. Daniel Finkelsteins Mutter entkam nur knapp dem Holocaust Foto: Wiener Library/imago

Daniel Finkelstein meldet sich aus London, wir sprechen via Zoom, er sitzt in schwarzer Baumwolljacke in seinem Arbeitszimmer, wackelt auf seinem Bürostuhl hin und her. Der ehemalige „Times“-Chefredakteur nimmt sich Zeit für das Gespräch, er spricht so schnell wie ausführlich über seine jüdische Herkunft sowie über seine Großeltern und seine Eltern, denen sein neues Buch „Hitler, Stalin, meine Eltern und ich“ gewidmet ist.

Über seinen Großvater Alfred Wiener, der vor den Nazis aus Berlin nach London und New York floh und die Holocaust Library eröffnete, spricht er am meisten. Wiener habe den Kontakt nach Deutschland nach dem Holocaust gehalten, er habe dort viel mit jungen Menschen gesprochen und ihnen von seinen Erfahrungen im „Dritten Reich“ berichtet. Um zu verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht.

taz: Herr Finkelstein, lassen Sie uns mit den Worten Ihres Großvaters, des jüdischen Publizisten und Dokumentaristen Alfred Wiener, beginnen. Der schrieb 1919 im Buch „Vor Pogromen“ von einem „mächtigen antisemitischen Sturm“, der hereingebrochen sei und „eifrig vorangetrieben“ würde. Das könnte aktueller kaum sein, oder?

Daniel Finkelstein, 62, ist ein britischer Journalist und Politiker. Finkelstein war von 1981 bis 1990 Mitglied der Social Democratic Party, seit 1990 ist er Mitglied der Conservative Party. Er war Chefredakteur von The Times, ist Kommentator und Kolumnist für The Jewish Chronicle und The Times. Finkelstein ist Vizepräsident des britischen Jewish Leadership Council. Er lebt in London.

Er stammt aus einer jüdischen Familie. Anfang Januar erschien sein Buch „Hitler, Stalin, meine Eltern und ich. Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte“ auf Deutsch (aus dem Englischen von Barbara Schaden, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2024, 528 Seiten, 28 Euro).

Daniel Finkelstein: Ja, leider. Mir ist ohnehin aufgefallen, dass man viele der Dinge, vor denen er gewarnt hat, auch in der heutigen Politik beobachten kann. Das Aufkommen von Verschwörungstheorien zum Beispiel oder die Annahme, es gebe eine Art internationales jüdisches Komplott. Nach den Ereignissen vom 7. Oktober haben diese kruden Thesen eine neue Aktualität bekommen. Was mich mein Großvater Alfred Wiener gelehrt hat: man muss immer wachsam sein.

Die Bibliothek Ihres Großvaters, die Wiener Holocaust Library in London, ist mit dem Schriftzug „Gaza“ beschmiert worden. Wie erleben Sie den gegenwärtigen Antisemitismus in Großbritannien?

Natürlich ist nicht jeder, der sich über die Geschehnisse in Gaza Sorgen macht, antisemitisch. Es ist eine völlig legitime Argumentation zu sagen: Israel wurde angegriffen, es hat das Recht, sich zu verteidigen, aber die Dinge, die Israel tut, sind unverhältnismäßig. Ich teile diese Ansicht nicht, aber man kann sie vertreten, ohne antisemitisch zu sein. Oft aber haben Menschen mit diesen Ansichten eine Obsession mit Israel und mit keinem anderen Staat der Welt. Noch bevor Israel überhaupt auf den barbarischen Terror reagiert hat, begannen die Menschen bereits zu demonstrieren. Das ist blanker Antisemitismus. Zudem gibt es die Tendenz, alles, was Israel tut, in Bezug zu den Naziverbrechen zu setzen. Das ist kein historischer, sondern ein abstruser Vergleich.

Geht diese Argumentation einher mit der Negierung des Existenzrechts Israels?

