Bildbiografie über Paul Celan: Verzweifelte Lebenswut

Paul Celans Lebensumstände waren dramatisch. Die Bildbiografie von Bertrand Badious macht das deutlich, sie ist ein regelrechter Meilenstein.

Paul Celan

Paul Celan in Montana, Weihnachten 1961 Foto: Gemeinsamer Pariser Privatnachlass von Paul Celan und Gisèle Celan-Lestrange

Paul Celan mit geöffnetem Hemd, kauernd im sommerlichen Gras neben seiner Frau – solche Fotos kannte man von diesem dunkel melancholischen Dichter bisher nicht. Für seine große Bildbiografie, die ursprünglich schon zum 100. Geburtstag Celans im Jahr 2020 erscheinen sollte, hat Bertrand Badiou ausgiebig aus dem privaten Nachlass geschöpft.

Als der von Celans Sohn Éric exklusiv damit beauftragte Germanist greift er auf vieles bisher Unbekanntes zurück, vor allem auch auf intime Tagebücher. Das geht weit über alles hinaus, was in letzter Zeit über Celans Lebensumstände bekannt wurde, und ist beileibe nicht unproblematisch. Der Dichter hat immer größten Wert darauf gelegt, nur durch seine Texte wahrgenommen zu werden. Er ließ sich auch nur sehr ungern öffentlich fotografieren.

Bertrand Badiou: „Paul Celan. Eine Bildbiographie“. In Zusammenarbeit mit Nicolas Geibel. Mit einem Essay von Michael Kardamitsis. Suhrkamp, Berlin 2023, 580 Seiten, 68 Euro

Badiou ist sich der Tragweite seines Vorhabens bewusst. In seinem Vorwort versteht er ­Celans theoretische Äußerungen zu Biografie und Fotografie „paradoxerweise als motivierende, ja antreibende Tabus“. Er entschloss sich, „die Umstände und die Prozesse in Celans ­Schreiben in Form einer zersprungenen Biographie oder besser: einer Biographie aus oder in Stücken zu zeigen“.

Das erschien ihm der Ästhetik dieses Dichters adäquat. Faksimiles, Fotos und sonstige Quellen werden durch kurze kommentierende Texte ergänzt. Damit ist diese Bildbiografie eine intensiv durchdachte Komposition von Einzelstücken und lässt gleichzeitig einiges offen. Es entstehen, bei aller Fülle neuer Informationen, auch Leerstellen und Räume für Interpretationen. Gerade darin kann man eine Stärke des Buches sehen.

Nachkrieg in Rumänien

Celans Zeit in Bukarest von Mai 1945 bis Dezember 1947 etwa wurde in der Forschung bisher fast übergangen. So sind die Erinnerungen von Petre Solomon, seines engsten Freundes in Bukarest, verblüffenderweise erst in diesem Jahr an ziemlich entlegener Stelle auf Deutsch erschienen.

Offenbar hat das etwas mit einem lange gepflegten, quasi offiziellen Celan-Bild zu tun, dem Solomons Buch deutlich widerspricht. Bertrand ­Badiou widmet Solomon viel Platz und fügt dessen Bild eines erotisch umtriebigen, durchaus lebenszugewandten und rauschhaften Celan neue Aspekte aus dem Nachlass hinzu.

Der Bukarest-Aufenthalt des Dichters birgt einige Rätsel. Direkt nach dem deutschen Massenmord an den Juden wirkt diese Phase nach außen hin zunächst eher unbeschwert, wie eine Art Boheme. Mit Solomon zelebrierte Celan ausgelassen Wortspiele, und er bezeichnete sich einmal als „Partisan des erotischen Absolutismus“.

Damit wird ein Akzent gesetzt, der all seine künftigen Lebensphasen bestimmt, auch wenn sich seit etwa Mitte der fünfziger Jahre sein Schicksal als überlebender Jude noch stärker in den Vordergrund schiebt.

Lebenszentrum Paris

Badiou beschreibt Paris, wo Celan seit Sommer 1948 wohnte, als dessen Lebenszentrum. Damit rückt die Bundesrepublik Deutschland an den Platz, den sie in der Wahrnehmung des Dichters vor allem hatte: als Schauplatz des deutschen Literaturbetriebs, mit dem sich ­Celan zwangsläufig konfrontiert sah, dessen Bedingungen ihm aber fremd und suspekt bleiben mussten.

Das falsche Bild des schier märtyrerhaften Dichters, der die Schuld der Deutschen in eine poetisch ergreifende Sprache fasste und sie in deren Wahrnehmung dadurch entlastete, übernimmt Badiou keineswegs. Er zeigt in der Entwicklung Celans exemplarisch, wie er sich gegen die Vereinnahmung als Dichter der „Todesfuge“ wehrte und nach einer Sprache suchte, die sich Missverständnissen gegenüber sperrte.

Sehr aufschlussreich sind die ersten Jahre Celans in Paris, mit Freunden, die man in der Bundesrepublik nicht kannte. Mit den jüdisch-rumänischen Gefährten Isac Chiva und Serge Moscovici bildete er ein Trio von Staatenlosen, und sie teilten, wie Badiou schreibt, „als an ihre Erfahrung des Genozids gebundene Komponente ihres Daseins jene ‚Lebenswut‘, einen zornigen, hetero-erotischen Appetit und das unablässige Bedürfnis nach Verführung, das mit ihm einhergeht“.

