Autor Klein Halevi über Israel: „Jetzt verteidigen wir unser Land“

Yossi Klein Halevi sieht Israel durch die aktuelle Regierung geschwächt. Positive Signale kommen dafür von der dortigen Protestbewegung.

Polizisten tragen einen Sarg mit Israel-Flagge.

Polizisten tragen den Sarg von Dan Granot, einem Opfer der Hamas-Attacke vom 7. Oktober Foto: Amit Elkayam/NYT/Redux/laif

wochentaz: Herr Klein Halevi, wie haben Sie den Moment erlebt, als Sie von den Terroranschlägen der Hamas erfuhren?

Yossi Klein Halevi: In mehreren Schockwellen. Ich fragte mich: Wie sind die so leicht durchgekommen? Die hochtechnisierte Grenze zu Gaza soll doch die am besten geschützte Grenze der Welt sein? Im Laufe des Tages kam der nächste Schock: Wo war die Armee, und warum taucht sie jetzt in diesem Moment nicht auf? Insgesamt waren wir mit unserem eigenen militärischen Versagen konfrontiert. Im Nahen Osten als einer der gefährlichsten Regionen der Welt ist der Zusammenbruch der militärischen Verteidigungsfähigkeit Israels eine absolute Katastrophe.

wurde 1953 in New York geboren. Nach seinem Judaistik- und Journalismusstudium migrierte er 1982 nach Israel. Er ist Autor des Bestsellers „Letters to My Palestinian Neighbor“ und publiziert in israelischen und US-amerikanischen Zeitschriften. Am Shalom Hartman Institute in Jerusalem leitet er die Muslim Leadership Initiative, die Verbindungen zwischen nordamerikanischen Muslimen und Juden vertiefen will. Er nahm zuletzt an den Protesten gegen die geplante Justizreform teil.

Haben Sie eine Erklärung dafür, wie die terroristische Infiltration geschehen konnte?

Es waren nur sehr wenige Soldaten an der Grenze, denn fast die gesamte Division war ins Westjordanland verlegt worden. Dahinter stand die falsche Annahme, die Hamas sei pragmatischer geworden und sei – im Gegensatz zur Hisbollah an der Nordgrenze und Iran mit seinen Stützpunkten in Syrien – keine wirkliche Bedrohung mehr. Am 7. Oktober befanden wir uns in einer Art Zeitschleife. Genau 50 Jahre nach dem Jom-Kippur-Krieg wurden wir erneut von einem unerwarteten Angriff eines vollkommen unterschätzten Todfeindes überrascht.

Welche Folgen hat das für die israe­lische Gesellschaft?

Am 7. Oktober ist das israelische Ethos der Selbstverteidigung ein Stück weit verloren gegangen. Eigentlich sollte Israel der sichere Zufluchtsort des jüdischen Volks sein. Dass Juden ohnmächtig, mit hinter dem Rücken gefesselten Händen abgeschlachtet wurden, ist ein Verstoß gegen den Zionismus. Israel existiert, weil solche Dinge nicht passieren sollten – und ganz sicher nicht hier. Es geht nicht mehr nur um Macht und Ohnmacht und den Verlust des israelischen Selbstvertrauens in die eigene militärische Abschreckung. Sondern auch um die Frage, ob dieses Land eine Zukunft hat, ob es sicher genug ist, um hier eine Familie zu gründen. Wenn die Israelis anfangen, sich diese Fragen zu stellen, ist das der Anfang vom Ende des Zionismus, der Anfang vom Ende des Versprechens einer nationalen Heimat für das jüdische Volk. Ähnliche Fragen haben sich in den letzten zehn Monaten schon so viele während ihres Kampfs gegen die Justizreform gestellt.

Als Autor, Journalist und Bürger haben Sie sich klar positioniert. Wie agiert die Protestbewegung nun, nach den Terrorangriffen und inmitten des Kriegs?

Im Moment unserer aller Bedrohung von außen haben wir unsere Organisationsstruktur umgestellt. Für uns ist das kein Widerspruch, uns an der Kriegs­an­strengung zu beteiligen, da wir von Beginn an und unübersehbar als Patrioten auf die Straßen gegangen sind. Wir wurden als „Verräter“ und „Anarchisten“ herabgewürdigt. Jetzt verteidigen wir unser Land auf eine andere Weise und gegen einen anderen Feind.

Wie genau geschieht das derzeit?

Die Protestbewegung hat zum Beispiel die Infrastruktur zur Unterstützung der Überlebenden des Hamas-Massakers aufgebaut. Ähnlich wie in Ungarn hatte die israelische Regierung Beamte und Personal in den Ministerien durch unfähige, politische Kumpane ersetzt. Im Moment einer Katastrophe weiß dann niemand, was zu tun ist. Wir hingegen haben Zehntausende Engagierte in unseren Whatsapp-Gruppen und können sofort und mühelos mobilisieren.

Gibt es noch weitere Beispiele?

Nehmen wir die Reservisten. Aus Protest gegen die Justizreform hatten sich sehr viele geweigert, an den regelmäßigen Militärübungen teilzunehmen. Doch nun haben sich die Reservisten eigenständig und auch unabhängig von der offiziellen Einberufung gemeldet. Das ist Israel von seiner besten Seite. Die jüdische Geschichte lehrt uns staatsbürgerliche Verantwortung.

Was wird aus der Protestbewegung, sobald der Krieg vorbei ist?

