Ausstellung über die Rolling Stones: Siff-WG als Keimzelle des Mythos

„Unzipped“, eine Ausstellung über die Rolling Stones im Groninger Museum, pflegt die Superstars als Ikonen. Der Heiligenschein bleibt leider gewahrt.

Nachbau der Küche der Stones WG in London

Wer hatte Küchendienst? Installationsansicht der Stones-WG-Küche in Edith Grove Foto: Peter Tahl

Der Rockmythos, er scheint ewig weiterzuleben. Was immer genau es ist, das Versprechen, man könne radikal machen, was man will, die Idee, es gäbe trotz allem, trotz Lohnarbeit und freien Markts, so etwas wie eine umfassende Freiheit im Hier und Jetzt, sie ist unkaputtbar. Nicht einmal die Musealisierung kann da etwas ausrichten, sondern trägt, fast 60 Jahre nach „(I can’t get no) Satisfaction“, weiter zum Mythos bei.

Im Groninger Museum läuft nun erstmals auf dem europäischen Festland die Rolling-Stones-Ausstellung „Unzipped“, sie zeigt konzentrierte Rock-Mythologie auf vier Etagen. Und das an einem idealtypischen Beispiel, schon deswegen, weil die britische Band, dieStones, selbst so etwas sind wie die personifizierte Ewigkeit. Eine Band, die von Anfang an dabei war und einfach kein Ende finden will.

Vor wenigen Tagen veröffentlichten die Stones gar eine neue Single: „Angry“ ist der Vorgeschmack auf ein neues, für Oktober angekündigtes Album. Im Video zum Song räkelt sich eine junge Frau auf der Rückbank eines Cabriolets, das durch Los Angeles cruist, während historische Live-Aufnahmen der jungen Stones von Leinwänden auf den Dächern der Stadt flimmern.

60 Jahre Bandgeschichte

„Unzipped“ versammelt Objekte aus inzwischen 60 Jahren Bandgeschichte, alle mit spürbarem Hang zum Weihevollen kuratiert. Gitarren hinter Glas natürlich („Keith played a prototype of this guitar on the Steel Wheels Tour, 1989–1990“), Bühnenmodelle der megalomanischen Stadionshows, Seiten aus Keith Richards’ Tagebüchern, die vom Autor charmant kommentiert wurden: „Kann ich mich überhaupt nicht dran erinnern. Aber es liegt ja da. Ich sollte es vielleicht mal lesen.“ Ein Raum ist vollgepackt mit Bühnenoutfits, und es wirkt in der Ballung alles bunt, groß und gewollt megaloman. Dann natürlich Plattencover, Notizbuchseiten, Ausschnitte aus den zahlreichen Banddokus.

„Rolling Stones Unzipped“, Groninger Museum, Groningen/Holland, bis 21. Januar 2024

Besonders hübsch ist ein Mischpult, an dem Be­su­che­r:In­nen die verschiedenen Tonspuren hoch- und runterziehen können. Isoliert lässt sich dann zum Beispiel nachhören, wie das immer ganz leicht verschleppte Schlagzeug von Charlie Watts und der Bass von Bill Wyman zusammenfinden. Und welche alles bestimmende Rolle Keith Richards’ Gitarre in eigentlich allen Songs spielt, neben Mick Jaggers Stimme. Diese Ecke der Ausstellung sticht auch deswegen heraus, weil sie eine der wenigen ist, die nichts Devotionalienhaftes hat. Man bekommt sozusagen einen Eindruck von der Arbeit am Material.

Ansonsten aber ist „Unzipped“ eine einzige ungebrochene Fortschreibung des Bandmythos. Am unmittelbarsten in dem detaillierten Nachbau der, wie man so sagt, legendären Band-WG in Edith Grove, einer Ecke des Londoner Stadtteils Chelsea, in der Mick Jagger, Keith Richards und Brian Jones vom Herbst 1962 bis zum Sommer 1963 lebten, mit ungemachten Betten, hübsch drapierten überquellenden Aschenbechern, Essensresten (aus Plastik) und anderem Siff.

