Ein Jahr nach Amoktat in Hamburg: Im Schnelldurchlauf zur Mordwaffe

Vor einem Jahr tötete Philipp F. in Hamburg sechs Zeugen Jehovas. Bei seiner Waffensachkunde-Prüfung ging es drunter und drüber.

Zwischen Blumen und Grablichtern liegt eine Zettel, auf dem steht "Tauer über das fehlende Waffenverbot"

Kontrolle ist gut, Verbot wär' besser: Vor dem Tatort in einem Versammlungsraum der Zeugen Jehovas in Hamburg Foto: Jonas Walzberg/dpa

HAMBURG taz | Ein Jahr ist es her, dass Philipp F. in Hamburg mit seiner Pistole in eine Versammlung der Zeugen Jehovas stürmte. Er tötete sechs Menschen und einen Fötus, verletzte neun weitere zum Teil schwer, bevor er sich selbst erschoss. Immer noch ungeklärt ist, ob die Amoktat hätte verhindert werden können.

Die Ermittlungen gegen einen Mitarbeiter der Hamburger Waffenbehörde wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung dauern an. Er soll einen Hinweis aus dem Hanseatic Gun Club (HGC), wo F. das Schießen gelernt hatte, auf dessen psychische Labilität weder dokumentiert noch weitergeleitet haben. Hätte er das getan, hätten sich die Waffenkontrolleure vor ihrem Hausbesuch bei F. zu Hause möglicherweise genauer über ihn informiert – und wären über dessen alarmierend wirre Schriften im Netz gestolpert.

Im Laufe der Ermittlungen kam heraus, das dieser mutmaßlich säumige Behördenmitarbeiter, der immer noch vom Dienst suspendiert ist, nebenbei selbst in jenem Schießstand nahe der Hamburger Binnenalster gejobbt hat. Ein Interessenkonflikt liegt zumindest nahe.

Der Club ist an derselben Adresse sowohl ein eingetragener Sportschützenverein als auch ein kommerzieller Schießstand. Er hatte damals offensiv auf seiner Website geworben, der Weg zur eigenen Waffe sei „nicht so dornenreich, wie es anfänglich scheinen mag“. – Genau das Richtige für Philipp F., denn der hatte seine Amoktat offenbar lange geplant und alles daran gesetzt, so schnell wie möglich an eine eigene Pistole zu kommen. Nach etwas über einem Jahr hatte er die Waffenbesitzkarte in der Tasche.

Zu oft daneben geschossen

Abenteuerlich klingt, wie der spätere Amoktäter F. zu dieser waffenrechtlichen Erlaubnis gekommen ist. Bei der Prüfung im Hanseatic Gun Club ging es drunter und drüber. Das geht aus der Einstellungsverfügung hervor, mit der der Hamburger Generalstaatsanwaltschaft die Ermittlungen gegen die drei Prüfer beendet hat.

F. hatte zwar die theoretische Prüfung im April 2022 auf Anhieb bestanden. Aber durch die praktische Prüfung, bei welcher der Vorsitzende des Prüfungsausschusses schon gar nicht mehr dabei war, fiel er durch: zu viele Fehlschüsse. Die Urkunde über die bestandene Prüfung war da längst ausgestellt und von den drei Prüfern unterschrieben.

Philipp F. musste ein halbes Jahr später zu einer Nachprüfung antreten, die allerdings nicht wie vorgeschrieben bei der Waffenbehörde angemeldet war. Die Nachprüfung nahm ein Beisitzer des Prüfungsausschusses, der zugleich Mitarbeiter des Hanseatic Gun Club war, allein vor. Den beiden anderen Mitgliedern teilte er lediglich per Whatsapp mit, dass F. nun „bestanden“ habe. Angeblich war jeder Schuss ein Treffer. Dokumentiert ist dieses Prüfungsergebnis nicht.

Eigentlich hätte die ganze Prüfung im Hanseatic Gun Club gar nicht stattfinden dürfen. Denn der Vorsitzende des Prüfungsausschusses, der als Veranstalter auftrat, hat von seinem Heimatkreis Segeberg genaue Auflagen bekommen, wie er eine Waffensachkundeprüfung durchzuführen hat. Und die sind für ihn bundesweit gültig, wie die Segeberger Waffenbehörde bestätigt. Dazu gehört unter anderem eine Schießprüfung mit einem Repetiergewehr, wofür ein 100-Meter-Schießstand nötig wäre. Der ist im HGC aber nicht vorhanden.

Die Prüfer haben alles daran gesetzt, dass Philipp F. schnell und unkompliziert zu einer eigenen Waffe kam

Philipp F. schoss bei seiner Prüfung deswegen nur mit zwei Pistolen und einem Gewehr. Dennoch steht fälschlicherweise „Langwaffen“ im Plural in dem fertigen Prüfungszeugnis, das Philipp F. Anfang November ausgehändigt bekam. Anfang Dezember erhielt er daraufhin von der Hamburger Waffenbehörde eine Waffenbesitzkarte.

