Migrantisches Leben in Berlin: Fluchtpunkte im Hinterkopf

Vertreibungs­phantasien erschrecken Menschen mit migrantischer Familien­geschichte. Nicht erst seit den Correctiv-Enthüllungen.

Die Sonnenallee - Eine Frau mit zwei Kindern und im Hintergrund ein arabisches Restaurant

Migrantisches Leben in Berlin – fester Teil der Stadtgesellschaft Foto: Dominik Butzmann/laif

Gürol Özcan, Barbesitzer in Frankfurt (Oder), ursprünglich aus Wedding: „Ich sehe, wie sich da ein roter Faden fortspinnt“

Der Correctiv-Bericht hat mich nicht überrascht. Das entwickelt sich schon lange. Meine erste Assoziation war die Wannseekonferenz 1942 − natürlich trafen sich heute keine Entscheidungsträger wie damals. Aber doch nicht ganz einflusslose Personen, um auf einer Metaebene strukturelle Vertreibungspläne zu schmieden. Mir ist klargeworden: Wow, die wollen fucking Ernst machen.

Ich habe fast 60 Jahre Familiengeschichte in Deutschland, wie viele andere hier auch. Meine Großeltern kamen zum Arbeiten in die Bundesrepublik und kehrten, wie von der Regierung geplant, nach 20 Jahren in die Türkei zurück.

Aber man hatte die Rechnung ohne die Familien gemacht: Mein Vater und meine Tante waren zehn und elf Jahre alt, als sie hierher zogen. Sie besuchten die deutsche Schule, fanden Freunde, lernten die Sprache und später einen Beruf. Wozu hätten sie wieder gehen sollen? Mein Cousin und ich waren schon hier geboren, als meine Großeltern zurückgingen.

Ein Mann steht auf einer Bühne mit Mikrofon auf einer Demonstration in Frankfurt (Oder)

Gürol Özcan bei einer Demonstration in Frankfurt (Oder) Foto: Peggy Lohse

Die deutsche Politik vergeudete Jahrzehnte: Meine Eltern bekamen keinen deutschen Pass und hatten somit kein Wahlrecht. Man musste sich nicht an ihnen orientieren, weil sie keine Wählerschaft waren. Aber später warf man ihnen Politikverdrossenheit vor.

Meine Eltern durften nicht nach Charlottenburg ziehen, obwohl sie es sich hätten leisten können. Sie bekamen eine Wohnung am Mauerstreifen − wo gutbürgerliche deutsche Familien nicht leben wollten. Wir wohnen da bis heute. Der Wedding ist zwar noch immer hässlich, aber ich bin da groß geworden. Ich verstehe alle, die nach Frankfurt zurückkommen und hier bauen − das ist Heimat, auch wenn sie nicht perfekt ist.

Wenn über Krawalle in Berlin diskutiert wird, geht es immer sofort um Herkunft. Aber wo wurden diese Jugendlichen denn sozialisiert? Das sind Probleme unserer deutschen Gesellschaft. Wenn ich hier von Frankfurt ins polnische Słubice zum Einkaufen fahre, werde ich immer wieder an der Grenze kontrolliert. Früher in Berlin sagte mir mal ein Polizist, enttäuscht über meinen deutschen Pass: „Verbrecher sehen eben aus wie du.“

Es gab auch mal einen Zwischenfall hier in der Bar, etwa 2017 oder 2018. Eine Gruppe, Leute aus Eritrea, war zu Gast, sehr höflich und freundlich. Als es voll war, bot ich deutschen Gästen den letzten freien Tisch daneben an. Als Antwort hörte ich: „Nee, hier nicht, die N*** stinken.“ Wie kann man so was denken und sagen?

Ich sehe, wie sich da ein roter Faden fortspinnt. Seit etwa 2001 erlebe ich unter Bekannten, bei der Arbeit, beim Sport, über die Medien, dass Muslime plötzlich gefährlich seien. Ich verstehe und unterstütze die große deutsche Sensibilität für Antisemitismus. Das ist richtig so. Aber für Islamhass fehlt sie, auch in der linken Bubble. Ist das nicht falsch? Konstruktive Religionskritik ist richtig und wichtig, aber sie findet selektiv und einseitig statt.

Auch die Integrationsdebatte macht mich wütend: Warum muss ich mich integrieren und du nicht? Gehöre ich doch nicht dazu − alle sind gleich, aber manche nicht gleich genug?

