Konfettiregen

Foto: Nikita Teryoshin

Happy Midlife-Crisis – 45 Jahre taz:Was ist nur aus der taz geworden?

Die taz wollte immer anders sein als andere Zeitungen. Was ist 45 Jahre nach der Gründung aus dem Schwung der Anfangsjahre geworden?

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17.4.2024, 13:34  Uhr

taz: Liebe Kolleg*innen, im April 1979 gründeten ein paar Idealisten eine Zeitung, die anders sein wollte als die anderen. Auf diese Gründung beziehen wir uns noch heute, wenn wir in der Redaktion manchmal kritisch behaupten: „Dafür ist die taz nicht gegründet worden!“ Wofür ist die taz denn gegründet worden?

Lukas Wallraff: Die taz soll ein Stachel im Fleisch der Gesellschaft sein, sie sollte fantasievoll sein – und wenn sie überzeugt von etwas ist, dann sollte sie das auch radikaler als andere vertreten.

Barbara Dribbusch: Die taz wollte damals der Subkultur eine Stimme geben, stilistisch wie inhaltlich. Und es war eine Reaktion auf die damals sehr dominante Springer-Presse. Die Überschriften und Kommentare der taz waren damals berühmt, noch mehr als heute.

Erik Peter: Die taz will der Gegenöffentlichkeit eine Stimme geben. Mit anarchistischem Impetus.

Adefunmi Olanigan: Ich bin ja am kürzesten von euch allen dabei, erst 18 Monate. Ich habe nicht den Vergleich mit der Gründungszeit. Ich glaube aber, die alten Fronten – zum Beispiel gegen den Springer-Konzern – die sind nicht mehr so relevant. Für mich bekommen hier Menschen eine Stimme, die anderswo vielleicht nicht sichtbar sind. Feministische Stimmen, zum Beispiel.

Seit damals hat sich politisch viel bewegt: Deutschland ist aus der Atomenergie ausgestiegen, das Springer-Hochhaus steht, auch dank der taz, heute in der Rudi-Dutschke-Straße, Cannabis wurde legalisiert: Wofür braucht es uns eigentlich noch?

Lukas: Also, der taz Panter FC müsste schon noch in die erste Liga der Medienmannschaften aufsteigen. (allgemeine Heiterkeit) Im Ernst, die Erfolgsliste ist ja trügerisch. In punkto sozialer Gerechtigkeit etwa sind wir nicht so furchtbar weit gekommen. Die berühmte Schere zwischen Arm und Reich ist ja, im Gegenteil, eher noch weiter auseinander gegangen. Da geht der taz die Arbeit also wohl erstmal nicht aus.

Barbara: Wir haben den Klimawandel, der ist virulent. Wir haben die Globalisierung, die Migration und sehen die weltweit unglaublich ungerechte Verteilung von Lebenschancen und Menschenrechten. Das ist ein Thema, das kann einen antreiben bis ans Lebensende. Es hat sich auch durch die sozialen Medien etwas geändert, weil Menschen, die vorher keine Stimme hatten, sich äußern können. Da sieht man: es ist nichts bewältigt.

Lukas Wallraff

Lukas Wallraff, Seite-1-Redakteur Foto: Nikita Teryoshin

Erik: Es ist eine Imagination, dass wir in einer befriedeten Gesellschaft leben würden. Die Verteilungskämpfe werden rauer. Der Faschismus steht vor der Tür, die Klimakrise ist existenziell, die Frage von Krieg und Frieden ist sehr brennend.

Funmi: Rechte Positionen werden in den Medien gerade sehr viel stärker. Das sind breite talking points geworden. Es braucht starke, harte, radikale linke Positionen, mehr denn je. Wir müssen wieder mehr draufhauen.

Machen wir das?

Funmi: Teilweise zu wenig.

Lukas: Es ist schwieriger geworden durchzudringen. Das hängt sicher auch mit social media zusammen und der Reichweite, die man da erzielen kann, da ist die taz ja teilweise nur ein kleiner Player im Vergleich zu anderen Akteuren. Und in der Redaktion werden natürlich auch viele Themen sehr differenziert diskutiert. Das ist gut. Aber die eine laute Meinung gibt es dann nicht.