Darin ließ er die spätere Tatwaffe eintragen, eine halbautomatische Pistole Heckler & Koch P 30 L, die er schon Monate vorher gekauft hatte. Nun konnte er sie aus der Verwahrung im Gun Club abholen – und auch die Neun-Millimeter-Munition bestellen: hunderte Patronen. Drei Monate später waren sieben Menschen tot, einer davon Philipp F. selbst.

Derartige Schludereien, oder „Verfahrensmängel“, wie es im Juristendeutsch heißt, stellte die Staatsanwaltschaft auch bei anderen Prüfungen derselben Prüfer fest. Dennoch hat sie die Ermittlungen wegen Falschbeurkundung gegen die drei Männer Mitte Februar eingestellt, ohne Auflagen für die Beschuldigten.

Sie hätten Philipp F. die Waffensachkunde nicht wider besseres Wissen bescheinigt, heißt es in einer Mitteilung der Staatsanwaltschaft zum Einstellungsbeschluss. Die „strafwürdigen Falschangaben“ hätten die Prüfer vor allem aus „pragmatischen“ Gründen gemacht, weil im HGC kein 100-Meter-Schießstand verfügbar war.

Man könnte auch sagen: Die Prüfer haben alles daran gesetzt, dass Philipp F. schnell und unkompliziert zu einer eigenen Waffe kam, wie es die Werbung des Hanseatic Gun Club versprochen hatte. Dafür hat ein Mitarbeiter sogar eine unangemeldete, undokumentierte Nachprüfung ohne vollständige Prüfungskommission durchgeführt.

Ob es am Lauf der Dinge etwas geändert hätte, hätten sich die Prüfer an Recht und Gesetz gehalten, hat die Staatsanwaltschaft nicht untersucht. Möglich wäre es immerhin, dass sich Philipp F.s Weg zur eigenen Waffe verlängert hätte – und er in der Zwischenzeit doch auffällig geworden wäre.

Ein Flickenteppich an Waffenbehörden

Die Staatsanwaltschaft nennt weitere Gründe dafür, die drei Männer nicht zu verfolgen: Es sei zweifelhaft, ob sie das begangene Unrecht erkannt hätten, weil einerseits im Waffengesetz keine einheitliche Prüfungsordnung für die Waffensachkunde vorgesehen sei und andererseits ältere Auflagen für Prüfer aus Schleswig-Holstein mit dem heutigen Waffenrecht in Konflikt stünden.

Der Flickenteppich aus hunderten Waffenbehörden in Deutschland, die ihre eigenen Regeln machen, ist offenbar selbst für Insider nicht mehr durchschaubar. Doch eine von Bundesinnenministerin Nancy Faes­er (SPD) nach dem Massaker an den Zeugen Jehovas angekündigte Verschärfung des Waffenrechts scheitert bislang am Widerstand der FDP.

Auch an Hamburger Behörden übt die Generalstaatsanwaltschaft scharfe Kritik: Zu berücksichtigen sei bei der Entscheidung auch, dass die Waffenbehörde „offenbar aus Kapazitätsgründen davon absieht, einer örtlichen Sachkundeprüfung beizuwohnen sowie eine stichprobenartige Kontrolle von Prüfunterlagen“ vorzunehmen. Die bei der Polizei angesiedelte Behörde nehme die gebotene Fachaufsicht nicht wahr.

Zumindest das hat sich seither geändert: Seit der Amoktat vor einem Jahr entsendet die Waffenbehörde zu jeder angemeldeten Sachkundeprüfung einen zusätzlichen Beisitzer – „bis auf Weiteres“, teilt die Polizei mit. Dazu ist die Behörde in der Lage, weil ihr Personal um ein gutes Viertel aufgestockt wurde. Routinen wurden überarbeitet, Bedienstete nachgeschult, die Zahl der unangekündigten Kontrollen bei Waffenbesitzern gegenüber dem Vorjahr fast vervierfacht.

Im Hanseatic Gun Club wurden seit der Amoktat von Philipp F. keine Sachkundeprüfungen mehr angemeldet. Ob sie genehmigt würden – womöglich sogar von denselben, rechtlich unbescholtenen Prüfern – kann die Behörde derzeit noch nicht sagen.

In einer früheren Fassung hatte es geheißen, der Amoktäter habe auch eine schwangere Frau getötet. Die Frau hat jedoch überlebt, getötet wurde ihr Fötus. Wir haben den Fehler korrigiert. Wir haben außerdem im Teaser das Wort „Waffenschein-Prüfung“ durch „Waffensachkunde-Prüfung“ ersetzt.

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