Die dunkle Geschichte von Plexiglas: Flecken auf der Kunststoffscheibe

Der Künstler Franz Wanner erforscht den Zusammenhang von Plexiglas und Zwangsarbeit. „Mind the Memory Gap“ heißt seine Ausstellung im Kindl.

Eine Plexiglas-Schutzbrille vor grauem Hintergrund

Fundstück mit dunkler Geschichte: Franz Wanner, aus der Text-Bild-Konstellation Musterfolien, 2024 Foto: Franz Wanner

Plexiglas ist ein tolles Material. In der ehemaligen Kindl Brauerei stapelt der Künstler Franz Wanner leere Schauvitrinen aus Plexiglas, wie sie weltweit in Ausstellungshäusern benutzt werden, sorgsam übereinander. Sie wirken harmlos, haben eine ästhetische Qualität als abstrakte Skulpturen. Doch ringsherum entfaltet Wanner eine Recherche zu Geschichte und Verwendung von Plexiglas, die in die NS-Zeit zurückreicht und die das Material in ganz neuem Licht erscheinen lässt.

Ausgangspunkt ist eine unauffällig wirkende Schutzbrille aus Plexiglas. Wanner stieß auf sie als Fundstück von Ausgrabungsarbeiten auf dem Gelände des Konzentrationslagers Sachsenhausen bei Berlin. Vermutet wird, dass sie ein Zwangsarbeiter in der Rüstungsproduktion im weitverzweigten Lagersystem des nationalsozialistischen Deutschlands trug. Ein Foto der Brille befindet sich am Eingang der Ausstellung.

Plexiglas selbst wurde 1933 von der Darmstädter Firma Röhm & Haas patentiert. Das leichte, aber stabile und zudem transparente Material wurde vor allem im Flugzeugbau eingesetzt. Auch dort war in den 1930er und 1940er Jahren Zwangsarbeit üblich.

Wanner suchte für seine Recherche Orte auf, in denen zwischen 1933 und 1945 Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen untergebracht waren, in denen sie starben, in denen sie auch die Rüstungsproduktion am Laufen halten mussten, die den Zweiten Weltkrieg Schuss um Schuss, Tag um Tag verlängerte. In kurzen Filmen zeigt er die Reste von Baracken, von Kellern und Bunkeranlagen.

Geschichte der Orte

Und er dokumentiert die Folgegeschichte dieser Orte. Ein Komplex, in dem Zwangs­ar­bei­te­r*in­nen eingesetzt wurden, ist heute der Ludwig Bölkow Campus in Taufkirchen bei München. Das nach dem Entwickler des Jagdbombers Messerschmidt Me 262 benannte Gelände soll der Entwicklung von Innovationen für die Luft- und Raumfahrt dienen. Namhafte Unternehmen wie Airbus, ein Fraunhofer-Institut und auch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt haben sich dort angesiedelt.

„Mind the Memory Gap“: Franz Wanner, Kindl – Zentrum für zeitgenössische Kunst, bis 14. Juli

Ein Hinweis auf die dunkle Geschichte fehlt auf der sehr zukunftsoptimistischen Website des Campus aber. Eine Auseinandersetzung mit dem Namensgeber des Campus, einer wichtigen Figur der NS-Rüstungsbranche, ebenso.

Da sind manche Firmen inzwischen weiter. Mehrere Regalmeter Literatur zur Rolle von Zwangsarbeit in deutschen Unternehmen wurden in den letzten 20 Jahren produziert – teils tiefgehende Analysen, teils nur Beschwichtigungsversuche.

Wanner stellt im spekulativen Filmprojekt „Mind the Memory Gap“ den fiktiven – aber nicht undenkbaren – Versuch eines Unternehmens vor, den Aspekt Zwangsarbeit in einem Themenpark zur Firmengeschichte zu integrieren. Herausgestellt werden dabei die Zweifel der damaligen Unternehmensführung an der NS-Ideologie und einzelne Hilfsleistungen für Zwangsarbeiter*innen.

Zum Thema Plexiglas kommt Wanner auch wieder zurück. Er zeigt Plexiglasobjekte, die zu Materialforschungszwecken im Weltall angezündet wurden. Auch Schutzschilde der Polizei aus Plexiglas sind zu sehen.

Aussparungen in der Firmenhistorie

Wenn man sich, angeregt durch die Ausstellung, tiefer mit der Firma Röhm & Haas beschäftigt, die das Plexiglas ja erfand, stößt man darauf, dass der amerikanische Zweig der Firma inzwischen zum US-Konzern Dow Chemicals gehört, der deutsche Zweig hingegen zum Private-Equity-Riesen Advent International. Auch Röhm & Haas beutete einst Zwangsarbeiter aus. Das wird bei der offiziellen Firmengeschichte auf der Website des Unternehmens allerdings ausgespart.

Im Bericht zum Geschäftsjahr 1933, der dankenswerterweise im DFG-Viewer zu sehen ist, finden sich hingegen Beispiele für das auch sprachliche Unterwerfen unter die NS-Ideologie. Von der „nationalsozialistischen Erhebung“ wird geschrieben und betont, der deutsche Arbeiter wisse zwischen „raffendem und schaffendem Kapital“ zu unterscheiden. Was darüber wohl die Finanziers des Private Equity Funds denken mögen?

Wie normal Zwangsarbeit im damaligen Alltagsdeutschland war, demonstriert Wanner mit Aufnahmen eines Filmamateurs. Der wollte 1943 lediglich Frau und Kind beim Spaziergang durch Berlin-Lichtenberg zeigen, doch im Hintergrund huschen Zwangsarbeiterinnen durchs Bild.

Man hat viel gewusst und viel gesehen, auch damals. Und Plexiglas wird für alle, die diese Ausstellung besuchen, nie mehr nur das so hübsch transparente Material sein. Es enthält Einschlüsse, die von Tod, Leid und Ausbeutung erzählen. Mind the Gap, auch beim Erinnern.

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