Schutzraum geräumt: Niedersachsen sägt am Kirchenasyl

Die Abschiebung einer Familie aus dem Kirchenasyl in Bienenbüttel sorgt weiter für Wirbel. Helfer befürchten ein Ende dieser Art von Schutzraum.

Kirchtürme einer Benediktinerabtei mit Kreuz auf dem Dach ragen schwarz vor hellem Himmel auf

Helfer befürchten, dass der Schutzraum Kirchenasyl ausgehöhlt wird Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa

HANNOVER taz | Die Abschiebung einer russischen Familie aus einem niedersächsischen Kirchenasyl schlägt Wellen. Helfer befürchten, dass sie dazu beiträgt, die Duldung dieser besonderen Zuflucht auszuhöhlen.

In der Nacht von Sonntag auf Montag hatte die Polizei eine russische Familie aus einer kleinen Einliegerwohnung im Gemeindehaus der St-Michaelis-Gemeinde in Bienenbüttel geholt.

Vater und Sohn, beide Kriegsdienstverweigerer, die psychisch schwer kranke Mutter und die 16-jährige Tochter wurden in ein Flugzeug nach Barcelona gesetzt. Am Dienstag machten Gemeinde, Kirchenkreis und Flüchtlingsrat den Fall bekannt.

Auf der politischen Ebene äußerten sich vor allem die Grünen entsetzt darüber, dass Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) hier eine Form der Amtshilfe leistet, die in den vergangenen zwanzig Jahren eigentlich tabu war.

Als „fatales Signal“ bezeichnete Djenabou Diallo-Hartmann von den Grünen diesen Bruch. Immerhin habe das Kirchenasyl als Akt der Humanität eine lange Tradition.

Kirchenasyl war immer eine fragile Konstruktion

Rechtlich betrachtet stand die allerdings schon immer auf wackligen Beinen. „Dass Kirchenasyle nicht geräumt werden, war immer eine politische Entscheidung, keine juristische“, räumt Dieter Müller von der ökumenischen Bundesarbeitsgemeinschaft „Asyl in der Kirche“ ein.

Nach einer aufsehenerregenden Räumung in Augsburg 2014 hatten die Kirchen 2015 mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) ein Verfahren vereinbart, mit dem Härtefälle noch einmal einer genauen Prüfung unterzogen werden sollten – und dafür in den Kirchenräumen keinen Zwangsmaßnahmen mehr ausgesetzt wurden.

Zu dieser Übereinkunft bekannten sich auch die meisten Innenminister der Länder – egal welcher Partei: als Zeichen des Respektes für die Kirchen als moralische Instanz.

Dieser Konsens scheint allerdings aufzuweichen. Sieben angedrohte, versuchte oder erfolgreiche Räumungen von Kirchenasylen in verschiedenen Bundesländern zählt Müller von der Bundesarbeitsgemeinschaft seit dem vergangenen Sommer.

Länder und Bamf schieben sich Verantwortung zu

Im aktuellen Fall argumentiert Niedersachsens Innenministerium ähnlich wie schon Aminata Touré in Schleswig-Holstein im Januar dieses Jahres. Da heißt es in erster Linie, man leiste ja nur Amtshilfe. Die Entscheidung liege beim Bamf. Das sagt allerdings, eine Überstellung auch aus kirchlichen Räumen sei grundsätzlich Entscheidung der für den Vollzug zuständigen Behörde.

Im Übrigen interpretieren die Ministerinnen das Abkommen so, dass der besondere Schutz des Kirchenasyls nur so lange gelte, bis das Bamf seine Härtefall-Prüfung abgeschlossen habe. Wenn aus Sicht des Bamf kein Härtefall vorliege, habe die Kirchengemeinde ihre Schützlinge binnen drei Tagen aus dem Kirchenasyl zu entlassen.

Das, sagt Müller, entspreche aber nicht der Praxis. Tatsächlich würden die eingereichten Härtefall-Dossiers in 99 Prozent der Fälle nicht anerkannt. Das Kirchenasyl sei aber trotzdem immer respektiert worden.

2015 einigten sich die Kirchen mit dem Bamf, Härtefälle erst mal genau zu prüfen

Auch im vorliegenden Fall habe das Bamf die ärztlichen Gutachten, die der Frau eine Gefahr für Leib und Leben durch eine Abschiebung bescheinigten, nicht berücksichtigt, sagt der Bienenbüttler Pastor Tobias Heyden.

Auf den Protest der Gemeinde, die auch auf die guten Integrationsaussichten und die familiären Verbindungen der Familie in Deutschland verwies, habe man nicht reagiert. Stattdessen habe die Polizei vor der Tür gestanden – eine Woche bevor der Rückführungszeitraum abgelaufen wäre und das Asylbegehren in deutsche Zuständigkeit gewandert wäre.

Wachsende Zahlen von Kirchenasyl

Wenn sich diese Haltung durchsetzte, sagt Müller, gäbe es bald kein Kirchenasyl mehr. Dabei, sagt Sven Quittkat, der in der Dachstiftung Diakonie das Netzwerk Kirchenasyl in Bremen und Niedersachsen koordiniert, würden sich die Kirchengemeinden die Entscheidung für ein Kirchen­asyl nie leicht machen. Immerhin müsse man ja in der Lage sein, diese Menschen sechs Monate lang zu versorgen.

Die Fälle würde sorgfältig geprüft, das Kirchenasyl sei immer nur Ultima Ratio, ein humanitärer Sonderweg, um das Bamf zu zwingen, noch einmal genau hinzuschauen.

Die besonderen Härten lägen manchmal im individuellen Schicksal, deuteten oft aber auf ein systemisches Problem – vor allem dort, wo es um die Rückführung in Staaten gehe, wo illegale Pushbacks, Gewalt und Unterversorgung an der Tagesordnung seien.

Aus einer Pressemitteilung des niedersächsischen Innenministeriums lässt sich erahnen, warum die Zügel beim Kirchenasyl deutlich angezogen werden: Die Zahl der Fälle im Kirchenasyl sei von 15 in 2022 auf 80 Fälle in 2023 zuletzt deutlich angestiegen.

In einem Treffen mit Kirchenvertretern und der Landesaufnahmebehörde wolle man deshalb am 28. Mai über das gemeinsame Verständnis von Härtefällen und den Umgang mit dem Kirchenasyl sprechen.

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