Waren die Feinde damals, in den Anfangsjahren der taz, klarer – war die Frage der eigenen Positionierung einfacher?

Erik: Ich glaube die Feinde sind so klar wie früher. Die Antifeministen, die Faschisten, die Firmenbosse. Ob man sie erkennt, ist eine Frage des eigenen Standpunkts, der eigenen Haltung. Und wenn man die Frontlinien als nicht mehr so klar empfindet, dann muss man sich vielleicht kritisch selbst fragen, warum man das so empfindet.

Erik Peter

Erik Peter, Redakteur in der Berlin-Redaktion Foto: Nikita Teryoshin

Du meinst, uns ist der Kompass ein bisschen abhandengekommen?

Erik: Ja, ich glaube schon, dass nicht mehr alle in der taz ein klares linkes Selbstverständnis haben und eher im Bürgerlichen angekommen sind.

Barbara (lacht): Dieses Narrativ kenne ich, seit ich bei der taz angefangen habe, und das vor 30 Jahren. Da hat mir schon ein älterer Kollege gesagt: Also, die jungen Leute, die schreiben ja eigentlich nur noch hier, weil sie mal zu einem Mainstream-Medium wollen. Jeder Artikel eine Bewerbung! Da ist doch gar keine linke Position mehr erkennbar! Und auch in Leserzuschriften hieß und heißt es häufig: Wenn die taz jetzt Mainstream wird, kündige ich aber wirklich mein Abo!

Lukas: Manchen sind wir zu rechts, manchen zu links, das war doch schon immer so. Manchen sind wir zu sehr für die Ukraine, manchen zu wenig. Es kommt darauf an, dass wir authentisch Positionen vertreten, von denen wir überzeugt sind. Die dürfen dem eigenen Milieu auch weh tun.

Erik Peter

Ich glaube schon, dass nicht mehr alle in der taz ein klares linkes Selbstverständnis haben und eher im Bürgerlichen angekommen sind.

Barbara: Ich finde, es ist gerade die Stärke der taz, dass wir hier eine Vielfalt von Meinungen haben. Ich glaube nicht, dass wir dadurch an Bedeutsamkeit einbüßen. Was ich viel problematischer finde, sind Texte, die offensichtlich populistisch-linke Geisteshaltungen bedienen. Die werden natürlich viel geklickt auf taz.de und man will als Autorin auch viele Klicks haben, klar. Aber trotzdem muss man differenzieren, das ist schwieriger.

Schwieriger, und sicher verdienstvoll – aber auch weniger erfolgreich bei dem Versuch, mit einer eigenen Stimme durchzudringen?

Barbara: Nicht unbedingt. Wir dürfen nicht erwartbar werden, sonst sind wir erledigt.

Lukas: Wo ich schon ein Problem sehe: Wir sind zu sehr beschäftigt damit, zu protokollieren,wie sich die Krisen unserer Gegenwart – Kriege, Klimawandel – weiterentwickeln. Und darüber kommt uns die Fantasie abhanden und die Kraft und auch der Platz, eigene Ideen zu pushen.

Also weniger Bericht und dafür mehr Recherche, mehr Meinung?

Erik: Ja, all das. Anstatt nur die aktuellen Krisenverläufe abzubilden, müssten wir uns mehr grundsätzliche Gedanken um Alternativen machen. Wir müssten mehr mit Leuten sprechen, die sich um genau so etwas auch Gedanken machen, statt dieselben Interviewpartner zu haben, die auch die Bild oder der Spiegel haben.

In der Redaktion diskutieren wir auch immer mal wieder über die Frage, ob wir inzwischen zu oft im Regierungsflieger sitzen. Ist uns der Abstand verloren gegangen, gerade weil mit den Grünen eine Partei an der Regierung beteiligt ist, der wir in alter Verbundenheit zugetan sind?