Wer glaubt, dass es keinen Staat für Juden geben muss, ist meines Erachtens blind gegenüber den Erfahrungen der Juden in der Weltgeschichte. Mein Großvater Alfred Wiener trat zunächst nicht für einen jüdischen Staat in Palästina ein. Einer der Gründe, warum er ihn nicht wollte, war, dass er bewandert in islamischer Geschichte war und erkannte, dass es dort bereits eine Zivilisation gab. Er war der Meinung, dass es schwierig wäre, einfach einen Staat in diesem Gebiet zu errichten. Er änderte seine Meinung nach dem Holocaust, weil er das Gefühl hatte, dass die Juden nirgendwo anders hingehen konnten.

Was war das vorderste Ziel Ihres Großvaters mit der Wiener Library?

Seine Waffe war die Wahrheit: Er hat in der Wiener Library Schriften von den und über die Nazis archiviert, zum Beispiel Augenzeugenberichte von der „Reichskristallnacht“, Naziflugblätter, Protokolle und Ausschnitte aus dem Stürmer.

Sie schildern in Ihrem Buch „Hitler, Stalin, meine Eltern und ich“ Ihre Familiengeschichte. Der eine Teil der Familie Ihres Vaters hat im damaligen Lwów vor allem unter den Verbrechen des Stalinismus gelitten, Ihre Mutter wäre dagegen in Bergen-Belsen fast verhungert.

Mein Großvater mütterlicherseits, Alfred, ging in die Niederlande, nach Amsterdam – bis es auch dort für sein Archiv zu gefährlich wurde und er nach New York auswanderte. Mein Großvater väterlicherseits, Dolu, wurde in Lwów nach dem Molotow-Ribbentrop-Pakt und der sowjetischen Okkupation der Stadt verhaftet, sein Besitz wurde beschlagnahmt. Er kam in eine staatliche Kolchose in Kasachstan, an der Grenze zu Sibirien, schließlich in den Gulag.

Beide Totalitarismen hätten fast Ihre Familie zerstört.

Man könnte sagen: Die Nazis haben alle Juden verhaftet, von denen einige Ladenbesitzer waren; die Sowjets haben alle Ladenbesitzer verhaftet, von denen einige Juden waren. Viele Leute fragen, wer schlimmer war, Hitler oder Stalin? Meine Mutter hat immer gesagt: Das ist kein Wettbewerb. Sie lehnte den Versuch ab, herauszufinden, wer abscheulicher war. Viele Verbrechen, die die Nazis begangen haben, wurden auch von den Sowjets begangen. Aber die von den Nazis errichtete Todesfabrik ist etwas Einzigartiges.

Die Familie Ihrer Mutter war mit der Familie von Anne Frank befreundet. Ihre Großmutter, Mutter und Tante waren wie Margot und Anne Frank in Westerbork und Bergen-Belsen. Gab es etwas, das Sie in Bezug auf die Familie Frank während der Recherche überrascht hat?

Meine Tante Ruth Wiener kannte Anne Frank etwas besser, sie war etwas älter als meine Mutter. Überrascht hat mich, dass Ruth gesagt hat, sie hätte nie das Gefühl gehabt, dass an Anne etwas Besonderes gewesen sei. Erst als sie die Tagebücher gelesen hätte, sei sie völlig verblüfft gewesen. Mit meiner Mutter habe ich über den Besuch Justin Biebers 2013 im Anne-Frank-Haus gesprochen. Bieber schrieb damals ins Gästebuch: „Anne war ein tolles Mädchen. Hoffentlich wäre sie ein ‚Belieber‘ gewesen“, also eine seiner Fans. Viele fanden das empörend. Meine Mutter sagte: Es hätte gut sein können, dass Anne ein „Belieber“ gewesen wäre, sie war in gewisser Weise ein ganz normaler Teenager.

Ihre Mutter hat schließlich als „Austauschjüdin“ überlebt.

Ja. Als Heinrich Himmler 1943 erkannte, dass die Deutschen den Krieg vielleicht nicht gewinnen werden, hat er in Bergen-Belsen ein Lager für „Austauschjuden“ oder „Vorzugsjuden“ errichtet. Sie sollten im Tausch mit internierten Deutschen, wertvollen Devisen oder Panzern freikommen. Die Nazis begannen, Juden mit ausländischen Pässen zu identifizieren, die dafür infrage kämen. Am Ende wurden nur sehr wenige ausgetauscht, weil die wenigsten Staaten sich auf den Tausch einließen. 1944 kam ein kleiner Austausch von Juden zustande, die sogenannte Palästina-Zertifikate hatten. Sie konnten nach Palästina ausreisen, im Gegenzug kamen Mitglieder der christlichen Tempelgesellschaft aus Palästina ins Deutsche Reich zurück.

