Berlin als Heimat für schräge Klänge: Improvisatorisches Geschick

Experimentelle Musik ist ein Minderheitenprogramm, doch die Berliner Szene ist weltweit einzigartig. Das liegt auch am Engagement von Spielstättenbetreibern.

Abendlicher Blick auf das KM28 mit hell erleuchteten Fenstern in Berlin-Neukölln

Bekam 2021 den Spielstätten-Award „Applaus“ verliehen: das KM28 in Neukölln Foto: Udo Siegfriedt

BERLIN taz | Die Pianotöne schweben, ganz langsam tasten sie sich einer nach dem anderen voran. Das Publikum im Konzertraum gibt keinen Mucks von sich, alle scheinen den Atem anzuhalten und geben sich einer Musik der Stille hin. So war es unlängst beim Konzert der britischen Pianistin Kate Ledger im Neuköllner Veranstaltungsort KM28.

Vor dem Auftritt sagte dessen Betreiber David Walker, er rechne an diesem Abend, wo ausschließlich sehr spezielle Minimal Music von Komponisten und Komponistinnen wie Christopher Fox und Bunita Marcus intoniert wurde, mit etwa 30 Gästen. Und lag dann mit seiner Schätzung fast exakt richtig.

30 Gäste sind wirklich nicht viel. In der Szene der frei improvisierten und experimentellen Musik, die in Off-Locations wie dem KM28 aufgeführt wird, ist ein eher verhaltener Zuspruch von Interessierten aber nicht ungewöhnlich. „Im Durchschnitt haben wir 50 Besucher und Besucherinnen“, sagt Walker, „oft ist es so wie heute, manchmal nehmen aber auch 100 Leute Platz und 20 müssen stehen.“ Für mehr als 100 Gäste ist das KM28, das nach seiner Adresse in der Karl-Marx-Straße benannt wurde, auch gar nicht ausgelegt.

Es gibt zig Orte wie diesen in Berlin, wo experimentelle Musik dargeboten wird, ohne dass das medial irgendwo groß wahrgenommen würde. Über die ganze Stadt verteilt existieren Künstler-Cafés, die auch Konzerte in dieser musikalischen Richtung veranstalten, oder von Künstlern und Künstlerinnen betriebene Art-Spaces. Da gibt es etwa das Tik – Theater im Kino in Friedrichshain, den Kühlspot Social Club in Weißensee, das Backsteinboot in Spandau und jede Menge dieser besonderen Spielorte in Neukölln, etwa das Café Plume oder das Peppi Guggenheim.

Berlin als Zentrum der Improvisationsmusik

In Berlin dreht sich immer alles um Clubs und Techno, dabei wird fast übersehen, dass man schon seit Jahren das internationale Zentrum für die Improvisationsmusik geworden ist. In keiner anderen Stadt auf der Welt vibriert die Szene so wie hier und verfügt über derart viele Orte, an denen sie sich zeigen kann.

Wer über ihr Treiben auf dem Laufenden gehalten sein möchte, informiert sich auf der Website echtzeitmusik.de. Auf dieser wird akribisch jedes Konzert, das sich frei improvisierter und experimenteller Musik zuordnen lässt, aufgelistet. Scrollt man sich allein durch den laufenden Monat Oktober, fällt auf, dass man an manchen Tagen gleich auf zehn verschiedene Events gehen könnte, auf denen irgendetwas zwischen freier Improvisation, Jazz und Minimal Musik geboten wird.

Arthur Rother, hauptverantwortlicher Betreiber der Website, der selbst Gitarre in diversen Improv-Combos spielt und die Reihe Labor Sonor im Kunsthaus KuLe in Mitte mitorganisiert, sagt, bis vor Kurzem sei seiner Meinung nach das Ausland in Prenzlauer Berg der wichtigste Ort für die Szene gewesen. Das Ausland gilt als eine Art Heimstätte der Berliner Echtzeitmusik, nach der sich Rothers Website benannt hat.

Aber nach Rothers Einschätzung hat sich inzwischen das Treiben der Szene eher nach Neukölln verlagert. Die Musiker und Musikerinnen, von denen viele früher in Prenzlauer Berg lebten, könnten sich die Mieten dort nicht mehr leisten und seien vornehmlich nach Neukölln gezogen, womit sich der Nukleus der Szene verlagert habe. Der wichtigste Ort der freien Improvisationsmusik in Berlin ist nun laut Rother das KM28.

Das existiert nunmehr seit fünf Jahren. Betreiber David Walker, der aus den USA kommt, eine Zeit lang in Tokio und dann in London gelebt hat, ist vor zehn Jahren nach Berlin gezogen. Die Stadt und ihre Musik habe er sich mithilfe der Infos von der Echtzeitmusikhomepage erobert, erzählt er. Aber viele Orte, die er regelmäßig besuchte, hätten irgendwann aufgeben müssen. So kam er auf die Idee, selbst einen Konzertladen aufzubauen. Inzwischen organisiert er nach eigener Darstellung drei bis vier Konzerte in der Woche. „Das ist ein Full-time-Job, mit dem ich nichts verdiene“, erzählt der 57-Jährige, der bereits in Rente ist. Er habe genug Geld auf der hohen Kante, um es sich leisten zu können, seinen Job wie ein Hobby betreiben zu können.