Dann werden die Proteste mit einer für die israelische Politik nicht gekannten Heftigkeit wieder aufflammen. Denn die Wut, die so viele von uns gegen Netanjahu persönlich und seine gesamte Regierung aus Rechtsextremisten, religiösen Fundamentalisten und korrupten Politikern empfinden, wurde durch das Versagen, das zu den Anschlägen vom 7. Oktober geführt hat, noch verstärkt. Seit Monaten hatten wir davor gewarnt, dass das alles zu einer Katastrophe führen wird. Nun ist die schlimmste Sicherheitskatastrophe in der Geschichte Israels geschehen. Sie liegt in der Verantwortung der aktuellen Regierung.

In Israel leben knapp 20 Prozent Araber. Wie hat dieser Teil der Bevölkerung auf die Terrorangriffe der Hamas reagiert?

Größtenteils mit echtem Entsetzen. Umfragen zufolge sind das 80 Prozent. Dazu kommen auch Schamgefühle. Eine kleine Minderheit hingegen reagiert mit Freude und Stolz. Wegen Aufrufen zu weiteren Anschlägen wird gegen eine Reihe von arabischen Israelis derzeit ermittelt. Dazu kommt die Angst und die Unsicherheit, wie die Juden auf ihre arabischen Nachbarn reagieren werden. „Nachbarn“ meine ich an dieser Stelle durchaus wörtlich, weil hier in meinem Haus in Jerusalem zur Hälfte Juden und zur Hälfte Araber wohnen. Aktuell bleiben ja fast alle zu Hause. Doch wenn wir uns im Alltag irgendwann zufällig wiedersehen, dürften unsere Begegnungen zum Teil auch von Misstrauen geprägt sein. Uns werden Fragen durch den Kopf gehen wie: Was denkt der andere jetzt wirklich? Würde mein arabischer Nachbar den Terror vielleicht doch unterstützen?

Inwieweit beteiligen sich Araber an der israelischen Heimatfront im aktuellen Krieg?

Arabische Israelis sind hier definitiv auch präsent. Ein Beispiel, das die Extreme verdeutlicht: In der arabisch-israelischen Stadt Taibe hat der Besitzer eines Fahrradladens 50 Fahrräder für die Überlebenden des Hamas-Massakers gespendet. Daraufhin haben Fanatiker sein Geschäft niedergebrannt. Es gibt also die totale Identifikation mit Israel, aber auch die Betrachtung dieser Identifikation als Verrat an der palästinensischen Sache. Die meisten arabischen Bürger Israels dürften sich irgendwo dazwischen positionieren. Wegen der Wut der Juden und der Angst der israelischen Araber befinden wir uns aktuell in einer sehr heiklen Lage. Auch weil wir Elemente in der Regierung haben, die Juden gegen arabische Bürger Israels aufhetzen wollen.

Sie beziehen sich auf den Minister für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, der vor wenigen Tagen den Kauf von 10.000 Sturmgewehren für zivile Security-Teams bekannt gab?

Ja. Das ist klassische rechtsextreme Demagogie. Und hat nichts mit nationaler Sicherheit zu tun, sondern führt nur zu Chaos. Ben-Gvir nennt seine Partei „Jüdische Macht“, aber er versteht nicht, wie israelische Macht und Souveränität wirklich funktioniert. Sie basiert auf dem freiwilligen Zusammenschluss der israelischen Bürger in einer Bürgerarmee. Selbst wenn wir vielleicht starke Kritiker der israelischen Politik sind, kommen wir zusammen, weil wir alle an die grundlegende Gerechtigkeit Israels glauben. Ben-Gvir aber ist ein radikaler Spalter und gehört daher mit zur existenziellen Bedrohung Israels.

Für ihren New York Times-Bestseller „Letters to My Palestinian Neighbor“ haben Sie zehn längere Briefe an einen imaginären palästinensischen Zeitgenossen geschrieben. Sie haben Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen weltweit dazu ermutigt, darauf zu reagieren, und eine Reihe von Antwortbriefen als Epilog veröffentlicht.

Mit meinen Briefen wollte ich meinen Nachbarn die israelische Erfahrung und die jüdische Geschichte erklären, weil sie kaum etwas wissen darüber, wer wir sind und warum wir hier sind. Darüber hinaus wollte ich mit dem Buch eine neue Art von Gespräch über die gegenseitige Legitimität anregen. Wir sind zwei indigene Völker, die sich weigern, das Recht des jeweils anderen auf nationale Selbstbestimmung anzuerkennen. So suchte ich nach Partnern auf der palästinensischen Seite, die sich auf diese Art von Gespräch einlassen würden.

Wie geht es mit Ihrem Projekt nun nach der Erfahrung des 7. Oktobers weiter?

Ich bin sehr froh, dass ich dieses Buch geschrieben habe. Im Moment wäre ich zu so etwas aber nicht in der Lage. Ich bin zu überwältigt und habe viel zu viel Angst. Und ich bin zu wütend. Wenn das hier vorbei ist, hoffe ich, zu meinem Projekt zurückkehren zu können. Ich will weiterhin dazu beizutragen, eine bislang unübliche Konversation zwischen Israelis und Palästinensern in Gang zu bringen: ein Gespräch, in dem wir niemals einer Meinung sein werden, da unsere jeweiligen Narrative unvereinbar sind, wir aber respektvoll miteinander streiten können. Es geht darum, zu einem Punkt zu kommen, an dem jeder von uns sagte: Weißt du, wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich genauso empfinden. Das wäre der Durchbruch. Auf der palästinensischen Seite habe ich Partner in diesem Dialog der Meinungsverschiedenheiten und menschlichen Empathie gefunden, die ich sehr schätze. Im Moment jetzt habe ich aber nicht die emotionale Kraft, all die anderen Gefühle, die ich empfinde, zu überwinden.

Anm. d. Red.: Das Gespräch fand 17. Oktober 2023 statt.

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