Anwältin über Zwangsräumungen: „Manche trifft es unter Dusche“

Rechtsanwältin Carola Handwerg betreute einige Fälle, in denen Menschen unvorbereitet aus der Wohnung geworfen wurden. Sie fordert eine Gesetzesänderung.

Ein Protestschild, auf dem steht: Stop Zwangsräumung

Proteste gegen Zwangsräumungen haben meist wenig Erfolg Foto: Weingartner-Foto/imago

taz: Frau Handwerg, darf man nach geltender Rechtslage Menschen einfach so auf die Straße räumen?

Carola Handwerg: Einfach so natürlich nicht, es bedarf eines Räumungstitels. Erst dann kann ein Gerichtsvollzieher die Räumung durchführen.

Muss sichergestellt werden, dass die Person, die geräumt wird, eine andere Unterkunft hat?

Das ist leider nicht so. Wenn der Vermieter ein Räumungsurteil erwirken konnte, müssen die ursprünglichen Mieter selbst gucken, wo sie bleiben.

Was passiert mit den Sachen aus einer geräumten Wohnung?

Der Vermieter bzw. Ge­richts­voll­zie­he­r*in ist verpflichtet, die Sachen einen Monat lang aufzubewahren. Danach kann das, was verwertet werden kann, verwertet werden, der Rest wird vernichtet.

Vernichtet?

Es ist wirklich dramatisch. Da gehen alle Papiere aus einem Leben verloren, Zeugnisse, Geburtsurkunden, alles. Ich hab immer wieder Fälle, wo mich entsetzt Menschen anrufen und sagen, ich bin gerade geräumt worden. Ich sage dann, aber da muss es doch ein Gerichtsverfahren gegeben haben und ein Urteil – nur leider gibt es viele, die aus psychischen Gründen nicht in der Lage sind, sich um ihre Post zu kümmern. Und diese Menschen trifft eine Zwangsräumung quasi unter der Dusche oder am Frühstückstisch.

Vom 27. März bis zum 7. April 2024 finden in zahlreichen europäischen Städten die „Housing action days“ statt. Im Fokus: Verdrängung, zu hohe Mieten, Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Das Bündnis „Zwangsräumungen verhindern“ protestiert zum Beispiel am 4. April gegen Eigenbedarfskündigungen in Berlin-Charlottenburg gegen Kanzleien, die langjährige Mie­te­r*in­nen vertreiben wollen.

Wäre es zumindest möglich zu regeln, dass niemand geräumt werden darf, solange es keine andere Unterkunft gibt?

Natürlich wäre das möglich, wenn der Bundesgesetzgeber das will. In Frankreich ist es zum Beispiel verboten, im Winter zu ­räumen. Ich hatte im Dezember des vergangenen Jahres eine alleiner­ziehende Mutter mit einem Kind, die kurz vor Weihnachten ­geräumt wurde. Das war so furchtbar. Man kann ­natürlich fragen, ­warum machen ­Eigentümer das, weil die die Zwangsvollstreckungsaufträge ja auslösen. Aber die ­eigentliche Frage ist: Warum schreitet der Gesetzgeber da nicht ein?

Gibt es keinen Schutzmechanismus? Es ist doch ein Anliegen der Bundesregierung, dass Menschen nicht wohnungslos werden.

Ja, das sollte man meinen. Mit dem Eingang einer Räumungsklage sind die Gerichte verpflichtet, das Sozialamt zu unterrichten. Aber die Behörden gehen damit sehr unterschiedlich um. In Berlin wurden zum Beispiel in Neukölln Sozialarbeiter losgeschickt, um an der Tür zu klingeln. Andere Bezirke schicken einfach nur einen Brief ab und das war es dann. Aber es gibt sehr viele Menschen, die aus Angst vor negativer Post nicht mehr an den Briefkasten gehen. Und die könnte ein Sozialarbeiter erreichen. Dann gäbe es auch die Chance, einen Räumungsschutzantrag zu stellen.

