Kieler Holstein-Stadion bald erstklassig: Geliebte Bruchbude

Das Stadion von Holstein Kiel ist eine charmante Ansammlung von Provisorien. Nächste Saison wird darin wahrscheinlich Erstligafußball gespielt.

eine Grafik zeigt Teile einer Kassettenfassade, Stahlrohre, Sitzreihen und eine Möwe

Provisorien aus Stahl, Blech und Beton: Das Holstein-Stadion ist ein Patchwork-Ensemble Illustration: Jeong Hwa Min

KIEL taz | Entscheidend ist aufm Platz“, lautet eine alte Fußballerweisheit. Wenn es so einfach wäre, dann wäre alles gut in Kiel. Denn das beste am Holstein-Stadion ist der Rasen. Er ist sattgrün, ein Hybridrasen aus Kunststofffasern und echten Halmen, wie gemacht für dies präzise Vertikalpassspiel, mit dem die Kieler auch an diesem Tag ihren Gegner überfordern. Vor zwei Jahren hat die Deutsche Fußball-Liga (DFL) ihn als „Pitch of the Year“ ausgezeichnet, als besten Rasen der Liga. Der Rasen ist bundesligatauglich, keine Frage.

Mannschaft und Publikum auch: Pass aus dem Mittelfeld in die Spitze, zwei, drei Schritte, Schuss, Tor! Auf der Haupttribüne sind sie schon ein paar Sekunden vorher aufgesprungen. Jetzt klatschen sie im Rhythmus der Tormelodie, wippen in den Knien und schwenken ihre Schals über dem Kopf.

„1:0 für Holstein!“, ruft der Stadionsprecher, seine Stimme überschlägt sich fast. „Kiel!!!“, tönt es aus Tausenden Kehlen. „Unser Torschütze ist Steveeen“ – „Skrzybsky!!!“ „Holstein 1 – Osnabrück!“ – „Nuuull!!!“ „Kiel“ – „Ahoi!!!“ – so schallt es von der Betondecke zurück. Dann setzen sie sich wieder hin. Fast ein bisschen routiniert, das Ganze. Es soll noch drei Mal so zugehen an diesem Sonnabendnachmittag. Am Ende ist Holstein Tabellenführer der zweiten Liga.

Der Aufstieg kann kommen – wenn nur nicht das Stadion wäre. Die Haupttribüne ist das einzige feste Gebäude. 1950 aus Betonrippen gebaut, darüber ein kühn geschwungenes Dach, auch aus Beton. Die Stufen sind schon mehrfach geflickt, bröseln aber immer wieder weg. Drunter befand sich alles, was ein Stadion damals brauchte: Duschen, Umkleiden, Vereinsgaststätte, Büro.

Windhosen fegten das Stadion weg

Alle anderen Tribünen sind Provisorien aus Stahlrohr, zwei so flach wie auf einem Dorfsportplatz. Gerade fliegt der Ball gegen das Dach, zwischen die Werbung vom Gartencenter um die Ecke und einer Firma namens „Kies Beton Krebs“. Klingt ungesund. Drunter ist neulich eine Bodenplatte unter den Fans des FC St. Pauli gebrochen.

Die Besonderheit

Tickets (Stehplatz ab 14 Euro) waren bei Holstein immer gut verfügbar – anders als bei den Handballern des THW, wo sie vererbt werden. Im Falle eines Aufstiegs würde sich das wohl ändern.

Die Zielgruppe

Groundhopper, Fußballromantiker – eigentlich alle, die noch mal den Fußball schmecken wollen, wie er früher war, bevor der Kommerz ihn so im Würgegriff hatte wie heute. Also vor allem Boomer.

Hindernisse auf dem Weg

Verkehrlich keine – das Stadion liegt praktisch direkt an der Stadtautobahn. Und vom Hauptbahnhof verkehren Busse, deren Fahrer lustige Sprüche machen wie: „Wenn ihr nicht von der Tür weggeht, wird das nix mehr zur ersten Halbzeit!“

Die Osttribüne ist mindestens doppelt so hoch, ein Blechkasten, dem nur die Vorderwand fehlt. An den Seiten ist er geschlossen, gegen den Wind. Der ist in Kiel immer ein Thema. Nicht nur weil das Stadion schon zwei Mal von einer Windhose weggefegt wurde. Dazwischen haben britische Fliegerbomben es verwüstet.

