Prozesse gegen Lieferando in Bremen: Betriebsrat sattelt auf

Bei Lieferando prozessiert Bremens Betriebsrat gegen die Politik des Unternehmens. Lieferando meint, den Betriebsrat darf es nicht geben.

Ein Fahrradfahrer im orangen Lieferando Outfit mit Fahrradhelm und Lieferrucksack fährt auf regennasser Straße über eine Fahrbahn

Viele sind auf den Job existenziell angewiesen: Lieferando-Fahrer bei der Arbeit Foto: Jan Woitas/dpa

BREMEN taz | Eigentlich müsste alles klar sein: Die Beschäftigten bei Lieferando, so sehen es die Arbeitsverträge vor, sind fest und unbefristet angestellt. Kein ganz schlechter Deal für den Job als Rider, als Fahrer also. Der ist für viele Menschen zu haben, die sonst wenig Chancen auf eine Arbeitsstelle haben.

Die Praxis sieht anders aus. 150 Beschäftigte hat das Unternehmen in Bremen, erzählt Betriebsrat Tobias Horoschko bei einer Veranstaltung der Arbeitnehmerkammer Bremen am Montagabend. „Etwa ein Drittel ist fest angestellt. Alle anderen sind in der Probezeit“, sagt er. „Am letzten Tag werden sie dann jeweils rausgeworfen.“

Die wenigsten der Beschäftigten sind Studierende, die sich abends ein paar Euro dazuverdienen wollen, indem sie Essen ausliefern. Der Jobverlust ist für die Beschäftigten existenzbedrohend – auf mehr als eine Art: Etwa 90 Prozent von ihnen sind in Bremen Ausländer, so Horoschko. Viele von ihnen sind auf die Stelle auch angewiesen, um ihren Aufenthaltsstatus nicht zu verlieren.

Aktuell führt der Betriebsrat mehrere Prozesse vor dem Arbeitsgericht Bremen gegen diese generelle Praxis. „Das Gericht“, sagt Horoschko, „ist ohnehin der einzige Ort, wo wir mal Kontakt zu unserem Arbeitgeber haben.“

Arbeitgeber ficht den Betriebsrat an

Während er diese existenziellen Kämpfe führt, ist der Betriebsrat selbst in seiner Existenz bedroht: Der Arbeitgeber bestreitet vor dem Landesarbeitsgericht Hamburg seine Daseinsberechtigung. Einen Bremer Betriebsrat, so die Argumentation, könne es nicht geben, schließlich gebe es ja auch keinen Bremer Lieferando-Betrieb.

Der Konflikt ist ein alter: Bis 2022 hatte Lieferando zwischenzeitlich nur einen Betriebsrat Nord zugelassen. Die sechs Städte Kiel, Hamburg, Bremen, Hannover, Braunschweig und Göttingen wurden als eine Betriebseinheit zusammengefasst.

Man kämpfte in verschiedenen Städten für je eigene Ziele, ohne sich zu sehen, ohne echten Überblick über Neueinstellungen und Kündigungen. Fahrtkosten zwischen den Städten übernahm der Arbeitgeber nicht. „Für uns machte das die Arbeit fast unmöglich“, erzählt Horoschko. Damals setzten sich die Wahlvorstände in den Städten gegen den Widerstand des Unternehmens erst einmal durch: Es wurden einzelne Betriebsräte in den Städten gewählt.

Wann ist ein Betrieb ein Betrieb?

Doch Lieferando definiert nun für sich einfach neue Betriebseinheiten im Norden: Einen Betriebsrat für Hamburg, Kiel und Bremen soll es geben, einen weiteren für Braunschweig und Hannover. In erster Instanz hat das Unternehmen im Januar vor dem Arbeitsgericht Hamburg auch Recht bekommen.

Rechtsanwalt Ralf Salmen vertritt die Lieferando-Beschäftigten und geht mit dem Betriebsrat Bremen aktuell in die zweite Instanz. Für ihn ist es logisch: „In Bremen sind die Restaurants mit dem Essen. In Bremen sind die Fahrer. Und in Bremen sind die Kunden“, sagt der Arbeitsrechtler. „Betriebsstätte ist Bremen. So einfach ist das.“

Ganz so einfach ist das nicht, und ganz so einfach wird Salmen auch die Gerichte in zweiter Instanz nicht überzeugen, das weiß auch er. Die Rechtssprechung von Arbeitsgerichten legt nahe: Damit eine Betriebseinheit als eigenständiger Betriebsteil gilt, muss zumindest eine minimale Leitung vorhanden sein. Und die gibt es nicht in Bremen.

Oder doch? „Die Leitung existiert, sie ist nur nicht vor Ort“, argumentiert Salmen. „Das muss sie aber auch nicht sein“, sagt er und verweist auf ein Urteil zum Homeoffice – es komme darauf an, wo die Leitung sich auswirkt, nicht darauf, wo jemand am Rechner sitzt, heißt es da. Organisatorisch seien Bremen und die anderen Städte durchaus eigene Einheiten für das Unternehmen – mit je eigenen Zielzahlen und Dienstplänen.

Arbeitsschutzgesetze kollidieren mit Plattformökonomie

Was technisch klingt und wie ein speziell gelagerter Sonderfall, betrifft potenziell viele Unternehmen. Beim Geschäftsmodell der sogenannten Plattformökonomie, überall dort also, wo ein Unternehmen in erster Linie eine Vermittlungsplattform zwischen Kunden und Dienstleistern anbietet, fallen viele klassische Strukturen der Arbeitswelt weg. Arbeitsschutzgesetze greifen dann nicht mehr passgenau.

Die EU hat deshalb gerade erst eine Richtlinie zu Arbeitsbedingungen bei Plattformökonomien verabschiedet. Diese soll zum Beispiel helfen, Scheinselbständigkeit zu verhindern – und die Beschäftigten tatsächlich zu Ar­beit­neh­me­r*in­nen machen. Doch für längst nicht alle rechtlichen Probleme und Lücken hat die Richtlinie eine Lösung.

Dass vor Gericht für die Rider in Norddeutschland eine Lösung kommt, das glaubt Arbeitsrechtler Olaf Deinert von der Universität Göttingen nicht: Arbeitsgerichte würden sich vor Neudefinitionen des Betriebsbegriffs scheuen, die Folgen für andere Bereiche ließen sich nur schwer absehen, sagt er am Montagabend vor der Arbeitnehmerkammer. Er plädiert dafür, das gerade erst geänderte Betriebsverfassungsgesetz zu reformieren und an neue Realitäten anzupassen – einen Entwurf dafür hat er mit elf weiteren Au­to­r*in­nen für den DGB verfasst.

Auf ein neues, passgenaues Betriebsverfassungsgesetz können Horoschko und die anderen Rider aber nicht warten. Immerhin: So lange prozessiert wird, so lange kann der Betriebsrat weitermachen.

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