Reenactment von Rock

Der Nachbau eines Ortes, an dem das Rockmythosversprechen sozusagen eine architektonische Entsprechung gefunden hat. Und auch der Punkt, an dem man sich als Normalmensch vielleicht am ehesten verbinden kann: Die Siff-WG als Keimzelle, an der man alles machen konnte. Oder, wie Rich Cohen in seiner Bandbiografie „Die Sonne, der Mond & die Rolling Stones“ schreibt, Maßlosigkeit zur „metaphysischen Maxime“ erklärt wurde.

Und die sich so gelöst hat vom Elternhaus, um dann, nach der unvermeidlichen Wohnungsgemeinschaftsauflösung, weiterzuziehen. In den allermeisten Fällen halt dann leider nicht auf die Stadionbühne, sondern in ein Büro oder Ähnliches. Als Mythosmaschine funktioniert „Unzipped“ ganz wunderbar. Die britische Band hat mit den Kuratoren, als die Ausstellung 2016 zum ersten Mal in der Londoner Saatchi Gallery gezeigt wurde, eng zusammengearbeitet. Kritische oder eben selbstkritische Momente muss man nicht suchen, es gibt keine. Die doch nur mit Mühe zu überhörende Diskrepanz zwischen musikalischen Großtaten wie „Gimme Shelter“, „Paint It Black“ und „Sympathy for the Devil“ und dem meisten, was nach 1972, nach „Exile on Main Street“ kam, fällt weg.

„Unzipped“ erzählt die Bandgeschichte als eine einzige, steil aufsteigende Linie, mit dem Konzert auf Kuba 2016 als Höhepunkt, das im obersten Stockwerk auf drei großen Leinwänden gezeigt wird, im Triptychonformat. In der Mischung aus Beweihräucherung und Fanservice wirkt „Unzipped“ dann aber auch ziemlich anachronistisch.

Befreiung und Repression

Was schade ist, weil in der Geschichte der Rolling Stones, das Befreiende und das Repressive, das im Rockmythos steckt, konzentriert enthalten ist. Joy Press und Simon Reynolds haben in ihrer Untersuchung von Misogynie und Männlichkeit im Rock, „The Sex Revolts“, auf die im Rückblick bestenfalls muffigen, schlimmstenfalls gewaltvollen Momente der Rockrebellion hingewiesen und ihren Kampf um individuelle Befreiung als phantasmatischen Kampf gegen eigensinnige Frauen, Häuslichkeit und Mütterlichkeit beschrieben.

Die Androgynität Mick Jaggers konnte befreiend wirken für alle, die mit den geläufigen Bildern von Männlichkeit im Nachkriegsengland nichts mehr anfangen konnten. Man kann aber auch, mit Press und Reynolds, eine andere Diagnose stellen, nämlich, dass sich hier „prahlerischer Machismo“ und „selbstherrliche Androgynität zu einer Art allumfassenden Narzissmus“ zusammengeschlossen hätten, „als Klammer in der Geschichte rebellischer Rockmusik“.

Und dieser Narzissmus bedingt die Abwertung von Weiblichkeit, die sich durch das gesamte Werk der Stones zieht und nicht nur in notorischen Songs wie „Under my Thump“ zu finden ist: „Under my thumb / It’s a squirmin’ dog who’s just had her day / Under my thumb / A girl who has just changed her ways“.

Glückliche Crossdresser

Auf dem Cover des 1978 erschienenen Albums „Some Girls“ – in dessen Titelsong behauptet Jagger unter anderem, „Black girls just wanna get fucked all night“ – sind Bilder aller Bandmitglieder von Frauenperücken umrahmt, ergänzt mit kurzen Fakebiografien auf der Coverrückseite.

„Jede dieser erfundenen Frauen steht ohne Mann da“, schreiben Joy Press und Simon Reynolds. „Für die Stones offensichtlich die ultimative Schmach.“ Jene Gleichzeitigkeit von Machismo, Misogynie und Befreiungsversuch wäre pophistorisch interessanter gewesen als in Vitrinen aufgebahrte Gitarren, die Keith Richards mit seinen eigenen Händen berührt hat.

„Unzipped“ ist zuallererst eine prallvolle, überbordende Devotionalienschau und als solche macht sie großen Spaß. Wenn man etwas über die Bedeutung der Band erfahren will, das über die mythisch aufgeladenen Standardsituationen und -momente hinausgeht, muss man allerdings woanders schauen.

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