Aufarbeitung der Pandemie-Maßnahmen: Corona – die ganze Wahrheit

Ein obskures Online-Portal hat die Veröffentlichung von Pandemie-Protokollen des Robert-Koch-Instituts erzwungen. Was bringt das für die Aufarbeitung?

Demonstranten und Polizisten im Regen vor dem Brandenburger Tor

Demonstranten protestieren im November 2020 gegen Pandemie-Maßnahmen vor dem Brandenburger Tor in Berlin Foto: Sebastian Wells/ostkreuz

Was sind das für Dokumente und warum wurden sie jetzt veröffentlicht?

Es sind über 200 Dokumente, die nun an die Öffentlichkeit gelangt sind: interne Protokolle von Sitzungen des Coronakrisenstabs im Robert-Koch-Institut (RKI) von Januar 2020 bis April 2021. Während der Coronapandemie hatte das Institut, das dem Bundesgesundheitsministerium untersteht, eine zentrale Rolle inne. Beinahe täglich traf sich der Krisenstab. In den Sitzungen wurde über die Bewertung des Risikos für die Bevölkerung, die Wirksamkeit unterschiedlicher Schutzmaßnahmen oder die Verfügbarkeit von Impfstoffen gesprochen.

Die Freigabe der Dokumente hat das Magazin Multipolar auf der Grundlage des Informationsfreiheitsgesetzes erstritten und nun auf seiner Webseite veröffentlicht. Multipolar ist eine 2020 gegründete Online-Plattform, für die im Impressum der Gründer und Mitherausgeber Paul Schreyer verantwortlich zeichnet. Schreyer gilt Politikwissenschaftlern als „vergleichsweise geschickter Verschwörungstheoretiker“, er fiel unter anderem mit verschwörungsideologischen Deutungsmustern der 9/11-Anschläge, einer sehr russlandfreundlichen Lesart des Ukraine-Kriegs seit 2014 und einer 2020 erschienenen Publikation zur Coronapandemie auf. Er veröffentlichte zuvor auch auf einschlägigen Portalen wie „Rubikon“, „NachDenkSeiten“ und KenFM.

Ob es sich bei den von Multipolar veröffentlichten Protokollen um die Originaldokumente handelt, wollte das RKI nicht bestätigen. Multipolar rief andere Medien zur weiteren Recherche in den Dokumenten auf.

Warum sind Teile der Protokolle geschwärzt?

Sowohl Namen als auch ganze Passagen sind vor der Freigabe durch das RKI geschwärzt worden. In einem ebenfalls von Multipolar veröffentlichten 1.000-seitigen Dokument werden die Schwärzungen mit dem Schutz von Mitarbeiter*innen, behördlichen Beratungsprozessen und Sicherheitsbelangen begründet. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gibt an, selbst keine Schwärzungen veranlasst zu haben und kündigte im Deutschlandfunk an, „dass die Protokolle weitestgehend entschwärzt werden sollen“. Multipolar klagt nach eigenen Angaben bereits vor dem Berliner Verwaltungsgericht auf die vollständige Einsicht.

Welche Punkte werden besonders heiß diskutiert und wie sind diese einzuordnen?

Eine umfassende Analyse der über 200 mehrseitigen Protokolle gibt es bislang nicht, einzelne Punkte wurden herausgegriffen. Multipolar hatte im Zuge der Veröffentlichung vor allem die Frage skandalisiert, wer im März 2020 darüber entschied, dass das Risiko durch Covid-19 als „hoch“ eingestuft wird.

Dazu steht im Protokoll vom 16. März 2020: „Am WE wurde eine neue Risikobewertung vorbereitet. Es soll diese Woche hochskaliert werden. Die Risikobewertung wird veröffentlicht, sobald (Name geschwärzt) ein Signal dafür gibt.“ Multipolar zog daraus den Schluss, dass die Höherstufung nicht auf Grundlage einer fachlichen Einschätzung durch das RKI, sondern auf Anweisung einer externen Person aus der Politik erfolgt sei.

Das RKI und auch das Bundesgesundheitsministerium weisen diesen Vorwurf zurück und geben an, hinter der Schwärzung verberge sich der Name eines RKI-Mitarbeiters. Der Epidemiologe Hajo Zeeb sagte der taz, es hätte ihn auch nicht gewundert, „wenn letztlich ein Politiker über die Veröffentlichung entschieden hätte“. Schließlich seien Entscheidungen in der Pandemie von Wissenschaft und Politik gemeinsam getroffen und kommuniziert worden.