Ihre Mutter kam aber erst später mit Hilfe der Ładoś-Gruppe frei.

Ja. Durch die von der Schweiz aus agierende Ładoś-Gruppe, benannt nach Aleksander Ładoś, wurden wohl mehrere tausend Juden gerettet. Die Ładoś-Gruppe besorgte Juden lateinamerikanische Pässe, mit denen sie ausgetauscht werden konnten. Meine Mutter und meine Tante gelangten an einen para­gua­yi­schen Pass. Beide waren unter den gerade mal 136 Menschen, die auf diese Weise 1945 aus Bergen-Belsen gerettet wurden.

Sie beschäftigen sich sehr ausführlich mit den Berner Prozessen um die „Protokolle der Weisen von Zion“ in den Jahren 1933 bis 1935, in denen die Fälschung gerichtlich bestätigt wurde. Warum?

Die „Protokolle der Weisen von Zion“ sind eine entscheidende Verschwörungstheorie über die Macht des Zionismus und der Juden überhaupt. Der Prozess zeigt für mich, wie die Nazis in den 1920er und 1930er Jahren auch bekämpft wurden. Mein Großvater hat dabei mitgeholfen, die Fälschung zu entlarven – das wollte ich ausführlicher darstellen.

Sie berufen sich häufig auf Ihren Großvater, sehen sich politisch in einer Linie mit ihm. Was ich damit nicht zusammenbringe, ist, dass Sie einst im Vorstand des verschwörungstheoretischen und rechten Thinktanks Gatestone Institute saßen.

Da war ich naiv. Von der Gatestone Foun­da­tion bin ich seit 2012 mehrmals eingeladen worden, ich dachte zunächst, es handele sich einfach um eine weitere internationale transatlantische Organisation. Ich habe dort Reden gehalten und Interviews geführt, sie listeten mich schließlich in dem Gremium, an dessen Ausschusssitzungen ich nie teilgenommen habe. Es hat ein bisschen gedauert, bis mir bewusst wurde, dass das nicht meine Politik ist, 2018 trat ich aus.

Ein großer Fehler Ihrerseits?

Es war ein kleines Desaster, weil ich mit etwas in Verbindung gebracht wurde, mit dem ich nicht einverstanden bin. Ich stehe für einen liberalen Konservatismus, für den etwa Angela Merkel steht. Ich denke, dass die größte Gefahr für die westliche Politik die mögliche Wiederwahl Trumps in diesem Jahr ist. Ich weiß, dass linker Populismus genauso gefährlich sein kann wie rechter. Doch derzeit geht für mich die größte Bedrohung für die liberale Demokratie von der populistischen Rechten in Amerika und den damit verbundenen Bewegungen auf der ganzen Welt – Geert Wilders, Nigel ­Farage, Victor Orbán – aus.

Als Lehre aus Ihrer Familiengeschichte schrei­ben Sie von einer Politik der „Mäßigung gegen Extremisten, für den Sieg der Vernunft über das Irrationale, für die leisen Institutionen einer stabilen Gesellschaft“.

Ja. Das, was meinen Großeltern widerfahren ist, darf nie wieder passieren. Wir müssen daran arbeiten, dass der liberal-demokratische Kapitalismus für alle funktioniert. Wir brauchen Wachsamkeit gegenüber antidemokratischen Kräften. Wir müssen den Wert des Pluralismus begreifen, sollten uns hüten, gesellschaftliche Gruppen zu etikettieren und diskriminieren, sollten andere Meinungen als demokratische Errungenschaften betrachten. Mein Großvater glaubte an die Macht der Wahrheit. Manchmal reicht aber die Wahrheit allein nicht aus. Ob wir die Demokratie irgendwann mit Gewalt verteidigen müssen? Ich weiß es nicht. Jemand mit meiner Familiengeschichte weiß, wie schrecklich Gewalt ist.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.