Meine Neffen wachsen bilingual auf. Aber wenn Kinder in der Familie Türkisch sprechen, gilt das als Problem. Französisch oder Englisch dagegen sind schick. Ich dachte immer, „Nie wieder“ gelte genauso für jüdisches Leben wie für andere Minderheiten und überhaupt alle. Doch es ist ein Problem, wenn die weiße Mehrheitsgesellschaft diese Gefahren nicht ernst nimmt, nur weil es sie vermeintlich nicht betrifft.

Noch ist Deutschland für mich das schrecklichste und schönste Land zugleich. Es ist hart, es ist ungerecht, aber es ist meine Heimat − ich kenne die Menschen und die Spielregeln hier.

Ich denke mit meiner Partnerin schon über Exit-Strategien nach. Noah hat die Arche ja auch vor der Sintflut gebaut. Welches Land käme infrage? In der Türkei haben wir Verwandte und die vertraute Sprache. Aber meine Freundin als Journalistin könnte dort nicht frei arbeiten.

Viele Menschen stehen mit Schildern auf einer Demonstration gegen rechts

Fck AfD: Demonstration gegen rechte Deportationsphantasien Foto: Ingmar Björn Nolting/laif

Kanada ist uns zu kalt und zu dünn besiedelt. Singapur ist für Gastronomie klasse, aber weder frei noch demokratisch. Im orientalischen Raum können wir nicht arbeiten, Afrika und Südamerika nicht einschätzen. In den USA ist wohl Trump bald wieder Präsident und in Australien die gesellschaftliche Stimmung auch teils fremdenfeindlich. Es bleibt Europa: Aber auch hier ist offensichtlich nirgendwo sicher, dass es freiheitlich bleibt.

Wenn wir weggehen, dann würden wir aufgeben. Dann überlassen wir das Feld den Arschlöchern. Wir würden unsere Heimat und unsere Privilegien verlieren. Also müssen wir unsere Freiheit hier verteidigen.

Dafür muss die Mehrheitsgesellschaft mir zuhören, mich ernst nehmen. Ich habe die rassistischen Ziele der AfD früh gesehen. Diese Partei ist praktisch auf meinem Rücken so groß geworden. Sie nähren sich am Elend, das sie verbreiten. Wir müssen jetzt den demokratischen Rechtsstaat zusammen schützen.

Monzy De*, 35, Vater, Busfahrer und Musiker aus Lichtenberg: „Wenn’s an die Kinder geht, ist der Spaß vorbei“

Als Junge lebte ich mit meinen Eltern in Reinickendorf in Westberlin, wohin wir damals über Angola aus den Kriegen in Kongo geflohen waren. Wenn wir befreundete Familien in Ostberlin besuchten, merkte ich, wie mein Vater auf uns Kinder aufpasste: kein Schritt allein irgendwohin. Im Osten haben wir Schwarzen nichts zu suchen. Das gilt bis heute, auch wenn es auf den ersten Blick multikultureller geworden zu sein scheint.

Ein Erlebnis werde ich nie vergessen: Als Jugendlicher brachte ich zum ersten Mal meine damalige Freundin nach Hause nach Berlin-Buch.

Da pöbelte mich eine junge Frau am S-Bahnhof als „Scheiß-N***“ an. Ich wollte sie zur Rede stellen − immerhin waren ein Freund und die Freundin dabei. Die zogen mich weg. Doch die Frau hatte wohl schon ihre Kumpels in der Kneipe unterm Bahnhof gerufen. Es gab nur einen Ausgang, also trafen wir an der Treppe auf eine Horde Rechtsradikaler, die auf uns zustürmte.

Ich rannte in ein Taxi, die Gruppe umrundete uns. Sie rissen die Tür auf und prügelten auf mich ein. Die Rettung war der Vater der Freundin: ein Kubaner und Kampfsportler. Sie hatte ihn offenbar erreicht, er tauchte plötzlich − wie im Film − auf, ging dazwischen, sodass das Taxi mit uns losfahren konnte. Wir fuhren in die Notaufnahme mit ihm, denn er hatte sich an der Taxitür den Oberschenkel aufgerissen.

Heute lebe ich mit meiner Frau und unseren fünf Kindern in Ostberlin. Zum Fußball nach Marzahn lasse ich meine Jungs aber nie allein fahren, da bin ich immer dabei. Einmal wurden an unserem Auto die Reifen aufgeschlitzt. Ein alter Nachbar beleidigt häufig unsere Kinder, bespuckt sie und schnippt Zigarettenkippen nach ihnen. Einmal hat er getroffen. Als meine damals hochschwangere Frau mit ihm sprechen wollte, hat er sie mit einem Hammer angegriffen und gerufen: „Verpisst euch von hier!“ All das haben wir angezeigt. Wenn es an unsere Kinder geht, ist der Spaß vorbei.

