Neues Förderkonzept in Hamburg: Plötzlich gut im Lesen

In Hamburg lesen Grundschüler mit der Lehrkraft laut im Chor. Das hilft Risikoschülern, den Anschluss zu haltent. Darum wird das Konzept ausgeweitet.

Drei Kinder sitzen auf einem blauen Sofa mit Büchern in der Hand

Zusammen und laut lernen Kinder lesen viel besser Foto: Sebastian Gollnow/dpa

HAMBURG taz | Was denn da los sei, wurde Birte Priebe kürzlich von Sprachlernberatern der weiterführenden Schulen gefragt. „Die Grundschulkinder können auf einmal besser lesen.“ Die Fortbildung zu einem Training in lautem Lesen an Hamburgs Grundschulen, die Priebe am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung (LI) koordiniert, scheint Früchte zu tragen. Das hat auch Schulsenatorin Ksenija Bekeris (SPD), die bei der Pressekonferenz neben ihr sitzt, von Schulleitern gehört. Darum ist das laute Lesen seit Februar für die meisten Grundschulen verbindlich und wird als Modellprojekt auch in den fünften und sechsten Klassen erprobt.

Die Lesekompetenz ist seit dem letzten bundesweiten Test im „Bildungstrend“ 2021 ein Thema. Fast ein Fünftel der Kinder, 18,8 Prozent, haben demnach in der Grundschule nicht richtig lesen gelernt. Hamburg hatte sich hier im Vergleich zu einem früheren Test von 2016 bereits verbessert und vom Bundestrend abgekoppelt. Allerdings erreichten die immer noch 17,7 Prozent nicht den „Mindeststandard“.

Hier gibt die neue Methode Hoffnung. Vor einer ganzen Klasse laut vorzulesen kann für ein einzelnes Kind, das es nicht gut kann, beschämend sein. Nicht so, wenn die Kinder im Chor lesen, und zwar regelmäßig in einer festen Lesezeit von 20 Minuten an mindestens vier Tagen in der Woche, die sich wie ein „Leseband“ durch den Stundenplan zieht.

Das ist die praktische Idee, die das LI auf seiner Homepage in mehreren Filmen erklärt. Wenn die Schulglocke zur Lesezeit läutet, hat jeder Schüler sein Büchlein vor sich. „Die kleinen Wilden haben schon oft versucht, das große dicke Mammut zu jagen“, liest ein Mädchen vor und zeigt mit dem Finger auf jedes Wort. Die Klasse liest laut mit. Vorn steht die Lehrerin und gibt die Betonung vor.

Das Ohr liest mit

Das Lesen im Chor wurde im Rahmen der Bund-Länder-Initiative „Bildung durch Sprache und Schrift“ (Biss) erprobt und ist eine von mehreren Varianten des lauten Lesens. Die Kinder können auch zu zweit im „Tandem“ lesen oder zu mehreren mit einem „Ich-Du-Wir“-Würfel, der anzeigt, wer an der Reihe ist. Oder sie lesen mit, während sie ein Hörbuch hören.

„Lesen besteht aus einer Reihe von Kompetenzen“, erklärt Eric Vaccaro, Leiter des Referats „Steigerung der Bildungschancen“ in Hamburgs Schulbehörde. Das flüssige Lesen von Wörtern, das für Erwachsene selbstverständlich ist, müssen Kinder erst noch lernen. Dazu müssen sie jeden einzelnen Buchstaben entziffern „Das ist umso schwieriger für Kinder, die es zu Hause nicht leicht haben“, sagt Vaccaro. Wie schwer es ist, könne jeder nachvollziehen, der versucht, einen spiegelverkehrten Text zu entziffern. Doch wenn Kinder ein Wort hören und sprechen, bekommt das Gehirn nicht nur über das Auge, sondern auch über das Ohr Informationen, die das erleichtern.

Die Grundschule Kirchdorf im Stadtteil Wilhelmsburg hat als eine der ersten Schulen das laute Lesen eingeführt. Die Schule habe 2013 gemeinsam mit der benachbarten Stadtteilschule überlegt, wie sie ihren Schülern einen besseren Übergang in die fünfte Klasse ermöglichen könne, berichtet Schulleiter Christian Gronwald im Film. Damals seien die Leseleistungen immer schlechter geworden. Nur ein Drittel der Kinder habe die Hausaufgaben gemacht, die anderen hätten sie nicht verstanden. „Da musste einfach etwas passieren, und da war dieses Leseband eine tolle Idee.“

Das ungewöhnliche Lesetraining Biss, das 2015 als Pilotprojekt an sechs Schulen startete, 2018 auf 20 und 2019 auf 72 Grundschulen ausgeweitet wurde, ist inzwischen so erfolgreich, dass auch die weiterführenden Schulen darauf aufmerksam geworden sind. Schulsenatorin Bekeris hat nun 131 Grundschulen zum 1. Februar verpflichtet. Dabei handelt es sich um alle Schulen mit einem Sozialindex von eins bis drei, das heißt, sie haben sozioökonomisch schwierigere Rahmenbedingungen. Gestützt wird die Entscheidung durch eine Studie des Hamburger Instituts für Bildungsmonitoring und Qualitätsentwicklung (Ifbo), das regelmäßig den Stand des Lernens in Hamburg untersucht.

Erfolgreich und machbar

Bei rund 3.800 Kindern, die von Anfang 2019 bis Ende 2022 in zwei Kohorten am Lesetraining teilnahmen, wurde zudem halbjährlich die Leseflüssigkeit mit dem „Salzburger Lese-Screening“ gemessen. Die Kinder verbesserten ihre anfangs schwachen Werte, sodass sie den Anschluss an den „Normwert“ hielten, wie Ifbo-Abteilungsleiterin Britta Pohlmann erklärt. Und sie erzielten im Test „Leseverständnis“ höhere Lernzuwächse als Kinder anderer Schulen.

„Es gibt sehr erfreuliche Effekte bei der Lesekompetenz“, sagt Pohlmann. Und das, obwohl die Schulen in dieser Zeit wegen Corona schließen mussten. Alle Kinder profitierten vom Training. Besonders große Zuwächse im Leseverständnis seien aber bei Kindern mit „niedrigem sozioökonomischen Status“ zu verzeichnen. Das Training ist erfolgreich, weil es von den Lehrkräften als „machbar“ angesehen wird. Jede Schule erhält 1.000 bis 1.500 Euro Büchergeld und eine Lehrerstunde pro Woche für die Koordination.

Schulsenatorin Bekeris, die sich die Bildungsgerechtigkeit auf die Fahne geschrieben hat, will es nun für eine Pilotgruppe von 17 Brennpunktschulen und einige andere auf die Jahrgangsstufen 5 und 6 der Sekundarschulen ausweiten. Dazu will sie nun prüfen, ob dies in das neue „Startchancen-Programm“ des Bundes aufgenommen werden kann. An einer Stadtteilschule läsen die Sechstklässler bereits ein Fußballbuch und fänden das toll. „Auf freiwilliger Basis können jederzeit weitere Schulen aufgenommen werden“, sagt Bekeris. Es gebe inzwischen sogar Gymnasien, die sich für das Lesetraining interessierten.

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