Eintritt verlangt er bei seinen Events keinen, Spenden sind erwünscht. Diese wiederum gehen, so Walker, zu 100 Prozent an die Musiker und Musikerinnen. 2021 hat sein KM28 den bundesweit verliehenen Spielstätten-Award „Applaus“ verliehen bekommen. Das Preisgeld habe geholfen, um laufende Kosten zu decken, so Walker. Ansonsten sei er auf möglichst viele Förderungen bestimmter Konzerte durch diverse Initiativen angewiesen, um wenigstens nicht ins Minus zu rutschen.

Die Gema als Schrecken

Spenden statt Eintritt, das ist eine Praxis, die man bei vielen dieser kleinen Konzertorte in Berlin finden kann. Das habe etwas mit der Gema zu tun, erläutert Walker. Genauer will er auf das Thema nicht eingehen, aus Angst vor genau der Organisation, die die Urheberrechte von Musikern und Musikerinnen in Deutschland vertritt. Die Gema ist der Schrecken vieler subkultureller und nichtkommerzieller Orte in Berlin. Er kenne viele, so Rother, die versucht haben, Musik in ihrer Räumlichkeit aufzuführen, ohne sich vorher bei der Gema anzumelden. In der Hoffnung, die habe Besseres zu tun, als ein paar Euro bei prekär betriebenen Läden einzutreiben. Bis dann doch ein Gema-Prüfer vor der Tür stand und eine Nachzahlung einforderte, die dann aus Geldmangel nicht beglichen werden konnte – und damit war der Laden am Ende.

Auf der Homepage der Berliner Echtzeitmusik wird somit bei einigen Konzerten als Ort „Secret Location“ angegeben. Zu diesen finde man nur, wenn man jemanden kenne, der Bescheid wisse, erklärt Rother. In den meisten Fällen habe diese Geheimhaltung nichts damit zu tun, dem Konzert den Nimbus von Exklusivität zu verleihen. Sondern damit, die Gema nicht auf sich aufmerksam machen zu wollen.

So durchzieht Berlin ein vielschichtiges Geflecht an subkulturellen Orten, wo mit großer Leidenschaft, viel Selbstausbeutung und einem Repertoire an Tricks versucht wird, irgendwie über die Runden zu kommen mit einer Musik, mit der sich kaum Geld verdienen lässt. Dazu kommt das Glück, dass Leute wie David Walker es sich ganz offensichtlich finanziell leisten können, wie Mäzene selbstlos eine Szene zu unterstützen.

Exploratorium mit neuem Standort

Matthias Schwabe vom Exploratorium, dem „Raum für Improvisation“, ist auch so jemand, dem es nur noch um Selbstverwirklichung und seine Vision geht, die vielfältige Kunst des Improvisierens zu fördern. Eben erst hat er, der Mitte 60 ist, das Exploratorium aus einem Kreuzberger Hinterhof in beste Lage verlegt, in die Zossener Straße, nicht weit weg von der vorherigen Adresse. Damit verschafft er seinem Ort ungleich mehr Aufmerksamkeit und Laufpublikum als vorher.

David Walker, KM28

„Es ist härter geworden in Berlin, aber immer noch besser als in New York“

Vorne gibt es nun ein Café, das sein Untermieter ist, und hinten einen kleinen Veranstaltungssaal. Hier finden regelmäßig Workshops und Konzerte statt. Die Workshops tragen sich einigermaßen selbst, so Schwabe. Bei den Konzerten zahle er Gagen über dem Durchschnitt und das könne er sich leisten, weil er über Gelder aus einer Stiftung verfüge.

Die Improv-Szene in Berlin floriert, sagt David Walker, und sie ist bestens vernetzt. Im KM28 spielen auch internationale Stars wie Ken Vandermark jüngst im September und eben erst Matana Roberts, beide aus Chicago.

Etwa die Hälfte der Musiker und Musikerinnen, die bei ihm auftreten, würden zwar auch aus aller Welt kommen, aber in Berlin leben, so Walker. Dabei hätten sich die Mieten in der Stadt innerhalb der zehn Jahre, in denen er nun hier wohnt, verdreifacht. „Es ist härter geworden in Berlin“, sagt er, „aber immer noch besser als etwa in New York.“

Berlin wurde zum weltweiten Zentrum für improvisierte Musik, weil es hier eher möglich war als sonst irgendwo zu überleben, auch wenn zu den eigenen Konzerten nur 30 Gäste kommen. Noch ist die Szene, auch dank dem Engagement von Location-Betreibern wie David Walker und Matthias Schwabe, gesund. Aber viel mehr in Richtung New Yorker Preise samt ständig steigenden Mieten dürfte es wohl nicht mehr gehen in Berlin, damit das auch in Zukunft so bleibt.

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