Erik: Ich glaube, es bringt der taz nichts, mit Annalena Baerbock (die grüne Außenministerin, d. Red.) im Regierungsflieger zu sitzen und ich muss auch nicht die 20. Zeitung sein, die Agnes Strack-Zimmermann (FDP-Verteidigungspolitikerin, d. Red.) Platz bietet. Ich will lieber prominent auf einer Seite 3 eine prekär beschäftigte Krankenpflegerin oder eine Hackerin zu Wort kommen lassen.

Barbara: Machen wir doch auch. Geht doch beides.

Lukas: Einspruch zu Erik. Die taz muss schon auch dabei sein, wo Regierungspolitik passiert. Die zahlenden Le­se­r*in­nen erwarten ja auch Kompetenz bei deren Berurteilung von uns. Und dazu gehört, dass man das nicht nur am Fernsehen verfolgt, und dass man Informationen bestenfalls auch vor anderen Medien bekommt.

Erik: Aus meiner Sicht ist die Regierungsberichterstattung überrepräsentiert und es gibt seit Jahren keinen einzigen festen Kollegen mehr, der überregional für soziale Bewegungen zuständig ist. Da kommt die taz her. Aber wir leisten es uns, das links liegen zu lassen.

Brbara Dribbusch

Barbara Dribbusch, Redakteurin in Inlandsressort Foto: Nikita Teryoshin

Funmi: Ich stimme Erik durchaus zu. Ich habe das Gefühl, wir arbeiten in einem konstanten Sparhaushalt. Die Frage, wo wollen wir hin, können wir nur in sehr engen finanziellen und damit personellen Spielräumen beantworten. Und deshalb ist ja gerade die Frage: Wofür nehmen wir das Geld, das wir zur Verfügung haben? Begleiten wir Po­li­ti­ke­r*in­nen – was auch wichtig sein kann – oder wollen wir andere Stellen stärken?

Setzen wir falsche Prioritäten?

Lukas: Es muss ja darum gehen, die machtpolitisch relevanten Entscheidungen kritisch zu verfolgen. Das geht nicht, wenn man ab und zu mal vorbeischaut. Die Leute müssen lang und regelmäßig dort sein, ein Vertrauensverhältnis entwickeln, um auch Information zu bekommen. Das braucht Zeit und Personal.

Aber offenbar haben sich unsere Prioritäten da verschoben und wir haben uns, vielleicht im Zuge einer Professionalisierung, von sozialen Bewegungen entfernt?

Adefunmi Olanigan

Wofür nehmen wir das Geld, das wir zur Verfügung haben? Begleiten wir Po­li­ti­ke­r*in­nen – was auch wichtig sein kann – oder wollen wir andere Stellen stärken?

Barbara: Das finde ich nicht. Ich finde auch nicht, dass sich in der taz so wenig Leute mit sozialen Themen beschäftigen. Ich höre seit 30 Jahren, dass wir mehr Leute brauchen.

Womit wir beim Geld wären. Seit jeher sind die taz-Löhne niedrig, es gibt Mitarbeiter, die direkt auf die Altersarmut zusteuern. Gleichzeitig prangern wir Dumping-Löhne bei Unternehmen an. Wie gehen wir mit dieser Doppelmoral um?

Lukas: Damit ist die taz gegründet worden (alle lachen). Alle, die bei der taz anfangen, wissen das. Es ist nicht vergleichbar mit großen Firmen und DAX-Unternehmen, die große Gewinne machen und wo Manager Millionen bekommen. Hier macht ja niemand großen Profit.

Erik: Nur weil wir hier nicht mehr Geld zur Verfügung haben, können wir nicht aufhören, die Ausbeutungsverhältnisse anderer anzuprangern. Es bleibt ein Widerspruch, aber der ist nicht aufzulösen.

Barbara: Wir sind Akademiker mit dem Gehalt einer examinierten Altenpflegerin ohne Führungsverantwortung. Aber das Problem sind die Kosten. Wohnen in Berlin ist ja viel teurer als früher.

Aber hat die taz nicht auch eine Verantwortung für ihre Leute? Es gibt hier Kollegen jenseits der 70, die es sich nicht leisten können, in Rente zu gehen.

