Argentinien unter Javier Milei: Staatsfeind im Amt

Der libertäre Präsident Argentiniens Javier Milei ist mit einem wirtschaftlichen Schockprogramm angetreten. Wie erfolgreich ist diese Politik?

Portrait von Javier Milei

Noch glauben die Menschen in Argentinien an ihn: Javier Milei im Februar Foto: Yara Nardi/reuters

BUENOS AIRES taz | Javier Milei spart nicht mit Superlativen: „Wir sind dabei, die größte Haushaltsanpassung in der Geschichte der Menschheit vorzunehmen“, sagte der argentinische Präsident Anfang April. Oberstes Ziel des 53-Jährigen ist die schwarze Null im Staatshaushalt, und wenn es gut läuft, sogar einen Überschuss zu erzielen. Das Defizit im argentinischen Haushalt ist für Milei die Ursache, die Inflation die Konsequenz. 2023 stieg sie im dauerkriselnden Argentinien auf 211 Prozent, den höchsten Jahreswert seit 1990.

Als studierter Wirtschaftswissenschaftler sollte Milei wissen, wovon er spricht. Er ist kein Liberaler, sondern ein Libertärer, für den der Staat eine kriminelle Vereinigung ist. Bevor er vor zwei Jahren in die Politik ging, tingelte er als Ökonom durch alle Talkshows, die ihn einluden. Es waren viele. Milei ist schlagfertig und in seinen Abrechnungen gnadenlos. Seine stets aggressiven bis cholerischen Auftritte versprachen beim trockenen Thema Wirtschaft beste Unterhaltung und damit Quote.

„Ich bin der erste Präsident, der die Wahl mit der Ankündigung eines Schockprogramms gewonnen hat“, sagte Milei im November 2023 nach seinem Triumph in der Stichwahl mit 56 Prozent der gültigen Stimmen. Als Erstes wertete er den Peso um 50 Prozent ab, was sofort alles Importierte verteuerte und einen Inflationsschub auslöste. Es folgten die Streichung aller öffentlichen Investitionen und Infrastrukturprojekte und eine Entlassungswelle in Ministerien und staatlichen Einrichtungen. Der Präsident hatte einen 15-prozentigen Stellenabbau gefordert.

All dies treibt die bereits stagnierende Wirtschaft in die von der Regierung gewünschte Rezession: sinkende Wirtschaftsleistung plus weniger Konsum gleich sinkende Nachfrage und sinkende Preise, so die Gleichung. Das Ergebnis soll ein spürbarer Rückgang der Inflation sein. Bis jetzt scheint diese Rechnung aufzugehen. Im Januar fiel die monatliche Inflationsrate auf 20,6 Prozent, im Februar auf 13,2 Prozent und für März wird eine Rate von 12 Prozent erwartet.

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Noch funktioniert Mileis Kurs

„Die Mehrheit der Gesellschaft hat ein enormes Bedürfnis zu glauben, dass die Politik von Milei funktioniert“, sagt Lucas Romero vom Meinungsforschungsinstitut Synopsis in Buenos Aires. Die Unterstützung für Milei ist ungebrochen. „Von 100 Befragten, die bei der Stichwahl im November für Milei gestimmt haben, sind bisher 97 bei ihrer Wahlentscheidung geblieben“, sagt Romero. Und mehr noch: „Bei der Stichwahl erhielt Milei 43 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten. Wenn man die aktuellen Umfragewerte in Stimmen umrechnet, hätte er heute noch mehr Stimmen als damals.“

Noch kann Milei das Glaubensbedürfnis der Bevölkerung und das Fehlen einer politischen Alternative für sich nutzen. „Die entscheidende Frage ist, wie lange. Wie viel Leid werden die Menschen ertragen, bevor sie sich durch Ergebnisse belohnt fühlen? Oder reißt vorher ihre Geduld?“, sagt Romero.

In einer Wechselstube in Buenos Aires ist der Andrang groß. Es ist Monatsanfang. „Jeder braucht Pesos, um seine Rechnungen zu bezahlen“, sagt eine Frau mit einer Nummer in der Hand, die ihr zeigt, wann sie eine der fünf Kabinen betreten kann. „Niemand kauft Dollar, alle verkaufen“, sagt die Frau. Nach langer Zeit ist der illegale Wechselkurs unter die 1.000-Peso-Marke gefallen. Für einen US-Dollar bekommt man derzeit 955 Pesos.

In der Western-Union-Filiale wird ohne Ausweis und Quittung Geld gewechselt. „Wenn Sie nicht mit einem Koffer voller Dollarscheine kommen, ist das kein Problem“, sagt der junge Mann hinter dem Schalter, während eine kleine Maschine ratternd die 1.000-Peso-Noten zählt. „Wir befinden uns in einer Grauzone, offiziell illegal, inoffiziell toleriert“, sagt er und bündelt die Scheine mit einem Gummiband.

Die Mehrheit ist arm

Seit die Regierung im Dezember 2001 die Spareinlagen der Bevölkerung einfror und Kon­ten­in­ha­be­r*in­nen nur noch 250 Peso – damals 250 Dollar – pro Woche abheben durften, ist das Vertrauen gegenüber den Banken und der Finanzpolitik der Regierung nachhaltig erschüttert. Ende 2023 besaßen die Ar­gen­ti­nie­r*in­nen rund 280 Milliarden Dollar außerhalb des lokalen Finanzsystems. Auf ausländischen Konten, in Schließfächern oder einfach unter der Matratze. Die Summe lässt sich regelmäßig aus den Angaben der staatlichen Statistikbehörde errechnen und ist zehnmal höher als die Dollarreserven der argentinischen Zentralbank.

