Zwangsräumung ohne Schonfrist: „Masche von manchen Vermietern“

2022 verloren jeden Tag Menschen durch Zwangsräumungen ihre Wohnungen. Wo bleibt der verbesserte Kündigungsschutz?

Aktivisten und Nachbarn protestieren in der Wrangelstraße 63 in Kreuzberg mit einer Sitzblockade gegen die Zwangsräumung des 69-jährigen Mieters Reinhard, der seit 1979 in der 1-Zimmerwohnung lebt. Mehrere Polizisten versuchen die Blockade aufzulösen

Oktober 2023 Berlin-Kreuzberg: Protest gegen die Zwangsräumung eines 69-jährigen Mieters, der seit 1979 in seiner Wohnung lebte

BERLIN taz | Im Jahr 2022 gab es bundesweit laut Bundesjustizministerium mindestens 27.319 Zwangsräumungen. Die meisten fanden demnach in Nordrhein-Westfalen (8.690) statt, gefolgt von Bayern (2.579), Niedersachsen (2.288) und Sachsen (2.265). Insgesamt dürften es noch mehr sein. Denn die Daten aus Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern fehlen in der Auflistung.

Die Bundestagsabgeordnete Caren Lay (Linke), die diese Zahlen abgefragt hat, geht von etwa 30.000 Zwangsräumungen pro Jahr aus, indem sie die Daten der beiden Bundesländer aus der Deutschen Gerichtsvollzieher Zeitung hinzuzählt. Damit käme man im Schnitt auf 82 Zwangsräumungen pro Tag.

Dennoch bleibt das Thema in weiten Teilen eine Black Box. Es gibt nur wenig Erkenntnisse dazu, wer genau warum oder auch wie viele Kinder von Zwangsräumungen betroffen sind. Auch ist unklar, was mit den Menschen nach Zwangsräumungen eigentlich passiert. Dabei ist es erklärtes Ziel der Bundesregierung, bis zum Jahr 2030 Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden.

Im Statistikbericht 2021 der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe nannte fast jede siebte hilfesuchende Person eine Zwangsräumung als Grund für den Wohnungsverlust. Fast zwei Drittel von ihnen gaben Mietschulden als Grund für die Zwangsräumung an, 6 Prozent aufgrund von Eigenbedarf.

Vom 27. März bis zum 7. April finden in zahlreichen europäischen Städten die „Housing Action Days“ statt. Im Fokus: Verdrängung, zu hohe Mieten, Bekämpfung von Obdachlosigkeit. Das Bündnis „Zwangsräumungen verhindern“ protestiert zum Beispiel am 4. April wegen Eigenbedarfskündigungen in Berlin-Charlottenburg gegen Kanzleien, die langjährige Mie­te­r*in­nen vertreiben wollen.

Zumindest einen Teil der Zwangsräumungen könnte man durch einen verbesserten Kündigungsschutz verhindern. Werden Mie­te­r*in­nen wegen Mietschulden fristlos gekündigt, dann gibt es derzeit eine Schonfristregelung: Wenn innerhalb von zwei Monaten die Mietschulden selbst oder durch das Jobcenter beglichen werden, wird die Kündigung unwirksam. Das Problem ist: Diese Schonfristregelung gilt nicht bei ordentlichen Kündigungen.

„Warum das so ist, versteht kein Mensch“, sagt Jutta Hartmann vom Deutschen Mieterbund der taz. „Der Gesetzgeber muss dringend die Schonfristregelung auf die ordentliche Kündigung ausweiten. Das ist ein echter Missstand.“ Zu beobachten sei in angespannten Wohnlagen „eine Masche von manchen Vermietern, eine außerordentliche und eine ordentliche Kündigung auszusprechen, um genau diese Gesetzeslücke auszunutzen.“ Ein Mieterwechsel sei „die Gelegenheit, die Mieten wieder zu erhöhen“, erklärt sie.

Eigentlich wollte die Ampelregierung das Problem anpacken. „Um die Ursachen drohender Wohnungslosigkeit zu beseitigen, werden wir das Mietrecht, insbesondere dort, wo Schonfristzahlungen dem Weiterführen des Mietverhältnisses entgegenstehen, evaluieren und entgegensteuern“, steht im Koalitonsvertrag. Doch bislang ist nichts passiert.

Uneinigkeit in der Ampel-Koalition

Es werde derzeit geprüft, „ob und inwieweit es in Bezug auf Zwangsräumungen gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt“, erklärt das für Mietrecht zuständige FDP-geführte Bundesjustizministerium auf Nachfrage der taz. Eine Entscheidung „über etwaige Änderungen in Bezug auf Schonfristzahlungen“ sei noch nicht getroffen. Das Ministerium betont zudem, dass „die Behandlung von Schonfristzahlungen auch nicht für alle Zwangsräumungen relevant“ sei.

Diese vage Antwort des Ministeriums ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass das Thema in der Koalition sehr unterschiedlich bewertet wird. Während SPD und Grüne Handlungsbedarf sehen, ist die FDP skeptisch.

Die SPD-Abgeordnete Zanda Martens kritisiert gegenüber der taz, dass die Zahl der Wohnungslosen „in den letzten Jahren dramatisch“ gestiegen sei. Man müsse daher vor allem „die Mieterinnen und Mieter vor einer Kündigung schützen, die ihre Mietschulden doch noch zurückzahlen“, sagt sie und verweist auf das Koalitionsvorhaben zu den Schonfristzahlungen. Sie hofft nun auf baldige Einigung, „um die vielen Mieterinnen und Mieter in diesem Land besser vor Wohnungslosigkeit zu schützen.“

Darauf hofft auch die Bundestagsabgeordnete Canan Bayram (Grüne). „Zur Abwendung von Gefahren für Leib und Leben sollte nur dann geräumt werden dürfen, wenn eine Ersatzunterkunft nachweislich zur Verfügung steht“, fordert sie weiter. Die Realität sei aber, „dass Menschen in die Obdachlosigkeit geräumt werden. Selbst Familien mit Kindern.“

Unzureichende Datenlage

Der wohnungspolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Daniel Föst, hält von mietrechtlichen Verschärfungen aber wenig. „Weitergehende gesetzliche Regelungen – auch bei Zwangsräumungen – halte ich nicht für notwendig.“ Durch einen Zahlungsausfall werde „das Mieter-Vermieter-Verhältnis langfristig gestört.“ Dieses Vertrauen lasse sich „nur schwer zurückgewinnen“, erklärt er der taz.

Im Januar 2023 publizierte das Deutsche Institut für Menschenrechte das Papier „Zwangsräumungen als Menschenrechtsverletzung“. Zwangsräumungen in Deutschland könnten „beispielsweise gravierende Eingriffe in das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und das Recht auf Schutz der Familie (Art. 6 Abs. 1 GG)“ darstellen, heißt es darin.

Sie könnten zudem „zu Wohnungslosigkeit führen und damit unter anderem zur Verletzung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums einschließlich einer Unterkunft (Art. 1 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 GG).“ Im Bericht wird auch die unzureichende Datenlage in Deutschland kritisiert.

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