Ein Jahr Krieg in Sudan: Khartum lebt in unseren Herzen

Unsere Autorin schreibt darüber, dass Sudans Machthaber ihre Heimatstadt zerstört haben. Doch sie gibt die Hoffnung nicht auf.

Frauen zeigen das Victory-Zeichen

Die sudanesische Journalistin Lujain Alsedeg lebt heute im Kairoer Exil Foto: privat

Die englische Originalfassung dieses für die taz verfassten Textes lesen Sie hier

Vor einem Jahr, nach elf Tagen in der Kampfzone, verließ ich meine Stadt. Seitdem haben Sudans Streitkräfte (SAF) und die paramilitärischen Rapid Support Forces (RSF) ihren brutalen Krieg fortgesetzt und Khartum zerstört.

Vor dem Krieg war Khartum meine geliebte Heimat, wo mein Vater begraben liegt und die meisten meiner Verwandten leben. Wo sich alles befand, was wir als Familie besaßen, und trotz der schwierigen politischen und ökonomischen Umstände wankte unser kollektiver Glauben an Khartums Sicherheit nie. Denn in Sudan leben, hieß, die komplexe Realität zu verstehen, wie Warlords sich um die Macht in Khartum und um die Ressourcen außerhalb von Khartum bekriegen. Die Hauptstadt wurde als das zivilisierte Gesicht des Landes behandelt, und um das Gesicht zu wahren, mussten die Konflikte anderswo ausgetragen werden.

„Anderswo“ hieß während meiner Schulzeit: Darfur und Südsudan. Ich habe vage Erinnerungen an Berichte von Rebellengruppen, die dort gegen die Regierung kämpften. Lokale Nachrichten entfremdeten Süd- und Westsudanesen vom Rest des Landes und stellten sie als Wilde und Diebe dar.

Dieses Narrativ hat koloniale Ursprünge, als britische und türkische Autoritäten den Tribalismus und den Rassismus förderten, indem sie Nordsudanesen mit Wohlstand und Status bevorzugten. Daraus entstand ein von Konflikten zerrissenes Land mit einem riesigen Gefälle zwischen den Regionen, was Entwicklung, Zugang zu Ressourcen und Bildung angeht.

Khartums historische Gleichgültigkeit

Schon vor den jüngsten Konflikten wurde Khartums Status als zivilisierte Oase in Sudan auf die Probe gestellt. Ich ging noch zur Schule, als der Führer der in Südsudan kämpfenden SPLA (Sudan People's Liberation Army), John Garang, in einem Hubschrauberabsturz getötet wurde, wenige Monate nachdem er 2005 das Friedensabkommen von Naivasha unterschrieben hatte, das Südsudan den Weg zur Unabhängigkeit ebnete. Nach seinem Tod gingen Nord- und Südsudanesen in Khartum aufeinander los, 36 Menschen wurden getötet.

Der Schock von Garangs Tod spaltete die Hauptstadt zwischen Süd und Nord – eine Spaltung, die in Südsudan bereits bestand, aber in der Hauptstadt noch von sozioökonomischen Ungleichheiten überlagert war.

Ich habe eine andere Erinnerung an die Gewalt nach John Garangs Tod als der Rest meiner Familie und die meisten Menschen in meiner Gemeinschaft, weil meine Schule eine der wenigen Institutionen Sudans war, die Zusammenleben zwischen Muslimen und Christen in Khartum förderte. Zwar war sie als koloniale Missionsschule entstanden, aber sudanesische Lehrer hatten Sister’s School in einen Freiraum ohne Diskriminierung verwandelt, wir wurden auf dem Schulgelände alle gleich behandelt.

Während der Rest des Landes entweder muslimische Schulen für Nordsudanesen oder christliche Schulen für Südsudanesen kannte, bot meine Schule beide Bildungswege an, und als draußen Gewalt ausbrach, trösteten wir einander. Unsere kleine Gemeinschaft aus Schülern und Lehrern war persönlich betroffen, aber der Schock übersetzte sich nie in Gewalt oder Anspannung, wir lebten weiter friedlich zusammen.

Ein weiterer Versuch, den zerbrechlichen Frieden von Khartum zu stören, kam 2008, als die in Darfur kämpfende JEM (Justice and Equality Movement) Omdurman angriff, eine der drei Städte des Großraums Khartum. Über 220 Menschen starben in zwei Tagen Schlacht, bis die JEM ihre Niederlage einsah und sich aus Khartum zurückzog.

Diesmal brauchte die Stadt mehr Zeit, um sich zu erholen, und härtere Strafen wurden verhängt, auch die Todesstrafe. Und dennoch blieb Khartum das Traumziel des sudanesischen Volkes, eine Stadt mit über 6 Millionen Einwohnern, der einzige Ort in Sudan, in den sich zu investieren lohnte.

Es gab auch zivile Versuche, Khartums Gleichgültigkeit gegenüber den Klagen von außerhalb zu stören. 2011 begannen die Menschen, zu Protesten gegen das Bashir-Regime zu mobilisieren, das Sudan seit 1989 regierte. Diese Demonstrationen währten bis 2013 trotz gewaltsamer Repression und flauten dann unter dem Eindruck von Reformversprechen der herrschenden Partei und Regierung ab.

Doch die Versprechen wurden nie eingehalten, und Südsudans Sezession 2011 verstärkte die politischen und ökonomischen Machtkämpfe im Land. Als im Dezember 2018 die Inflation einen Höchststand erreichte, begannen neue Proteste in Al-Damazin, der Hauptstadt des Bundesstaates Blue Nile, und Khartum schloss sich bald an.

