Politikerin über Befreiung der Krim: „Die Minen in den Köpfen räumen“

Seit der Besetzung Russlands 2014 leben die Krimtataren unter ständiger Repression, sagt Tamila Taschewa. Sie vertritt die Ukraine auf der Krim.

Dichter Qualm steigt hinter einer Brücke auf.

Die Kertsch-Brücke während eines Militärangriffs im August 2023 Foto: Alyona Popova/imago

taz: Frau Taschewa, vor zehn Jahren hat Russland auf der ukrainischen Halbinsel Krim ein illegales Referendum abgehalten und sie so annektiert. Wie ist die Situation dort heute?

Tamila Taschewa: Die Russische Föderation hat die Krim zu einem großen Militärstützpunkt ausgebaut, mit 35.000 permanent stationierten Soldaten. Auch die Kolonisation der Region ist in vollem Gange. Wir schätzen, dass mindestens 800.000 Menschen aus Russland dort zusätzlich angekommen sind. Die Bevölkerung wird ersetzt, was nach humanitärem Völkerrecht ein Kriegsverbrechen ist. Es gilt das Recht der Russischen Föderation, gleichzeitig ist es eine Zone der Gesetzlosigkeit, da die lokale Bevölkerung keine Freiheiten mehr hat.

Auch haben sich die wirtschaftlichen Versprechungen Putins nicht erfüllt. Die Krim ist eine graue Sanktionszone mit sehr hohen Lebensmittel- und Treibstoffpreisen, ohne Wirtschaft und Entwicklungsmöglichkeiten, aber mit ständiger politischer Verfolgung der Menschen.

Bis heute sind 214 zivile politische Gefangene auf der Krim bekannt, 135 davon sind Krimtataren. Wie erklären Sie sich das?

Die 38-jährige ist seit April 2022 als Ständige Vertreterin des ukrainischen Präsidenten in der Autonomen Republik Krim.

Ich bin selbst Krimtatarin und kenne die Geschichte meines Volkes sehr gut. Wegen der Deportation von 1944, als Stalin alle Krimtataren nach Mittelasien verschleppte, konnte ich nicht auf der Krim geboren werden. Als ich fünfeinhalb Jahre alt war, kehrten meine Familie und ich auf die Krim zurück. Die Krimtataren wissen sehr genau, wer ihr Feind ist. Ihr Feind ist die gesamte russische imperiale Maschinerie, sei es das Russische Reich, die Sowjetunion oder die Russische Föderation. Die Deportation von 1944 war ein Versuch, die Krimtataren durch Völkermord vollständig auszulöschen. Aus diesem Grund haben sie die Russische Föderation 2014 bei dem Referendum nicht akzeptiert. Sie wussten, dass dies ihre allmähliche Vernichtung bedeuten würde.

Und genau das geschieht jetzt: Mobilisierung, Verfolgung, Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Verschwindenlassen. Die Krimtataren haben verstanden, dass sie nur überleben können, wenn sie nicht mehr unter russischer Herrschaft stehen. Deshalb entscheiden sie sich für die Demokratie und die Ukraine.

Zwischen Russland und der Ukraine finden ständig Gefangenenaustausche statt, die aber meist nur Militärangehörige betreffen. Warum ist es nicht möglich, inhaftierte Zivilisten von der Krim zu befreien?

Das liegt unter anderem daran, dass nach internationalem Recht Militärangehörige nicht gegen Zivilisten ausgetauscht werden dürfen. In der Regel wird Militär gegen Militär ausgetauscht. In der Ukraine gibt es keine zivilen russischen Gefangenen, also gibt es auch keinen zivilen Austausch. Aber mit den Krimtataren oder den Krimbewohnern im Allgemeinen ist es noch komplizierter. Russland identifiziert unsere Zivilisten als russische Staatsbürger.

Im Jahr 2021 verabschiedete die Ukraine die Strategie für die Deokkupation der Krim. Was ist das?

Egal wann die Krim befreit wird, wir müssen darauf vorbereitet sein. Deshalb haben wir begonnen, uns mit wichtigen Fragen nach der Deokkupation zu beschäftigen: Werden die Menschen zuerst etwas zu essen haben? Welche Papiere werden sie haben? Wie erhalten sie Sozialleistungen? Welche Dokumente werden die Kinder vorlegen, wenn sie zur Schule gehen? Welche Schulbücher werden sie benutzen? Wie können wir wieder unabhängige Medien auf die Krim bringen? Wie schnell können Wahlen stattfinden? Wir sind uns bewusst, dass das sehr komplexe Fragen sind. Die Menschen haben Angst vor dem Unbekannten. Es ist deshalb wichtig, dass sie klare Antworten bekommen.

Am Beispiel der bereits befreiten Gebiete in Kyjiw, Charkiw und Cherson weiß die Ukraine, mit welchen Problemen sie konfrontiert werden könnte. Auf der Krim ist die Situation noch komplizierter, da die Halbinsel schon viel länger unter Besatzung steht. Wie wollen Sie damit umgehen?

