Jüdische Bewegung Hashomer Hatzair: Zwischen den Stühlen

Hashomer Hatzair ist die älteste jüdische Jugendbewegung. Seit dem 7. Oktober fragen sie sich: Wo bleibt die Solidarität der internationalen Linken?

3 Frauen mit blauen Hemden verschränken die Arme

Drei Mitglieder des deutschen Ablegers von Hashomer Hatzair in ihren charakteristischen blauen Hemden Foto: Nicholas Potter

Man könnte Hashomer Hatzair als eine linke, jüdische Pfadfinderorganisation beschreiben. Nitzan Menagem nickt, mit der Beschreibung wirkt die 37-jährige Vorsitzende der Jugendbewegung in Deutschland größtenteils zufrieden. „Und säkular“, wirft sie ein. Bei der historischen Bezeichnung der Bewegung – „sozialistisch-­zionistisch“ – wirkt sie zurückhaltender.

Menagem wählt ihre Worte vorsichtig, aus nachvollzieh­baren Gründen. Denn nicht jeder will sich mit dieser Aneinanderreihung von Adjektiven anfreunden, manche wollen sie sogar instrumentalisieren. Und seit dem 7. Oktober, dem Massaker der Hamas in Israel, und dem darauf folgenden Krieg in Gaza, ist die Situation für jüdische Organisationen weltweit noch gefährlicher geworden, als sie ohnehin schon war.

Diese Vorsicht weicht aber schnell einem leidenschaftlichen Redefluss, sobald Menagem anfängt, über die Bewegung zu sprechen, in der sie groß geworden ist, die ihre politische Identität bildet. Eine Bewegung, die 1939 von den Nazis verboten und erst 2012 in Deutschland wiederbelebt wurde. Und die Menagem, ursprünglich aus Israel, Stück für Stück im Land der Shoah wieder aufbauen will.

Die Geschichte beginnt 1913, als Hashomer Hatzair, zu Deutsch: „die jungen Wächter“, in Galizien im heutigen Polen gegründet wird. Sie ist damit die älteste jüdische Jugendbewegung weltweit. Die jungen Wächter organisieren ab 1919 die Alija, eine Rückkehr zum historischen Heimatland der Jüdinnen und Juden im Gebiet von Palästina. Dort bauen ihre Mitglieder Kibbuzim auf.

Erster deutscher Ableger in Mannheim

Der erste deutsche Ableger wird erst 1931 in Mannheim gegründet, obwohl die Bewegung zu diesem Zeitpunkt schon in vielen Ländern aktiv ist. Es folgen bundesweit weitere Kenim – so heißen die Ortsgruppen. „Linke Jüdinnen und Juden in Deutschland waren damals zunächst nicht besonders zionistisch, sie wollten eher ihre eigene Gesellschaft ändern, zu der sie sich zugehörig fühlten“, erklärt Menagem.

Das ändert sich mit dem grassierenden Antisemitismus der 1930er Jahre. Nach den Novemberpogromen 1938 arbeiten die deutschen Wächter im Untergrund weiter. Sie helfen Jüdinnen und Juden nach Palästina, zu diesem Zeitpunkt ein britisches Mandatsgebiet, zu fliehen – und retten damit Hunderte Leben. Viele schließen sich dem jüdischen Widerstand gegen die Nazis an.

Zum Beginn des Zweiten Weltkriegs hat Hashomer Hatzair 70.000 Mitglieder in 35 Ländern, vor allem in Osteuropa. Eines der bekanntesten ist Mordechai Anielewicz, ein Anführer des Aufstands im Warschauer Getto. Unzählige Mitglieder werden von den Nazis ermordet. Auch Anielewicz überlebt die Shoah nicht.

Heute ist die Bewegung vor allem in Israel aktiv, wo sie rund 14.000 Mitglieder zählt. Schon deshalb findet Menagem den Begriff Zionismus – die Bestrebung nach einem jüdischen Nationalstaat – eher überholt. „Denn Israel existiert ja schon. Der Zionismus war die Bewegung, Israel überhaupt erst mal zu schaffen.“ Bei der Staatsgründung 1948 spielt die Arbeiterbewegung, zu der Hashomer Hatzair zählt, eine wichtige Rolle. Ihre roten Flaggen und blauen Hemden sind seit eh und je fester Bestandteil der 1.-Mai-Demos in Israel. Im vergangenen Jahr schloss sich die Jugendorganisation den Protesten gegen Netanjahus Justiz­reform an.

Der zweite große Schock

Die israelische Arbeiterbewegung steckt in Menagems DNA: Ihre Eltern lernen sich als Jugendliche bei Hashomer Hatzair kennen, Menagem tritt der Organisation mit neun bei. „Das war ein paar Monate vor der Ermordung Rabins“, sagt sie in Bezug auf das Attentat auf den damaligen Premierminister 1995, verübt von einem rechtsextremen, nationalreligiösen Siedler. Ein Schock geht damals durch die israelische Friedensbewegung. Ein Schock, der bis heute anhält. „Die israelische Linke hat sich seit dem Attentat nie vollständig erholt.“

Am 7. Oktober 2023 dann der zweite große Schock: Die islamistische Terrorgruppe Hamas bricht durch den Grenzzaun zwischen Gaza und Israel und wütet in den Kibbuzim im Süden des Landes. Sie ermordet mehr als 1.100 Menschen, größtenteils Zivilist*innen, verschleppt über 250 nach Gaza, vergewaltigt systemisch israelische Frauen. Der Angriff trifft vor allem die friedensbewegte Kibbuzbewegung, auch Kibbuzim von Hashomer Hatzair werden überfallen: In Nir Oz wird ein Viertel der 400 Kibbuzniks entweder getötet, verschleppt oder verletzt. „Das sind unsere Menschen, die am 7. Oktober ermordet und entführt wurden“, sagt Menagem, „Friedensaktivist*innen, So­zia­lis­t*innen“.