Lukas: Aber das Problem ist doch, wenn du Leuten mehr Geld zahlen willst, musst du Stellen abbauen. Oder bei anderen Projekten kürzen.

Wenig Geld, dafür flache Hierarchien, Autonomie und im Vergleich zu anderen Medienhäusern ein angenehmeres Umfeld auch für Frauen. Ist das der Deal?

Barbara: Ich hab’ immer ein Problem, mit Chefs zu arbeiten. Das ist neben der politischen Ausrichtung auch der Hauptgrund dafür, dass ich schon so lange hier bin. Ich finde immer noch großartig, dass ich so selbstbestimmt arbeiten kann. Es gab hier auch mal Kollegen in Führungsverantwortung, die dachten, sie müssten das anders machen. Aber die sind nicht mehr hier. (Alle lachen)

Erik: Die taz kommt ja aus einer basisdemokratischen Tradition und entwickelt sich immer mehr zu einem normalen Unternehmen. Der Unterschied ist, wir können hier ganz gut unsere Chefs ignorieren. Ich habe eine sehr große Autonomie und es ist mir egal, wer unter mir Chef ist. Da lebt der anarchistische Geist der taz fort und das finde ich schon sehr angenehm.

Nimmst Du das als Volontärin auch so wahr, Funmi?

Funmi: Ich hatte hier von Anfang an auch fast immer das Gefühl von großer Autonomie, obwohl ich eigentlich das niedrigste Glied in der Kette bin. Das fand ich schon immer gut hier. Dieses „Mach das, worauf Du Lust hast und dann kriegen wir das auch zusammen hin“.

Erik: Ich habe auch von Praktikantinnen gehört, dass sie bei anderen Zeitungen zum Beispiel keine Kommentare schreiben durften, erst wenn sie ausgelernt haben. Hier darf ein Praktikant den Seite-1-Kommentar schreiben.

Lukas: Ich finde trotzdem, dass wir aus den ganzen Möglichkeiten der Mitbestimmung derzeit zu wenig machen, insofern als wir zu wenig offen streiten und diskutieren auf den Konferenzen. Das war früher wirklich weitaus mehr der Fall (allseits zustimmendes Nicken). Wir sind zu sehr beschäftigt mit dem Protokollieren der Nachrichtenwelt und dem Abhaken von Themen, die gerade anstehen. Das hat diverse Gründe. Es hängt mit Leuten zusammen, die früher da waren und jetzt weg sind. Dann die Überlastung durch die verschiedenen Kanäle, die wir bedienen müssen: Print, online, social media und wochentaz – die Leute haben schlicht weniger Zeit für Diskussionen.

Barbara: Nicht unterschätzen sollten wir, dass die Konferenzen jetzt hybrid stattfinden. Viele sind im Homeoffice und das hat die Diskussionskultur entscheidend verändert. Früher konnte man mal etwas rausblaffen. Jetzt muss man immer die Hand heben und wenn man drankommt ist das Thema leider schon wieder durch. Man ist jetzt sehr zivilisiert und mit Kritik vorsichtiger.

Ist das nicht auch ein Vorteil, dass nicht mehr so rumgemackert wird?

Adefunmi Olanigan

Adefunmi Olanigan, Volontärin Foto: Nikita Teryoshin

Lukas: Es ist angenehm, dass es jetzt ein besseres Zuhören gibt und auch für stillere KollegInnen die Möglichkeit, zu Wort zu kommen. Aber auch in diesem zivilisierten Stil kann man noch über inhaltliche Fragen diskutieren. Der Raum dafür müsste ausdrücklich geboten werden.

Barbara: Aber wie soll das denn passieren?

Lukas: Man müsste dazu animieren, wenn Streitpunkte offenkundig sind. Ausdrücklich sagen „Lasst uns doch mal zehn Minuten streiten und Argumente austauschen“. Früher sind daraus oft Streitgespräche entstanden, die wir fürs Blatt inszenieren konnten.