Die Correctiv-Recherche war ein Schock. Viele sagen: „Ach, die kommen damit nicht durch.“ Aber hat man sich das nicht früher auch gesagt, bis dann Deportationskommandos vor der Tür standen?

Ich bin zwar eingedeutscht, aber für viele bin ich immer noch Ausländer. Leute wie ich sind angepasst, wir arbeiten, aber werden immer in einen Topf geworfen mit jenen, die mit Gewalt oder Kriminalität den Rechten hier Anlässe für ihre Hetze geben. Ich versuche manchmal, das nachzuvollziehen. Aber die AfD denkt ja nicht menschlich, da ist nur noch Hass: „Die passen uns nicht, also weg von hier.“ Das macht Angst. Nicht heute oder morgen, aber vielleicht in fünf oder zehn Jahren könnte uns das treffen.

Die Demos gegen rechts sind gut, aber kommen spät. Wie kann es sein, dass Höcke noch öffentlich sprechen darf? Man sollte den Rechtsextremen keine Plattform geben, denn sie bringen die Radikalisierung, dass Ausländer angefeindet und Unterkünfte angegriffen werden. Wir müssen eine gesunde Mitte finden.

Wir haben vor einer Weile ein Grundstück in Kongo gekauft und bauen dort ein Haus, in der Nähe unserer Verwandten. Eigentlich als Ferienziel und Nachlass für die Kinder. Aber jetzt ist es vor allem ein möglicher Fluchtort. Die afrikanischen Länder verändern sich ja stark. Früher brachte die Korruption viel Armut, mittlerweile denkt die Regierung mehr an ihr Volk.

Gleichzeitig wird sie selbstbewusster gegenüber westlichen Investoren. Nur kommen, nehmen und Rohstoffe ausbeuten, das geht nicht mehr. Das finde ich gut. Aber ich hoffe sehr, dass wir unser Haus nur für Urlaube brauchen werden.

Jasmin*, 33, Apothekerin und Mutter aus dem Süden von Berlin: „Ich traue mich nicht, Kopftuch zu tragen“

Ich habe in der Familie von den Vertreibungsplänen der Rechtsextremen gehört. Meine Familie ist groß: Ich habe ältere, weiße, deutsche und jüngere, ägyptische Halbgeschwister mit dunklerer Haut. Ich bin die einzige Gemischte, meine Mutter ist Deutsche, mein Vater Ägypter. Mit meinem ägyptischen Mann habe ich drei Kinder.

Ich habe den Correctiv-Bericht überflogen und mich gefragt: Muss ich mir Sorgen machen? Eine Schwester fand es zu schlimm, um sich damit zu beschäftigen. Ein Bruder meinte, das könnten die nicht ernst meinen. Andere sagten, da gehe es um andere − wir sind ja Deutsche. Aber mein Mann ist eingebürgert, er kam vor zehn Jahren für mich aus Ägypten hierher. 2011 haben wir geheiratet, da war Arabischer Frühling. Aber kulturell, sozial und religiös sind wir weiter eng mit Ägypten verbunden.

Viele denken, alle Migranten liebten Deutschland. Aber bei einem muslimischen Friseur im Frauenzimmer habe ich von syrischen Mädchen gehört, dass sie hier nicht glücklich sind, dass sie in Flüchtlingsunterkünften schlecht behandelt würden. Ich sehe die Integrationspolitik sehr kritisch. Ich kenne ja die Rezepte, mit denen migrantische Menschen in die Apotheke kommen − oft Antidepressiva gegen Angstzustände. Tabletten statt Behandlung. Denn Bildung und Medizin waren schon ohne Flüchtlinge heruntergewirtschaftet. Und wenn ich dann höre: „Das ganze Geld geht an die Flüchtlinge“, sage ich immer: „Glaubst du, du würdest es sonst bekommen?“

Aus Selbstschutz versuche ich, nicht zu viel Nachrichten zu verfolgen. Aber es fühlt sich für mich schon unsicher und unfair an. Im Hinterkopf habe ich unsere Wohnung in Ägypten, eigentlich ein Rückzugsort für Sommerurlaube.

Denn gerade suchen wir nach einem Einfamilienhaus in Brandenburg. Ich schaue mir immer erst die AfD-Umfragewerte und Orte an. In Luckenwalde sagte mir eine Bäckereifachverkäuferin frei heraus, für Ausländer sei das kein guter Ort. Jetzt haben wir uns für eine andere Kleinstadt entschieden. Aus ihrer Berliner Schule erzählte meine ältere Tochter jüngst: „Bei mir am Gruppentisch haben alle blaue Augen außer mir.“ Ich hoffe, das wird dort dann nicht zum Problem.

