Krise sozialer Infrastruktur: Es wird wieder gestreikt

Die Gewerkschaften schöpfen neues Selbstvertrauen und bekommen Zulauf. Dabei geht es im Arbeitskampf längst um mehr als nur um höhere Löhne

BVG-Arbeiter:innen erstreiken erfolgreich bessere Arbeitsbedingungen vor BVG Hauptverwaltung am 29. Februar 2024 Foto: IMAGO / Emmanuele Contini

Arbeitskampf ist wieder in. Selbst als Redakteur für Arbeit ist es dieser Tage gar nicht leicht, den Überblick zu behalten, in welchen Branchen in der Stadt überall gestreikt wird. Gerade haben die Beschäftigten der BVG erfolgreich bessere Arbeitsbedingungen erstritten, da beginnen die Ärz­t:in­nen an der Charité ihren Ausstand.

Andere Arbeitskämpfe dauern wiederum so lange, dass man sie zwischenzeitlich aus den Augen verliert. So legten die Beschäftigten bei Ikea und Metro am Freitag im mittlerweile schon über ein Jahr anhaltenden Tarifstreit im Einzel- und Großhandel die Arbeit nieder.

Die Daten bestätigen den Eindruck: Die Zahl der durch Streiks ausgefallenen Arbeitstage hat sich im vergangenen Jahr verfünffacht. Zugleich verzeichnen viele Gewerkschaften nach jahrzehntelangem Mitgliederschwund zahlreiche Neueintritte. Das weckt Hoffnung.

Die große Frage ist: worauf? Ist die Streikwelle nur eine Reaktion auf die Inflation der letzten Jahre und letztendlich nur eine Fortführung des Klassenkompromisses? Möglich. Aber gleichzeitig steckt im neu gefundenen Selbstbewusstsein von Ar­bei­te­r:in­nen und Gewerkschaften das Potenzial, die Zukunft entscheidend mitzugestalten.

Klassenkompromiss oder politisches Potenzial?

Fangen wir mit einer etwas pessimistischen Sichtweise an: Die jüngsten Tarifabschlüsse mit Lohnsteigerungen von 10, 15 oder gar 37 Prozent – bei den Spielbanken in Brandenburg – klingen beeindruckend, doch sie schmelzen dahin, wenn man sie mit der Steigerung der Verbraucherpreise verrechnet. Tatsächlich sind die Reallöhne 2023 unterm Strich um 0,2 Prozent gesunken. Ein gewerkschaftlicher Siegeszug sieht anders aus.

Was die Zahlen nicht zeigen: Beschäftigte kämpfen nicht nur erfolgreich für höhere Löhne, sondern immer häufiger auch für bessere Arbeitsbedingungen. Mehr Urlaub, längere Wendezeiten an der Endhaltestelle oder weniger unbezahlte Pausen – all das konnten die BVG-Arbeiter:innen in den Verhandlungen über den Manteltarifvertrag herausschlagen.

Dass es nicht nur um mehr Lohn geht, beweist eindrucksvoll auch das Beispiel der Berliner Krankenhausbewegung, die bereits 2021 einen Entlastungstarifvertrag (TV-E) an der Charité und bei Vivantes erstritt. Damit wurde die Personalschlüssel auf den Stationen deutlich verbessert, bei Unterbelegung stehen den Kran­ken­pfle­ge­r:in­nen Freischichten zu. Diesem Vorbild folgten die Beschäftigten des Jüdischen Krankenhauses in Wedding, die im Januar einen solchen Entlastungstarifvertrag erkämpften. Erst Mitte April forderte Verdi das Land Berlin auf, über einen TV-E im Kitabereich zu verhandeln, um so die Betreuungssituation deutlich zu verbessern.

Und hier wird es politisch. Schaut man sich die Branchen an, die am lautesten kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen fordern, wird schnell klar: Die Ursachen liegen nicht darin, dass die jüngeren Generationen nicht mehr so viel arbeiten wollen oder nicht mehr belastbar sind.