Erstens brauchen wir Behörden vor Ort. Unter Kriegsrecht sind das Militärverwaltungen. Das heißt, wir kommen mit Militärverwaltungen auf die Halbinsel, weil wir verschiedene Stellen koordinieren müssen: Militär, Ordnungskräfte, Medizin, Bildung und so weiter. Zweitens gibt es die Frage des Personals – wie und wer dort arbeiten wird. Wir haben 2023 eine Personalreserve geschaffen, für die sich bereits Leute bewerben. Bis jetzt sind es nur 2.500. Für die Krim brauchen wir etwa 50.000 Menschen. Im Vergleich zu Cherson, das neun Monate besetzt war, ist die Krim seit zehn Jahren besetzt. Das bedeutet, dass das lokale Personal weder die ukrainische Gesetzgebung noch die ukrainische Sprache kennt.

Es ist wichtig zu verstehen, dass diejenigen, die in leitenden Positio­nen gearbeitet haben, wegen Kollaboration und Unterstützung des Besatzungsregimes strafrechtlich verfolgt werden. Einige von ihnen haben Kriegsverbrechen begangen und gegen das Völkerrecht verstoßen. Sie werden sich vor Gericht verantworten müssen. Das betrifft 2.000 bis 3.000 Menschen. Wir werden uns überlegen, was wir mit dem Rest der unteren Führungsebene machen. Zum Beispiel werden wir sie nach einer Überprüfung in ihren Positionen belassen, oder das Spektrum der Ämter, die sie bekleiden können, einschränken.

Im Zusammenhang mit der Deokkupation wird oft von „kognitiven Reintegration“ gesprochen. Was ist das?

Kommunikation ist sehr wichtig. Den Menschen auf der Krim muss erklärt werden, dass die Rückkehr der Ukraine für sie keinen völligen Zusammenbruch bedeutet. Die „kognitive Reintegration“ ist einer der schwierigsten Aspekte der Deokkupation der Krim. Man könnte sie auch als kognitive Minenräumung bezeichnen. Denn Russland legt mit seiner Bildungs-, Kultur- und Informationspropaganda Minen in die Köpfe der Menschen. Diese Minen müssen wir räumen. Wir verstehen, dass nach der Befreiung der Krim eine Übergangszeit notwendig sein wird, damit das ukrainische Recht dort voll zur Geltung kommen kann.

Wir verstehen auch, dass die ukrainische Sprache nicht sofort in allen Gebieten der befreiten Halbinsel funktionieren wird. Deshalb arbeiten wir derzeit mit den zuständigen Ministerien an der Entwicklung von Mechanismen für eine Übergangszeit, zum Beispiel spezielle zweisprachige Schulbücher für Kinder. Der Reintegrationsprozess soll für die Menschen so sanft wie möglich sein, gleichzeitig muss der Staat Stärke zeigen und alle Rechte und Interessen der Bürger berücksichtigen.

In Deutschland wird derzeit über die Lieferung von Taurus-Raketen an die Ukraine diskutiert, mit denen diese offenbar versuchen will, die Kertsch-Brücke zu zerstören, die die Krim mit Russland verbindet. Wie könnten die Menschen auf der Halbinsel darauf reagieren?

Die Kertsch-Brücke sollte nicht als ziviles Bauwerk betrachtet werden. Alle Einrichtungen, die Russland nach 2014 auf der Krim gebaut hat, haben einen potenziell militärischen Zweck. Die Brücke dient dem schnellen Transfer von Ausrüstung, Truppen und Nachschub. Sie ist eine wichtige Verbindungsstraße zwischen Russland und der Krim. Ihre Zerstörung würde das militärische Potenzial Russlands für eine Offensive im Süden der Ukraine verringern. Deshalb ist sie für uns sehr wichtig, aber wir brauchen auch die entsprechenden Waffen.

Die Ukraine hat die Brücke bereits angegriffen, und wir haben auf der Krim unterschiedliche Reaktionen erlebt. Diejenigen, die wir als Kolonisatoren bezeichnen, haben natürlich Angst, sind nervös und verlassen schließlich die Krim. Der proukrainische Teil der Halbinselbevölkerung hat sich über die Angriffe gefreut. Diejenigen, die beiden Seiten neutral gegenüberstehen, versuchen, ihr Leben weiterzuführen, und ignorieren, was um sie herum geschieht. Wir haben eine interessante Tendenz festgestellt: Je mehr Angriffe auf militärische Ziele auf der Krim stattfinden, desto mehr Menschen beginnen, ihre proukrainische Haltung auf verschiedene Weise zu zeigen. In privaten Gesprächen sagen uns viele, dass sie das Gefühl haben, dass die Ukraine zum ersten Mal seit 2014 wirklich um die Krim kämpft.

In europäischen Ländern heißt es oft, wenn Putin die Krim verliere, provoziere ihn das zum Einsatz von Atomwaffen. Was sagen Sie zu solchen Befürchtungen?

Ich halte es für einen großen Mythos, dass Russland sofort Atomwaffen einsetzen wird. Die Ukraine sollte diesen Krieg nicht nur überleben dürfen. Die Ukraine muss gewinnen können und Russland muss verlieren können. Alle Handlungen sollten darauf ausgerichtet sein. Es wird keinen gerechten Frieden für die Ukraine geben ohne die Befreiung aller unserer Gebiete, einschließlich der Krim. Wir sind sehr dankbar für all die Hilfe, die bereits geleistet wurde, aber sie reicht noch nicht aus, um diesen Krieg zu unseren Bedingungen zu gewinnen. Was bedeutet „Hissen der weißen Fahne“? Es bedeutet, dass wir aufhören zu existieren. Man darf den tausendfachen Tod unseres Volkes nicht ignorieren. Ist die Welt bereit, die Augen zu schließen, wenn ein ganzes Volk vernichtet wird?

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