Ich fühle mich in der deutschen Gesellschaft schon wohl, weil ich weiß, wo ich mich zu bewegen habe. Nach Hellersdorf oder Lichtenberg fahre ich nicht allein. Ich empfinde mich ja als Ausländerin, weil ich weiß, dass ich so auf andere wirke.

Manchmal möchten Kunden in der Apotheke nicht von mir bedient werden. Einmal gab es einen Konflikt − da beschwerte sich die Kundin bei Kollegen rassistisch über mich. Mein Praxisjahr in der Ausbildung habe ich in Schöneberg gemacht, da scheinen die Leute schlechtere Erfahrung mit Migranten gemacht zu haben, waren öfter ablehnend. Jetzt im Südwesten Berlins gibt es mehr höfliches Interesse. Das finde ich toll.

In freundlichem Ton ist die Frage „Woher kommst du?“ okay. Auch wenn sie nie „Berlin“ hören wollen. Ägypten finden viele irgendwie weniger schlimm. Oft höre ich dann allerdings: „Ah, da war ich mal im Urlaub und bekam Durchfall.“ Einmal fragte eine Pharmazievertreterin eine Kollegin mit Kopftuch: „Na, gehen Sie im Sommer wieder in die Heimat?“ Die reagierte cool: „Es gibt Besseres als Urlaub in Neukölln.“

Ich kenne auch Anfeindungen auf der Straße. Einmal wurde mir zugeraunt: „Geh zurück in die Türkei.“ Meine Mutter stand schockiert daneben. Ich sagte: „Macht nichts, ist normal.“ Sie erzählt auch gern, wie früher eine Nachbarin auf mich als Baby schaute und sagte: „Na, der Vater ist ja auch nicht deutsch.“ Und sie erwiderte: „Woher wissen Sie das?“

Viele Deutsche sehen das Problem nicht. Einerseits finde ich es gut, wenn sie keine Unterschiede nach der Hautfarbe machen. Andererseits ist es auch naiv und sie verstehen unsere Rassismuserfahrungen nicht. Ich sage selbst schon lieber „Kanake“, bevor es andere über mich tun. Und ich frage mich: Will ich, dass meine Kinder lernen, mit Alltagsrassismus umzugehen? Ich hoffe, es wird nie alltäglich, und versuche sie so zu erziehen, dass sie Stärke entwickeln. Ich musste das allein lernen.

Manchmal gibt es auch Momente der Doppelmoral, in denen ich ans Auswandern denke. Wenn alle Ausländer als kriminell über einen Kamm geschert werden. Wenn muslimische Amokläufer als Terroristen, andere als Einzeltäter gelten. Wenn ich vom Senat lese, dass die Kinder in der Schule nicht über den Nahostkrieg sprechen dürfen. Wenn bejubelt wird, dass sich junge Mädchen, wie eine Kollegin, ihre langen blonden Haare abrasieren, damit sie weniger auf ihr Äußeres reduziert werden. Gleichzeitig wird Kopftuch­tragen als religiöses Symbol abgelehnt.

Ich bin mit 15 zum Islam konvertiert, bete regelmäßig, trage auch im Sommer lange Kleider. Aber ich traue mich nicht, in Deutschland Kopftuch zu tragen. Ich verstehe es als Schutz der Frau, aber hier könnte es mich zur Zielscheibe machen.

Ich finde es schön, wenn Leute für die Rechte aller Menschen demonstrieren. Aber bei den Demos gegen rechts befürchte ich, dass sie der AfD eine Opferrolle zuspielen und ihr so Solidarität verschaffen könnten. Jüngst gab es einen Streit zwischen meiner Tochter und einer Mitschülerin. Die Mutter der anderen ist überzeugt, dass mein Kind angefangen habe, ihre Tochter mit Tiernamen zu beschimpfen. Sie schrieb mir: „Wenn mein deutsches Kind angefangen hätte, wäre das gleich wieder Fremdenfeindlichkeit gewesen.“ Durch die Beschäftigung mit Rassismus fühlen sich Deutsche immer öfter unfair behandelt, sind vielleicht neidisch auf die Aufmerksamkeit.

Ich wünsche mir, dass wir alle mehr persönliche Kontakte zueinander suchen. Guckt euch in eurer Umgebung um − wir Ausländer sind gar nicht so schlimm, sondern nette Leute!

*Die vollen Namen sollen zum Schutz der Familie nicht veröffentlicht werden

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.