Funmi: In kleineren Gesprächsrunden finden Diskussionen ja auch noch statt. Das finde ich auch total wertvoll. Ein ausgeprägtes Mackertum hab’ ich so nicht mitbekommen, ich bin aber auch während Corona hier reingekommen.

Erik: Die höchste Kunst ist vielleicht produktiver Streit ohne Mackertum.

Wir hadern hier in der Redaktion ja gerne mal mit uns, aber die Abonenntinnen sind recht zufrieden, jedenfalls hat das eine Le­se­r*in­nen­be­fra­gung kürzlich gezeigt. Die Abon­nen­t*in­nen sind im Durchschnitt übrigens etwa 64 Jahre alt, eher männlich, eher westdeutsch.

Lukas: Das ist angenehm zu hören, aber auch nicht erstaunlich, das sind die noch zahlenden Leser. Spannender ist ja die Umfrage bei denen, die die taz nicht weiter abonniert haben.

Erik: Die Frage ist, sind wir zufrieden damit, nur noch eine Auflage von 20.000 zu haben (gemeint ist hier nur die werktägliche Print-Auflage, hinzu kommen wochentaz- und digitale Abos sowie rund 40.000 zahlende Online-Leser*innen, d. Red.) und nächstes Jahr die gedruckte Zeitung einstellen zu müssen, weil es sich nicht mehr lohnt, oder wollen wir ein anderes Potential erschließen.

Lukas: Die Renter würden uns schon reichen, da haben wir auch noch längst nicht alles ausgeschöpft.

Funmi: Ich frage mich, ob wir manchmal zu oft an unsere Print­le­se­r*in­nen denken. Wir sind auf so vielen Kanälen unterwegs und online haben wir ja viel, viel mehr Leser*innen. Die sind nochmal eine ganz andere Gruppe.

Die zahlen aber nicht.

Erik: Es gibt mehr Leute, die uns online freiwillig Geld zahlen, wenn auch kleinere Beträge, als Printabonent*innen.

Die Aktionen der Kli­ma­ak­ti­vis­t*in­nen der Letzten Generation, um nur ein Beispiel zu nennen, haben wir sehr zurückhaltend kommentiert. Sind wir mit unseren Le­se­r*in­nen alt geworden, haben wir an Radikalität eingebüßt?

Lukas: Das hat doch nichts mit dem Lebensalter zu tun. Viele Se­nio­r*in­nen fanden die Letzte Generation gut und haben sich sogar mit auf die Straße gesetzt. Aber die Frage war vor allem, ob man die Vorgehensweise richtig und der Sache dienlich findet. Und da gab es hier unterschiedliche Meinungen und beide wurden artikuliert. Und zwar weil die Leute bei uns radikal frei denken und schreiben dürfen. In den 80er Jahren gab es Farbbeutel auf die taz, weil wir angeblich zu wenig solidarisch mit den Hausbesetzern waren.

Barbara: „taz lügt“, stand da auf Häuserwänden.

Lukas: Da gab es hier Hausbesetzer-Ultras in der Redaktion und auch Leute, die nicht so solidarisch mit der Szene waren. Dieser Mythos „früher war die taz radikaler“, das ist wirklich ein Mythos.

Erik: Das glaube ich nicht. Ja, auch früher wurde hart gestritten, aber eher unter einem geteilten linken Anspruch. Das war nicht der Streit zwischen Hausbesetzern und Hausbesitzern, sondern eher die Frage nach Strategien.

Lukas: Das ist doch immer noch so.

Erik: Heute hat die taz hin und wieder einen verkrampften Umgang mit sozialen Bewegungen und ein Abgrenzungsbedürfnis, um zu zeigen, man ist erwachsen geworden und man schämt sich ein bisschen für die eigene Vergangenheit. Wenn heute ernsthaft Texte gegen die Letzte Generation erscheinen, weil deren Protestform angeblich eine Form von Gewalt ist, ich meine – wo kommt denn die taz her, was gab es denn früher für Straßenschlachten!?

Barbara: Deshalb kannst Du ja deine Kommentare schreiben. Das muss ja nicht jeder teilen.