Sozialbereich in der Dauerkrise

Vielmehr ist die Forderung nach Entlastung eine Reaktion auf die umfassende Krise der sozialen Infrastruktur, die sich auch in Berlin immer deutlicher abzeichnet. „Keine Erziehung, nur noch Aufbewahrung“ ist mittlerweile sowohl Zustandsbeschreibung des Arbeitsalltags als auch Kampfspruch der Kita-Beschäftigten. In der Pflege sieht es nicht besser aus.

Erst vor zwei Wochen rief eine überforderte Pflegerin die Polizei, weil einfach keine Ablöse für die Nachtschicht erschien. Die Angestellte war die einzige Fachkraft und hatte schon eine Doppelschicht hinter sich. Ob Bildung, Sozialarbeit oder im erweiterten Sinne auch der Transportsektor und der Einzelhandel – überall dreht sich dieselbe Teufelsspirale: Fachkräftemangel, steigende Belastung, Burn-out und in vielen Fällen Flucht aus dem Job.

Fragt man nach den Ursachen, gibt die Politik gern dem demografischen Wandel die Schuld. Die Geburtenrate geht zurück, die Gesellschaft wird immer älter, es kommen weniger Arbeitskräfte nach, als in Rente gehen. Doch wie so oft ist das Problem hausgemacht. Denn der Bevölkerungswandel war schon vor 25 Jahren absehbar, als die Generation, die jetzt den Arbeitsmarkt betritt, geboren wurde.

Es gäbe heute keine Krise der sozialen Infrastruktur, wenn damals vorausschauend gehandelt worden wäre. Das bedeutet vor allem: umfassende Investitionen in Pflege, Bildung und öffentlichen Nahverkehr, attraktive Arbeitsbedingungen, gute Gehälter und dazu eine Personaldecke, die die kommende Welle von Renteneintritten abfangen kann.

Care-Berufe deutlich aufwerten

Wenig überraschend ist das genaue Gegenteil passiert. Als Berlin infolge des Bankenskandals um die Jahrtausendwende unter Rot-Rot sparte, „bis es quietscht“, traf es den Sozialbereich als erstes. Statt neu einzustellen, wurde entlassen, statt die Löhne zu erhöhen, wurden sie gedrückt.

Die Folgen sind gravierend. Nach Jahren der Untätigkeit ist der Weg aus der Krise schwer, langwierig und teuer. Arbeitskräfte fehlen mittlerweile in allen Branchen, die Konkurrenz ist groß. Allein 10 Prozent mehr Lohn oder einer Stunde Arbeit weniger pro Woche lösen keine Bewerbungsflut bei BVG oder der Charité aus.

Der Fachkräftemangel zwingt die Gesellschaft sich mit der Frage zu beschäftigen: Welche Branchen können wir uns leisten zu vernachlässigen? Welche müssen wir erhalten? Die Antwort sollte spätestens seit der Corona-Pandemie klar sein. Notwendig ist eine deutliche Aufwertung aller „systemrelevanten“ Berufe. 30 Stunden die Woche und 3.000 Euro netto im Monat wären ein Anfang. Warum sollte auch ein „Primary Content Strategy Scout“ eines Tech-Start-ups, das nach einem Jahr sowieso pleite geht, besser bezahlt werden als eine Krankenpflegerin?

Rückfall in alte Fehler

Doch für eine solche Aufwertung fehlt, heute wie schon vor 20 Jahren, das Geld. Denn erneut bahnt sich eine Haushaltskrise in Berlin an, und wieder wird wohl vor allem im Sozialbereich gespart. Statt jetzt massiv zu investieren, droht die Politik alte Fehler zu wiederholen.

Vor diesem Hintergrund haben die jüngsten Arbeitskämpfe in Krankenhäusern, in Kitas und im öffentlichen Nahverkehr das Potenzial, mit der neoliberalen Sparpolitik der letzten drei Jahrzehnte zu brechen. Denn die notwendigen Investitionen lassen sich mit der Schuldenbremse nicht realisieren. Mehr noch, es benötigt eine viel stärkere Umverteilung von oben nach unten. Die Hoffnung bleibt, dass eine selbstbewusste Gewerkschafts- und Ar­bei­te­r:in­nen­be­we­gung diesen Paradigmenwechsel einfordert.

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