Kiel, wie es heute ist, hat der Krieg geformt. Und wie es vorher war im Grunde auch. Vielleicht ist deswegen die Gedenkstele so wichtig. Trutzig steht sie vorn an der Straße, jeder Besucher muss an ihr vorbei. „Unseren Gefallenen zum ehrenden Gedächtnis 1914–1919“ steht auf der einen Seite. Tatsächlich haben bei genauerem Hinsehen drei von ihnen erst 1919 ihr Leben verloren, als der Erste Weltkrieg längst vorbei war.

Auf der anderen Seite geht es um die nächsten toten Soldaten des Vereins: „1939–1945 – 112 Holsteiner gaben ihr Leben für uns“ heißt es dort, als hätten sie sich freiwillig geopfert, für ein nicht näher bestimmtes Kollektiv. Die massige Stele, an beiden Seiten ein eisernes Kreuz, wurde erst 2010 aus einem vergessenen Winkel an diese prominente Stelle gerückt, als solche Ehrenmale anderswo allmählich in Frage gestellt wurden.

Aber es ist eben auch die große Zeit von Holstein Kiel gewesen. „Deutscher Meister 1912“ steht an einer Tribünenrückwand in gelber Schreibschrift auf den Vereinsfarben Blau-Weiß-Rot. 1910 waren sie schon Vizemeister. Daraufhin wurde 1911 das Stadion gebaut, genau an dieser Stelle.

Bayern München statt VfL Osnabrück

Jetzt ist wieder so ein Moment. Zum dritten Mal in sieben Jahren ist für Holstein der Aufstieg in die Erste Fußball-Bundesliga zum Greifen nahe. Noch zwei Siege und ein Unentschieden. Doch schon in der zweiten Liga hatte die DFL die Nutzung des Stadions nur mit Auflagen genehmigt. Die sind für die erste Liga noch strenger – schließlich kommt dann Bayern München und nicht der VfL Osnabrück.

Längst sollte das Stadion weg sein. 2020 wollte ein Investor ein neues hinstellen. Doch erst kam Corona dazwischen, dann explodierten die Baupreise. Nun will die Stadt die neue Arena selbst bauen, mit 25.000 Plätzen. 75 Millionen Euro soll das kosten, gut die Hälfte wollen Stadt und Land bezahlen. Fußball ist schließlich auch ein Wirtschaftsfaktor. Europaweit wird eine Baufirma gesucht, die es schlüsselfertig hinstellt. Frühestens in einem Jahr könnten die Bagger loslegen. Holstein müsste mehrere Jahre auf einer Baustelle spielen, auf der immer an einer Seite eine Lücke klafft.

Bald wird also Schluss sein mit diesem charmanten Sammelsurium aus Buden und Pavillons, das jetzt vor dem Stadion steht: Dem Imbiss in einem rostigen Straßenbahnwaggon, der auch noch „Budenzauber“ heißt. Der VIP-Gastronomie in einem schmutzig-weißen Blechkasten. Dem Toilettencontainer, in dem das Wasser tröpfelt. Dem Labyrinth aus Absperrgittern, von denen niemand recht zu wissen scheint, wer durch darf und wohin der Weg führt … Ein paar Jahre kann man das alles noch erleben, wenn man eine der 15.034 Eintrittskarten ergattert.

Der Fußball ist übrigens auch ziemlich gut. Und die Fans haben Humor. Nach der Pause halten sie Banner hoch mit der Aufschrift: „Oldenburg braucht ein neues Stadion“. Dort dümpelt der VfB in der vierten Liga herum, bekommt von der Stadt aber trotzdem eine schmucke neue Spielstätte spendiert. Man weiß ja nie.

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