Chiva, der Ethnologie und Anthropologie studierte, wird die rechte Hand von Claude Lévi-Strauss am Collège de France werden, Moscovici ein Soziologe von Weltruhm, der sich der politischen Ökologie widmet und als einer der Vorväter grüner Bewegungen gilt.

Frau und Freundinnen

Isac Chiva wird es auch sein, der Celan mit der jungen Künstlerin Gisèle de Lestrange bekanntmacht, seiner künftigen Ehefrau. Sie nimmt in Badious Darstellung natürlich einen großen Raum ein.

Aber er rückt auch ins Blickfeld, was Celan verbarg und was in seinen Ambivalenzen sehr aussagekräftig ist: die mittlerweile bekannten Beziehungen zu Brigitta Eisenreich oder zu Gisela Dischner, zum Schluss natürlich zu seiner letzten Freundin in Israel, Ilana Shmueli, aber vor allem auch das offenbar stark aufgeladene Verhältnis zur schwedischen Schauspielerin Inge Wærn, die er bei seinem Stockholmer Aufenthalt 1960 während der akuten psychischen Krise von Nelly Sachs kennengelernt hatte.

Eine weitere der erotischen Beziehungen Celans ist ebenfalls im deutschen Sprachraum nahezu unbekannt: die zu Ariane Deluz, einer auf afrikanische und südamerikanische Populationen spezialisierten Anthropologin.

In einem auffälligen Foto vom Ende der sechziger Jahre inszeniert sie sich entsprechend. Dieses Terrain ist natürlich ein schwieriges, und Badiou lässt auch hier in erster Linie nur die auffindbaren Dokumente sprechen. Einen vordergründig sensationsheischenden Charakter nimmt das niemals an. Bertrand Badiou geht es unmissverständlich um den Dichter Paul Celan und um den Entstehungshintergrund seiner Gedichte.

Paranoide Schübe und Goll-Affäre

Der Biograf zeichnet auch die Krankengeschichte Celans minutiös nach. Sämtliche medizinischen Zertifikate und Akten zu Celans Psychiatrieaufenthalten sind unzugänglich, aber die Umstände seiner paranoiden Schübe werden ausführlich benannt. 1968 übernimmt Celan für sich einen Begriff seines Psychiaters, nämlich „Wahnanfall“. Zur Vorgeschichte gehört sicher die Erfahrung des Juden, dem Massenmord durch die Deutschen nur knapp entronnen zu sein.

Als zweiten entscheidenden Moment nennt Badiou die „Goll-Affäre“, die perfiden Plagiatsvorwürfe der Witwe des Dichters Yvan Goll, die sich mit den Mechanismen des Literaturbetriebs genau auskannte. Die Nazi-Nachwehen in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre und die Konfrontation mit ihrem durch Konkurrenz, Neid und übler Nachrede befeuerten literarischen Milieu trugen das ihre dazu bei.

Zu den neuen von Badiou erschlossenen Dokumenten gehört der Vermerk in Celans Taschenkalender am 10. April 1970, zehn Tage vor seinem Freitod: „die rumänische Zeitschrift“. Dies ist der Beweis dafür, dass Celan die irreführende Veröffentlichung des (sehr konventionellen und epigonalen) Gedichts „Er“ von Immanuel Weissglas tatsächlich wahrgenommen hat. Es hat in einzelnen Wendungen Ähnlichkeiten mit Celans „Todesfuge“ und wurde ohne Beleg mit dem Entstehungsdatum „1944“ versehen. Dieser neuerliche Plagiatsvorwurf an Celan kann einer der Auslöser für dessen Verzweiflungstat gewesen sein.

Angesichts des von Badiou versammelten reichhaltigen biografischen Materials gäbe es zwangsläufig noch einiges zu sortieren. So sollte man zwischen Celans Haltung zur Gruppe 47 und zu den Verrissen nationalkonservativer Kritiker wie Günter Blöcker deutlicher unterscheiden.

Keine Beachtung findet zum Beispiel, dass Celan kurz nach seinem Auftritt bei der Gruppe 47 eine Lesung in einer kleinen Frankfurter Galerie hatte, die ihn äußerst glücklich machte – die Einführung dazu wurde von Friedrich Minssen gesprochen, einem Gründungsmitglied der Gruppe 47 und Gesinnungsgenossen von deren Chef Hans Werner Richter.

Oder der merkwürdig irrlichternde Autor Rolf Schroers: Er tritt hier nur als warmherziger Freund Celans in Erscheinung. Es handelte sich indes um einen hochrangigen Offizier der sogenannten „Abwehr“, des militärischen Geheimdienstes unter Hitler. Schroers wurde wegen Spitzelverdacht von Hans Werner Richter aus der Gruppe 47 verbannt, und auch Celan wandte sich später entsetzt von ihm ab. Solche Seitenstränge ändern aber nichts daran, dass mit Bertrand Badious Bildbiografie ein Meilenstein in der Celan-Forschung vorliegt, der über Jahre hinaus maßgeblich sein wird.

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