Es gibt unterschiedliche Gründe für Zwangsräumungen. Zahlungsunfähigkeit ist sehr häufig, es kann aber auch Eigenbedarf geltend gemacht werden. Gibt es Härtefallregelungen, wenn zum Beispiel jemand schon sehr alt oder krank ist?

Beim Beispiel der Eigenbedarfskündigung findet eine Härtefallabwägung statt, wenn man rechtzeitig Widerspruch eingelegt hat. Das sind natürlich Hürden, die meist nur genommen werden können, wenn man eine Rechtsberatung hat. Wenn nach einer Härtefallabwägung in erster und zweiter Instanz eine Räumung rechtskräftig wird, gibt es nur zwei Stellschrauben: Man kann einen Verlängerungsantrag bei der Räumungsfrist stellen. Und wenn sich der Gerichtsvollzieher ankündigt, kann man noch einen Räumungsschutzantrag stellen. An dieser Stelle könnte ein ärztliches Attest erwirken, dass der Räumungstermin wieder abgesagt wird.

Wie oft passiert das?

Dafür ist die Hürde sehr groß. Es muss schon eine begründete Suizidgefahr vorliegen. Die Gerichte wollen sehen, dass die Person schon eine konkrete Vorstellung hat, wie sie ihren Suizid ausführen will. Das klingt sarkastisch, aber es ist tatsächlich so. Erst wenn so ein qualifiziertes Attest vorliegt, hat man eine Chance, eine Räumung abzuwenden. Aber älteren, kranken Menschen, Menschen mit Kindern, oder im Fall der alleinerziehenden Mutter hilft das nicht weiter.

Carola Handwerg ist Anwältin für Mietrecht und Mitglied im Republikanischen AnwältInnenverein RAV. Sie berät die Berliner Initiative Zwangsräumung verhindern.

Das ist hart.

Ja. Es haben schon mehrfach Menschen nach der Räumung Suizid begangen. 2013 ist in Berlin eine Frau nach ihrer Räumung in einer Obdachlosenunterkunft gestorben. Und der Fall der bereits erwähnten alleinerziehenden Mutter mit ihrer Tochter hat mich auch tief erschüttert. Sie hatte die ganze Wohnung schön gemacht vor Weihnachten, wir hatten ein Attest vom Kinderarzt, wir hatten ein ­Schreiben von der Schule, wie wichtig es ist, das Kind nicht aus der Umgebung zu reißen. Es war mitten im Winter. Aber es hat alles nichts geholfen. Diese Mutter und dieses Kind wurden geräumt.

Wo sind die beiden untergekommen?

Bei Freunden.

Wie war das bei anderen Fällen, die Sie betreut haben?

Vielen gelingt es rechtzeitig, eine neue Wohnung zu finden. Einige schließen aber prekäre Untermietverträge ab. Andere kommen bei Freunden oder Familie unter. Ganz schlimm sind die Fälle, die quasi von der Zwangsräumung kalt erwischt werden. Davon hatte ich im vergangenen Jahr drei Fälle. Die stehen dann tatsächlich völlig unvorbereitet vor einer verschlossenen Tür, und wenn da nicht ein familiäres Netzwerk oder Freunde existieren, dann landen sie auf der Straße.

Ein häufiger Grund für Zwangsräumungen sind Miet- oder Energieschulden . Es wird immer wieder bemängelt, dass es bei einer ordentlichen Kündigung keine Schonfristregelung gibt, mit der man innerhalb von zwei Monaten seine Schulden begleichen und die Kündigung abwenden kann. Bei einer außerordentlichen Kündigung gibt es eine solche Schonfrist. Warum wird das nicht gemacht?

Mir fällt kein Grund ein, außer dass die Vermieterlobby sehr stark ist. Zumindest steht im Koalitionsvertrag der Plan, dass die Schonfristregelung auf die ordentliche Kündigung ausgeweitet werden soll. Das könnte der Gesetzgeber ganz einfach klarstellen: Man braucht im Prinzip nur einen Absatz einfügen, dass die Schonfristregelung auch entsprechend für die meist hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung gilt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.