„Die Oberschicht hat keine Geldprobleme, die Mittelschicht holt ihr Erspartes unter der Matratze hervor und die Unterschicht kann froh sein, wenn sie überhaupt eine Matratze hat“, sagt die Frau in der Wechselstube. Letzteres meint sie überhaupt nicht zynisch, die Lage in den ärmeren Viertel ist schlimm. Sie persönlich hat noch Reserven, aber im Freundeskreis geht zunehmend die Angst um. Ihre Nummer leuchtet auf, sie verabschiedet sich, schließt die Kabinentür.

Anfang Januar war die Zahl der Armen auf den höchsten Stand seit 20 Jahren angestiegen. Nach einer Studie der Katholischen Universität in Buenos Aires lebten 57,4 Prozent der 46 Millionen Einwohner Argentiniens unterhalb der Armutsgrenze, wofür in erster Linie Mileis Vorgängerregierungen verantwortlich sind.

Die Armutsgrenze basiert auf dem Wert eines Basiswarenkorbs für eine vierköpfige Familie. Dessen Wert lag im Februar bei 690.900 Pesos. Ein Blick auf die Lohnentwicklung zeigt, wie schnell die Menschen in die Armut abrutschen können: Im Februar erhöhte die Regierung den Mindestlohn von 156.000 Pesos auf 180.000 Pesos und im März auf 208.000 Pesos. Das bedeutet, dass eine vierköpfige Familie im Februar fast vier Mindestlöhne benötigte, um nicht unter die Armutsgrenze zu fallen. Die nächsten Statistiken werden zeigen, für wie viele zusätzliche Arme die Anpassungspolitik von Milei verantwortlich ist.

Die sozialen Folgen sind brutal

Denn als Nächstes stehen der Bevölkerung aufgrund der Kürzung der staatlichen Subventionen Tariferhöhungen für Strom, Gas und Wasser sowie ein Anstieg der Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr im dreistelligen Prozentbereich bevor. Die Kraftstoffpreise haben sich in den letzten Monaten bereits mehr als verdoppelt. Löhne und Renten halten mit diesen Steigerungen nicht Schritt, die Kaufkraft der Einkommen bröckelt weiter. Der Konsum wird weiter zurückgehen.

Die sozialen Folgen sind derart brutal, dass sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) über Mileis Sparpolitik besorgt ist. Argentinien ist mit Abstand der größte Schuldner des IWF. Präsident Milei hat wiederholt erklärt, dass er die üblichen Sparvorgaben des Fonds um ein Vielfaches übertreffen will.

Zwar ist der IWF froh darüber, dass die Regierung die Haushaltskürzungen nicht gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen muss. Allerdings hat die Bevölkerung in den letzten Monaten einen solchen Kaufkraftverlust hinnehmen müssen, dass es jetzt notwendig sei, „die Qualität der Anpassung zu verbessern, nicht die Quantität“, wie Ende März der IWF-Direktor für die westliche Hemisphäre, Rodrigo Valdés, sagte. Was den IWF-Funktionär umtreibt, ist die Furcht vor einem sozialen Aufstand gegen den Präsidenten, gepaart mit einer Weigerung, die Schulden zu tilgen.

„Ich bezweifle, dass Milei bis zum Ende seiner Amtszeit regieren wird“, sagt der Politikwissenschaftler Martín D’Alessandro. Milei ist ein Minderheitenpräsident. Er verfügt nur über 10 Prozent der Sitze im Abgeordnetenhaus und 15 Prozent der Sitze im Senat. Dennoch verfolgt er eine konfrontative Strategie gegenüber dem Kongress.

Keine libertäre Gesellschaft

„In den letzten 25 Jahren haben alle lateinamerikanischen Minderheitspräsidenten, die mit dem jeweiligen Kongress aneinandergeraten sind, ihre Amtszeit nicht beendet“, so D’Alessandro, und: „Die argentinische Gesellschaft hat sich nicht in eine libertäre Gesellschaft verwandelt.“

Kaum jemand nehme Mileis ideologischen Horizont ernst. „Das wirklich mächtige wirtschaftliche und politische Establishment sagt: ‚Okay, mal sehen. Vielleicht haben wir Glück und er bringt die Dinge in Ordnung.‘ Aber sie glauben nicht, dass das der richtige Weg ist.“ Milei sei unberechenbar, cholerisch, intolerant und verbreite unter seinen Mitarbeitern Angst.

„Heute hat Milei 50 Prozent Zustimmung für seine Politik. Was passiert, wenn er nur noch 20 Prozent hat?“, fragt D’Alessandro. Milei ist ein Rechtspopulist, so wie die weiterhin einflussreiche ehemalige Präsidentin Cristina Kirchner eine Linkspopulistin ist. „Was mich beunruhigt, ist die Vorstellung, dass sich zwei radikalisierte Pole herausbilden, die weder die Werte der Verfassung, die Gewaltenteilung noch die Umgangsformen der Demokratie respektieren.“

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