Doch die Solidarität der internationalen Linken, in deren Tradition Menagem sich eigentlich sieht, bleibt aus. Sie wirkt empört: „Die Hamas ist keine linke Organisation, sie ist keine Widerstandsbewegung, sie ist eine mörderische Terrororganisation“, sagt sie. „Wir fühlen uns im Stich gelassen. Aber die internationale Linke hat auch die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen im Stich gelassen, die unter der Herrschaft der Hamas leiden.“

Seit 2012 wieder in Deutschland aktiv

Eigentlich war der Wiederaufbau von Hashomer Hatzair Deutschland bis zum 7. Oktober auf einem guten Weg. Nach der Shoah entschied sich die Organisation bewusst gegen eine Neugründung in Deutschland – bis 2012. Menagem übernimmt 2020 das Ruder, mittlerweile gibt es rund 300 Mitglieder, zumindest auf dem Papier. Sie bieten queere, gendersensible Hebräischkurse an, organisieren Camps zu jüdischen Festen. Sie sind der einzige jüdische Verband im Berliner Landesjugendring seit dessen Gründung 1949.

Für ein Geschichtsprojekt gewannen sie im Januar den Shimon-Peres-Preis des Auswärtigen Amts: Zum zehnjährigen Jubiläum der Wiedergründung reiste eine Delegation nach Israel, um in Archiven die Schicksale der früheren Mitglieder zu recherchieren. So fanden sie heraus, dass mindestens sieben von ihnen Teil der Herbert-Baum-Gruppe waren, einer jüdisch-kommunistischen Widerstandsgruppe gegen die Nazis. Sie erfuhren auch von einer Jugendkommune in Berlin.

Doch der Schwarze Shabbat, wie der 7. Oktober in Israel genannt wird, hat Hashomer Hatzair auch in Deutschland nicht nur traumatisiert, er führt zu Ausschlüssen und Anfeindungen. In einem Instagram-Beitrag vom Februar berichten sie, dass sie aus einem nicht näher benannten „progressiven Raum“ in einer großen deutschen Stadt ausgeladen worden seien, weil sie „nicht genug“ über den Krieg in Nahost gesagt hätten. Die Veranstaltung sollte eigentlich um die früheren Widerstandskämpfer der Bewegung im Nationalsozialismus gehen. Auf eine Anfrage der taz reagierte der Veranstaltungsort nicht.

Solche Vorfälle dämpfen die Aufbruchstimmung. „Das jetzt sollte eigentlich die bislang beste Zeit der Bewegung in Deutschland sein“, beklagt Menagem. „Wir haben so hart darauf hingearbeitet.“ Es sei nicht leicht, eine ausgelöschte Gruppe wiederzubeleben. „Es gibt so viele jüdische Organisationen, die einfach nie zurückgekommen sind.“

Zwischen den Stühlen

Die Aneinanderreihung von Adjektiven macht es nicht leichter. Hashomer Hatzair gilt manchen Linken offenbar als zu „zionistisch“, und manchen jüdischen Organisationen als zu „links“ oder „säkular“. „Wir sitzen zwischen den Stühlen“, räumt Menagem ein.

Besuch bei einer Peula – so heißen Gruppenaktivitäten – zum jüdischen Fest Purim. Da die Suche nach eigenen Räumen noch andauert, findet sie im Krav-Maga-Studio einer jüdischen Sicherheitsfirma im Berliner Westen statt. Die Kulisse ist wenig festlich: In einer Ecke liegen Schusswesten und ein Leichendummy, in der anderen hängt ein Fernseher, der Videos von Schießübungen und Anschlägen auf Dauerschleife zeigt. Das scheint die Anwesenden nicht sonderlich zu interessieren. Für die allermeisten jüdischen Jugendlichen gehören Antiterrortrainings sowieso längst zur traurigen Realität.

Die Kinder und Jugendlichen spielen auf der Matte, einer ist als Harry Potter verkleidet, eine andere als Marienkäfer. An der Wand: eine Regenbogenflagge mit dem Logo von Hashomer Hatzair. Die Jugendorganisation will jüdische Tradition säkular vermitteln. Im Mittelpunkt steht Empowerment: Das Programm gestalten die Jugendlichen selbst. Heute wird Purim mit einem feministischen Fokus gefeiert.

Im Nebenraum packt Leah Käser koschere Haman-Ohren aus, ein traditionelles Gebäck zu Purim. Verstärkung für die Pause. Die 27-jährige Schweizerin arbeitet als Koordinatorin. Mit neun Jahren trat sie dem Zürcher Ableger bei, wo die Jugendorganisation ununterbrochen seit 1935 existiert und deutlich größer ist. Im März besuchten die deutschen Wächter ihre Ge­nos­s*in­nen in Zürich.

„Das Ziel ist, die Bewegung hier wachsen zu lassen“, sagt sie. Dafür brauche die deutsche Organisation eigene Räume für ein Jugendzentrum. „Das wird uns Stabilität geben.“ Auf ihrem Handy zeigt sie Fotos von den Räumen der Züricher Ken – genannt nach Yitzhak Rabin – im Keller der dortigen Jüdischen Gemeinde.

Auch die Vorsitzende Nitzan Menagem hat große Pläne für Hashomer Hatzair Deutschland. Aber auch Angst. „Es ist eine gefährliche Situation für uns gerade“, sagt sie. „Ich habe Sorgen, dass unsere Verbündeten uns ausschließen werden.“ Seit dem 7. Oktober stehen die Stühle weiter auseinander denn je.

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