Nach Schraubenzieher-Attacke: Ermittler sehen Tötungsvorsatz

In einem Lokalzug nach Osnabrück wird Moussa L. rassistisch beleidigt und dann brutal attackiert. Hier erzählt der 29-Jährige, wie er sich gewehrt hat.

Ein Zug der Nordwestbahn an einem Gleis in Osnabrück

Im Regionalzug von Oldenburg nach Osnabrück hat der Schwede den Senegalesen Moussa L. angegriffen (Symbolfoto) Foto: Hauke-Christian Dittrich/dpa

SUNDSVALL taz | Nach dem Schraubenzieher-Angriff auf einen Senegalesen in einem Zug nach Osnabrück hat die Staatsanwaltschaft ihre Einschätzung der Tat geändert. Sie ermittelt jetzt wegen versuchter Tötung, nicht mehr wegen gefährlicher Körperverletzung. Die Ermittler kamen zu der schwerwiegenderen Bewertung, nachdem sie Videos von der Tat gesichtet hatten, wie die taz auf Nachfrage erfuhr. Das war auch der Grund, warum der Angreifer zwei Tage nach der Tat doch noch in Untersuchungshaft kam.

Die taz hat mit dem attackierten Mann, dem 29-jährigen Moussa L.*, gesprochen. Körperlich gehe es ihm jeden Tag ein bisschen besser, erzählt er per Videocall. An der Schläfe hat er einen Wundverband, an der rechten Hand auch, die meisten Verbände sind unter der Kleidung verborgen. Moussa L. erzählt, wie er sich gegen die Gewaltattacke verteidigt hat. Und wie er sich Hilfe organisiert hat.

Er kam an diesem Abend von Freunden in Oldenburg. Mit der Nordwestbahn zurück nach Osnabrück: Routine, eine Fahrt wie viele andere zuvor. Bis plötzlich alles anders war. Der erste Satz der Polizeimeldung klang, als seien zwei Menschen in Streit geraten: „Nach vorherigen verbalen Provokationen kam es am Dienstagabend gegen 21:40 Uhr zu einer körperlichen Ausein­andersetzung von zwei Fahrgästen in einem Zug zwischen Bersenbrück und Bramsche.“ Dass ein 31-jähriger Schwede einem 29-jährigen Senegalesen „unter anderem schwere Verletzungen mit einem Schraubenzieher zufügte“, stand dort auch. Und: Zeugen hätten weitere Angriffe verhindert, bis der Zug in Bramsche halten konnte.

Was Moussa L. der dort wartenden Polizei sagte, ist das, was ihn seither beschäftigt: „Wenn ich mich nicht so gut verteidigen könnte, wäre ich jetzt tot.“ Er hat mal Kampfsport gemacht, lange her, noch im Senegal. Aber wichtiger sei, dass er insgesamt trainiert ist, fit und ­reaktionsschnell. Er ist sicher: Jemand mit weniger guten Voraussetzungen hätte keine Chance gegen den Mann gehabt, der mit dem Schraubenzieher auf ihn losging.

Täter ritzte Nazi-Symbole

„Verbale Provokationen“, ja, die gab es. Der taz hatte Oberstaatsanwalt Alexander Retemeyer, Sprecher der Staatsanwaltschaft Osnabrück, vergangenen Freitag gesagt, der Angreifer habe erst Hakenkreuze und SS-Runen in die Rückenlehnen einiger Sitze geritzt und dann den 29-Jährigen beschimpft, er solle zurück in sein Land gehen. Am Montag schrieb Retemeyer über den Schweden: „Zu seiner Motivlage können wir im Augenblick noch nichts sagen.“

Moussa L. erzählt, er habe den Mann bemerkt, der sich im Waggon umherbewegt und immer wieder zu ihm geguckt habe, während er etwas an den Sitzen gemacht habe. „Da hab ich noch gedacht, ja, solche Leute gibt es, einfach nicht beachten.“ Der Mann habe dann irgendwann in der Reihe hinter ihm gesessen und gegen seinen Sitz geschlagen. „Ich hab mich umgedreht und gesagt, er soll aufhören. Er meinte: ‚Ich bin in meinem Land, ich mach, was ich will.‘“ Darüber staunt L. jetzt besonders: „Hinterher hör’ ich einfach: Er ist Schwede. Das ist doch komisch. Gott sei Dank ist er kein Deutscher, aber warum sagt der so was, in einem Land, das nicht seins ist?“

Der Schwede habe auch gesagt: „Ich bin Nazi. Ausländer sollen Deutschland verlassen.“ Moussa L. habe ihm geantwortet: „Du kannst sein, was du willst, das ist dein Recht, aber wo ich sitze, schlägst du nicht auf den Sitz.“ Der Mann habe nicht aufgehört. Irgendwann hätten sie beide voreinander gestanden. Er habe noch gedacht, komisch, normalerweise wenn du so redest, bewegt sich dein ganzer Körper, aber der Mann habe seine Hände die ganze Zeit in den Jackentaschen gehabt. Dann wurde Moussa L. plötzlich klar, warum: Der Mann hat da eine Waffe. Er greift an, er sticht zu, jetzt. Zuerst in den Kopf, glaubt Moussa L. im Nachhinein.