Die Höherstufung des Risikos selbst wird ebenfalls in Frage gestellt, gilt aber Wis­sen­schaft­le­r*in­nen wie Zeeb in der damaligen Situation als angemessen.

In einzelnen Medien und sozialen Netzwerken wird skandalisiert, das RKI hätte zu Beginn eines erneuten Lockdowns im Winter 2020 intern diskutiert, dass der Lockdown gefährlicher sei als die Pandemie selbst. Tatsächlich bezieht sich die dabei zitierte Passage (Protokoll vom 16. Dezember 2020: „Konsequenzen des Lockdowns haben zum Teil schwerere Konsequenzen als COVID selbst.“) auf die Lage in Afrika.

Weitere aus den Protokollen herausgegriffene Aussagen betreffen bereits bekannte und schon während der Pandemie geführte Diskussionen – etwa um die wissenschaftliche Grundlage für die Empfehlung von FFP2-Masken und die geringere Wirksamkeit des Impfstoffs von Astra Zeneca im Vergleich zu mRNA-Impfstoffen.

Wie sind die politischen Reaktionen auf die Veröffentlichung?

Sehr schnell forderten AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) die vollständige Freigabe der Protokolle sowie die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses, um die Rolle des RKI aufzuklären. Die FDP schloss sich den Forderungen nach einer Aufarbeitung an, Generalsekretär Bijan Djir-Sarai sprach sich für die Einsetzung einer Enquete-Kommission des Bundestags aus. Diese sei dringend notwendig, um „die begangenen Fehler klar zu benennen und künftig zu vermeiden“. Auch FDP-Chef Christian Lindner bezeichnet eine Enquete-Kommission als „das Mittel der Wahl“ zur Aufarbeitung.

Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann verteidigten in Reaktion auf die Veröffentlichung die staatlichen Auflagen in der Coronapandemie. Die Maßnahmen hätten sehr vielen Menschen das Leben gerettet, sagten beide.

Wo stehen wir überhaupt in der Aufarbeitung der Pandemie?

Es gab bereits Initiativen zur wissenschaftlichen Aufarbeitung. Die wohl umfassendste war ein von Bundesregierung und Bundestag eingesetzter Sachverständigenausschuss, der Mitte 2022 seinen Bericht vorlegte. Für aussagekräftige Ergebnisse habe man aber zu wenig Zeit, Ressourcen und Daten gehabt, hieß es aus dem Ausschuss selbst.

Aktuell verweist Karl Lauterbach immer wieder auf den neugegründeten wissenschaftlichen Ex­per­t*in­nen­rat „Gesundheit und Resilienz“ – die ehrenamtlichen Mitglieder sollen Lehren aus der Pandemie ziehen. Das könne nur ein Ansatz der Aufarbeitung sein, „aber es sollte nicht der einzige bleiben“, sagt Epidemiologe Hajo Zeeb.

Was könnte ein Untersuchungsausschuss erreichen?

Ein Untersuchungsausschuss im Bundestag ist mit ähnlichen Befugnissen ausgestattet wie ein Gericht und könnte daher große Transparenz über das Handeln des Staats während der Pandemie herstellen. Er darf Zeugen vorladen und behördliche Akten anfordern. Allerdings setzt sich ein Untersuchungsausschuss ausschließlich aus Abgeordneten zusammen, die Aufarbeitung könnte dort in eine stark politisierte Deutungsschlacht ausarten. Allein schon deshalb ist es unwahrscheinlich, dass sich im Bundestag die nötige Mehrheit von 25 Prozent für die Einsetzung eines solchen Ausschusses findet.

In der Ampel gibt es mehr Offenheit für eine Enquete-Kommission. In ein solches Gremium schicken die Fraktionen jeweils zur Hälfte Abgeordnete und externe Sachverständige. Das sorgt normalerweise für eine sachlichere Auseinandersetzung – obgleich sich nicht verhindern ließe, dass die AfD auch Schein-Expert*innen aus dem Querdenkerspektrum entsendet.

Allerdings müsste auch eine Enquete-Kommission ihre Arbeit bis zur nächsten Bundestagswahl beenden und bis dahin bleiben nur noch anderthalb Jahre.

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