Aus Hass wurde Hoffnung

Bis Dezember 2018 war meine Beziehung zu Khartum komplex. Meine Liebe für die Straßen meiner Kindheit vermischte sich mit Hass über zerbrochene Träume und bedrückende Lebensumstände.

Während meine Schultage mich vor direkten Erfahrungen von Ungerechtigkeit bewahrt hatten, kam ich an der Universität mit den Erfahrungen meiner Kommilitonen aus dem ganzen Land in Berührung. Ich hörte ihre Geschichten vom Leben in Flüchtlingslagern und Kampfgebieten. Ich schloss mich den Protesten gegen den Zentralstaat an, obwohl ich als in Khartum Aufgewachsene von diesem Staat profitiert hatte. Ich konnte sehen, wie dieser Staat dem Rest Sudans schadete und wie die Ressourcen des Landes an einige Wenige mit Macht und Einfluss verschwendet wurden.

Und aus dem Hass wurde Hoffnung. Aus der Teilnahme an Protesten entstand in mir ein Verantwortungsgefühl. Ich konnte plötzlich Frust und Wut in Taten kanalisieren.

Als die Massensitzstreiks von April 2019 zum Sturz der Bashir-Diktatur führten, bedeutete die Teilnahme an den Protesten, Khartum in Besitz zu nehmen. Unsere Straßen waren nun gefüllt mit dem Bewusstsein, an einer glorreichen Revolution teilzunehmen, wo Hunderttausende von Menschen im Angesicht eines brutalen Regimes friedlich blieben bis zu ihrem letzten Atemzug.

Ich gehörte zu einer Stadt, die nicht mehr gleichgültig war, die sich ihrer Privilegien bewusst wurde und daran aktiv etwas ändern wollte. Und zum ersten Mal war ich stolz auf meine Stadt.

Auch der Putsch von 2021 erschütterte den Stolz nicht. Wir wussten, dass es nicht einfach war, das Land zu verändern, und wir gingen erneut auf die Straße, diesmal mit Mobilisierung auf Nachbarschaftsebene und Schaffung von Basisstrukturen, die die korrupte Militärherrschaft und ihre Komplizen in den politischen Parteien ersetzen könnten.

Stillstand hinter den Kämpfen

Wir waren bereit zum langen Kampf, mit friedlichen Mitteln wie ziviler Ungehorsam und wöchentlichen Demonstrationen. Aber trotz der gewaltsamen Repression mit über 100 Getöteten gelang es dem De-facto-Führer nicht, eine funktionierende Regierung zu bilden. Niemand obsiegte im Kampf zwischen den Menschen auf der Straße und den Menschen an der Macht, und das Land kam scheinbar zum Stillstand.

Unter diesem scheinbaren Stillstand köchelten Spannungen zwischen SAF und RSF. Sie hatten zwar 2021 gemeinsam geputscht, aber die Führer dieser beiden Streitkräfte waren sich uneins über das bisschen Macht, das es in Sudan noch gab.

Am 15. April 2023 war ich Zeugin, wie Khartum zum Schlachtfeld wurde und wie im Angesicht von Gewalt und schweren Waffen unsere Erfahrungen und Mittel des friedlichen Widerstandes nichts mehr nützten.

Das Einzige, was wir tun konnten, war, zu gehen.

Seitdem haben beide Kriegsparteien in Khartum den Sieg über die andere ausgerufen, wobei es in Wirklichkeit nichts mehr zu siegen gab. Die Zerstörung hat nichts ausgespart, physisch, ökonomisch, sozial, kulturell.

Was, wenn der Krieg vorbei ist?

Das Einzige, was nicht zerstört wurde, war unser Glaube, den wir in unseren Koffern mitnahmen, als wir gingen: der Glaube, dass es einen Weg zurück gibt.

Heute ist der Krieg in meiner Stadt ein Jahr alt. Unser Haus in Khartum ist zerstört und geplündert worden. Unsere angemietete Wohnung in Kairo hat sich nie wie zu Hause angefühlt. Wir sprechen immer noch jeden Tag darüber, was wir machen, wenn der Krieg vorbei ist.

Wir streiten darüber, woran wir erkennen, wenn der Krieg vorbei ist: Es gibt in Sudan keine Autorität mehr, der man vertrauen kann, es gibt selbst bei einem Ende der Kämpfe keine Garantie, dass der Krieg nicht erneut ausbrechen kann, unter altem oder neuen Gesicht.

Der Anführer der paramilitärischen RSF hat gesagt: „Wer nicht kämpft, hat keine Haltung.“ Der Anführer der Streitkräfte SAF hat gesagt, dass nur Menschen mit „Resilienz“ regieren können und damit angedeutet, dass, wer gegangen ist oder sich nicht auf eine Seite geschlagen hat, in Zukunft ausgeschlossen sein wird. Sie versuchen, unseren Traum von einer Rückkehr zu zerschlagen.

Aber ich glaube noch an einen Weg zurück. Er wird nicht mit einer großen Friedensverkündung kommen oder einer großen Geste einer Kriegspartei. Ich warte einfach. Auf eine Chance für normale Menschen, in Frieden zu existieren, ohne an der Gewalt teilzunehmen. Eine Chance, unsere Häuser wiederaufzubauen, unsere Stadt. Gäbe es diese Chance, ich würde keine Sekunde zögern.

Aus dem Englischen von Dominic Johnson. Die Originalfassung lesen Sie hier

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.