Angegriffener bat Zeugen um Hilfe

Er erzählt, wie er den Angreifer schließlich zu Boden brachte und dort festhielt, aber mit schwindenden Kräften in den Händen – an der einen war ein kürzlich gebrochener Finger noch nicht verheilt, in die andere habe der Angreifer ihn gebissen. „Ich hab dem Zeugen Bescheid gesagt: 'Ich halt’ ihn fest, aber können Sie helfen, die Waffe wegzunehmen?’“

Dass der Zeuge nicht direkt eingegriffen habe, sei normal, er hätte ja selbst auch verletzt werden können. Aber dann, mit dem Angreifer auf dem Boden, habe der Mann geholfen, die Hand festzuhalten, die immer noch den Schraubenzieher hielt. „Ich wusste genau, ohne seine Waffe kann der nichts machen“, sagt Moussa L. über den Angreifer. „Der könnte mich nicht mit der bloßen Hand einfach schlagen, diesen Mut hat er nicht. Wenn jemand eine Waffe benutzt, dann ist das nicht mutig.“

Er erzählt auch, dass er dann, den Täter mit dem Zeugen zusammen im Griff, selbst die Polizei angerufen habe. Eine junge Zeugin habe er zudem gebeten, einen Rettungswagen zu rufen. Mehr Menschen seien in dieser Ecke des Waggons nicht gewesen. Dass seine Helfer quasi seine Hilfe brauchten – Moussa L. versteht das: „Wenn du so was in deinem Leben noch nie gesehen hast, mit so viel Blut, dann ist klar, du kriegst Panik und weiß erst nicht, was du tun sollst“, sagt er.

Täter zunächst auf freiem Fuß

Als der Zug in Bramsche hielt, seien er und der Täter getrennt gewesen, der Zugschaffner sei da gewesen – über die genaue Abfolge zum Schluss sei er nicht mehr sicher. „Ich hatte so viel Blut verloren“, sagt er, „das war überall auf meinen Pullover, auf dem Boden im Zug … Ich weiß nicht, wer das reinigen musste, aber das war viel Arbeit.“

Auch der Täter war verletzt und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Verhaftet wurde er zunächst nicht. In der Polizeimeldung zwei Tage später wirkt es, als sei Fluchtgefahr der Grund dafür gewesen, dass er schließlich doch in Untersuchungshaft kam. Der Schwede lebte nicht mehr unter der angegebenen Osnabrücker Meldeadresse. Nur: Den zusätzlichen Haftgrund brauchte es da schon nicht mehr, denn die Staatsanwaltschaft ermittelte bereits wegen versuchter Tötung, wie Oberstaatsanwalt Retemeyer der taz schriftlich mitteilte.

Dass das Videomaterial aus der Überwachungskamera ausgewertet wird, habe der für den Staatsschutz zuständige Dezernent veranlasst. „Danach stellte sich der Überfall sehr brutal dar“, so Retemeyer. „Wir haben uns deshalb entschlossen, ihn nunmehr nach Vorliegen der Aktenlage als versuchtes Tötungsdelikt einzuordnen.“

Teil einer „extremen“ Szene

Dass dies anfangs anders bewertet wurde, erklärt er damit, dass die Lage „unmittelbar nach der Tat relativ unübersichtlich gewesen“ sei. Moussa L. merkte das daran, dass er und der Täter zunächst beide am Bahnhof auf dem Boden liegen mussten, wie er berichtet. „Die Polizei wusste nicht genau, wer ist der Täter und wer ist das Opfer. Aber der Zeuge hat gleich gesagt, wer der Täter ist, dann hab ich meine Erste Hilfe bekommen“, sagt er.

Auf die Frage, ob der Täter in eine rechtsextreme Szene eingebunden sei, ließ der Oberstaatsanwalt wissen: „Wahrscheinlich ist er seit Längerem in eine extreme Szene verwickelt, deren genaue Typisierung ich aus Gründen der laufenden Ermittlungen nicht mitteilen kann.“

Moussa L. versucht weiter, sich zu erholen, zur Ruhe zu kommen. Seine Wunden werden ambulant versorgt. Aber nach einer Woche, in der es um nichts anderes ging, sagt er: „Ich will diese Geschichte einfach hinter mir haben.“ Er hofft, dass er bald zurück zur Arbeit kann. Das Warten auf den Prozess wird länger dauern. „Mindestens vier Monate“, so lange braucht die Staatsanwaltschaft laut Retemeyer zur Vorbereitung der Anklage gegen den beschuldigten Schweden. Der dürfte ihm zufolge bis dahin in Untersuchungshaft bleiben.

* Zum Schutz des Betroffenen haben wir den Namen geändert. Seine Identität ist der Autorin seit Langem bekannt.

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