Lukas Wallraff

Dieser Mythos „früher war die taz radikaler“, das ist wirklich ein Mythos.

Erik: Heute gelten Dinge hier in der taz als radikal, bei denen früher selbst der rechteste tazzler nicht einmal mit der Wimper gezuckt hätte.

Also stemmen wir uns rechten Narrativen doch zu wenig entgegen?

Lukas: Wir können doch nicht jede Aktionsform uneingeschränkt unterstützen. Wenn die Zustimmung für eine Klimapolitik sogar eher gesunken ist und es der Sache eher geschadet hat, muss man das natürlich auch schreiben können.

Erik: Ja, Debatten über linke Strategien müssen wir führen.

Was ist denn unsere Strategie, wozu braucht es uns noch?

Lukas: Jeden Tag Denkanstöße liefern, die über andere Medien hinausgehen. Jeden Tag einen Gedanken liefern, der die Leute zum Nachdenken bringt und die Fantasie anregt.

Funmi: Es braucht einen Raum für linke Utopien und um Ungerechtigkeiten aufzuzeigen.

Barbara: Ja, auch um Perspektiven aufzuzeigen, auf die man sonst gar nicht kommen würde, aus einer linken Sichtweise heraus, die es meiner Meinung nach immer noch gibt.

Lukas: Es wäre auch gut, Rechte zum Nachdenken zu bringen. Durchzudringen mit Themen, die auch ein nicht-linkes Publikum erreichen können, wo man was bewegen kann. Aber auch Linke zum Nachdenken bringen, ob ihre Positionen wirklich in jeder Hinsicht richtig sind.

Tatsächlich erreicht die AfD in einigen Landstrichen im Osten Zustimmungswerte von 30 Prozent. Welcher Auftrag erwächst daraus an unsere Berichterstattung?

Barbara: Ich bin der Meinung, wir müssen mehr mit AfD-Wähler*innen reden. Wir können die Rechten nicht ignorieren. Früher ging das vielleicht, jetzt nicht mehr. Ich habe auch einige AfD-Sympathisant*innen im Bekanntenkreis. Ich versuche, ihre Motive zu verstehen, statt ihnen oberlehrerinnenhaft zu begegnen. Aber ich verstehe auch, wenn das nicht jeder Kollege tun will. Ich kann die Position „Ich rede nicht mit Rechten“ durchaus akzeptieren.

Funmi: Die Frage ist ja auch, wer mit Rechten reden kann. Wenn ich über die AfD berichte, merke ich, die Kommentare gegen mich als junge, schwarze Frau sind nochmal doppelt so hart. Das ist auch schlicht eine Sicherheitsfrage, zumal wenn man Demoberichterstattung macht.

Jetzt haben wir uns gut 90 Minuten lang die Sinnfrage gestellt – also, wie viel Krisenempfinden ist da bei euch?

Erik: Ich glaube schon, dass das Selbstverständnis nicht mehr so klar ist, wer wir sind und welche Stimme wir einnehmen wollen. Das heißt aber nicht, dass es die taz nicht mehr braucht. Wir müssen sie nur besser machen.

Barbara Dribbusch

Ich bin der Meinung, wir müssen mehr mit AfD-Wähler*innen reden. Wir können die Rechten nicht ignorieren.

Barbara: Ich finde nicht, dass wir in einer Identitätskrise sind. Die eigene Identität ist ja immer dynamisch.

Lukas: Es gibt viel zu tun. Der Bedarf ist da, der Wille auch, die Mittel sind endlich und ob es eine Krise gibt, entscheidet sich erst, wenn die Printausgabe eingestellt wird.

Funmi: Ich glaube auch, dass wir uns mehr fragen müssen, wen wollen wir ansprechen, welchen Raum wollen wir einnehmen. Wir sind nicht das klassische Nachrichtenmedium, dafür haben wir auch gar nicht die Ressourcen. Wie wollen wir den Online-Raum bespielen, mit welchen Positionen und mit welchen Formaten. Und da steht die taz schon noch vor großen Fragen.

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