Broschüre zur Staatsgründung Israels: Neukölln und die Nakba

In Berlin will die CDU die Publikation „Mythos Israel 1948“ an Schulen sehen. Die Neuköllner Linke will das abwehren. Die Scheindebatte schlägt Wogen.

Familien mit Kindern bei einer Demonstration unter dem Motto „Gazas Lichter“ im Dezember in Neukölln

Familien mit Kindern bei einer Demonstration unter dem Motto „Gazas Lichter“ im Dezember in Neukölln Foto: Jochen Eckel/imago

BERLIN taz | Die Broschüre liegt mit ihren 46 Seiten recht stabil in der Hand. „Um das Land Israel kursieren seit der Staatsgründung im Jahr 1948 Gerüchte und Mythen“, beginnt die Einleitung. Ziel der Publikation mit dem Titel „Mythos Israel 1948“ sei es, verbreitete – falsche – Vorstellungen und „gefährliches Halbwissen“ rund um die israelische Staatsgründung zu entkräften. Denn Vorurteile gegen den „jüdischen Staat“ seien weit verbreitet – und manifestierten sich „auch in Berlin regelmäßig auf der Straße“.

In fünf Kapiteln geht es etwa um die Behauptung, dass Israel auf gestohlenem palästinensischem Land errichtet wurde, dass die Staatsgründung eine Folge des Holocausts war oder dass Israel schuld an der Nakba sei. Nakba – übersetzt als Katastrophe – meint die Flucht und Vertreibung von rund 750.000 Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen aus ihren Wohnorten in der Zeit unmittelbar vor und nach der Gründung Israels und in Folge des Krieges von Ägypten, Syrien, Libanon, Jordanien und Irak gegen Israel. Israel hatte den Krieg damals gewonnen.

„Vertreibung im Krieg war damals wie heute nichts Ungewöhnliches“, heißt es etwa in der Broschüre zum Mythos Nakba. Nakba habe zunächst „Niederlage“ gemeint, inzwischen sei das Wort umgedeutet zu „Ungerechtigkeit“. Die Staatsgründung Israels jährte sich dieser Tage zum 76. Mal und fiel fast mit dem 15. Mai zusammen, der als Nakba-Gedenktag gilt.

„Uns ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass es keine systematische Vertreibung war“, sagt ein Sprecher des Vereins Masiyot, der die Broschüre herausgegeben hat. Dabei bezögen sich die Au­to­r*in­nen auf kritische israelische Historiker*innen. „Wir gehen auch auf Vertreibungen ein, etwa durch die Hagana (zionistische paramilitärische Untergrundorganisation, d. taz). Das ist unbestritten“, sagt er. „Und wir weisen außerdem darauf hin, dass es praktisch keine Jüdinnen und Juden mehr im Irak, in Syrien oder im Libanon gibt. Dort haben ethnische Säuberungen stattgefunden.“ Auf Israel, Gaza und dem Westjordanland treffe das nicht zu. „Doch das wollen viele anscheinend nicht hören.“

Störungen und Gegenkampagne

Veröffentlicht wurde die Broschüre wenige Wochen vor dem 7. Oktober. Und seitdem ist sie Gegenstand einer erbitterten Auseinandersetzung in Neukölln, die inzwischen immer weitere Kreise zieht. Schon die Vorstellung der Broschüre im September 2023 sei gestört worden. Doch nachdem sich die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) von Neukölln mit der Broschüre befasst, sei es zu einer regelrechten „Gegenkampagne“ gekommen, schrei­ben die Her­aus­ge­be­r*in­nen in einer Stellungnahme.

Die CDU-Fraktion hatte nämlich im Februar beantragt, die Broschüre „Mythos#Israel1948“ in den Neuköllner Oberschulen einzusetzen, um „bestehende antisemitische Narrative“ zu „konfrontieren“. In einem zweiten Antrag forderten sie, das Bezirksamt solle sich auch für „die Nutzung der Broschüre in den Neuköllner Jugendfreizeiteinrichtungen“ einsetzen, auch dies sollte Teil des Kampfes gegen Antisemitismus sein.

Die Linke Neukölln reagierte mit einem alarmiert anmutenden Gegenantrag. Das Bezirksamt werde „gebeten“, „alles zu tun, um die Verbreitung der Broschüre (…) und deren Inhalte an Neuköllner Schulen zu verhindern“, heißt es dort. BVV-Mitglied Ahmed Abed nannte die Broschüre „geschichtsverfälschend“ und fragte, ob die Darstellung geeignet sei, eine „umsichtige Debattenkultur und das friedliche Miteinander im Bezirk“ zu fördern.

Das SPD-geführte Bezirksamt nahm den Vorschlag der CDU an. Es räumte aber ebenso ein, dass es keinen Einfluss darauf habe, inwieweit die Broschüre dann tatsächlich an Schulen eingesetzt werde. Denn das sei eine „innere Schulangelegenheit“, das Bezirksamt sei daher gar nicht zuständig.

Mehr als 10.000 Un­ter­stüt­ze­r*in­nen für offenen Brief

Der Beschluss ist also reine Symbolpolitik. Trotzdem schlug er hohe Wellen – wohl auch, weil gerade in Neukölln viele Menschen familiäre Erinnerungen an Vertreibungen haben. In der Folge gab es einen offenen Brief. Die Broschüre würde „die palästinensische Geschichte leugnen“, die Nakba werde verharmlost, hieß es darin. Am ersten Wochenende unterstützten 1.000 Menschen eine Petition, wenige Tage später waren es bereits 10.000. Als Eltern und Päd­ago­g*in­nen seien sie „tief besorgt“ über die Entscheidung, diese Broschüre „in das Schulprogramm einzuführen“.

Die Her­aus­ge­be­r*in­nen hatten das auch nicht vor. „Die Broschüre war nie dazu gedacht, sie an Schulen zu verteilen“, heißt es von Masiyot. „Es ist Hintergrundmaterial für ein schon vorgebildetes Publikum, unsere Zielgruppe sind informierte Leser*innen, die sich mit Mythen und deren Dekonstruktion beschäftigen.“ Für Schü­le­r*in­nen hingegen bräuchte es ein viel pädagogischeres Material.

„Wichtig wäre wohl, darauf zu verweisen, dass fünf arabische Staaten damals den Teilungsplan abgelehnt und den Krieg gegen Israel begonnen haben – über die Köpfe der auf dem Gebiet lebenden Menschen hinweg. Die Rolle des Großmufti von Jerusalem und seiner antisemitischen Agenda kann man dabei gar nicht genug betonen“, sagt der Sprecher. „Die Nakba war eine Konsequenz dieses Krieges. Und es ist wichtig, zu zeigen, wer die politische und moralische Verantwortung trägt.“

„Materialien zum Nahost-Konflikt müssen berechtigte Anliegen zweier Nationalbewegungen anerkennen und Unrecht und Leid auf beiden Seiten thematisieren“, heißt es von Bildungsinitiative ibim, die Beratung und Workshops zu Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus an Schulen anbietet. In Neukölln seien Jugendliche „der Agitation islamischer, ultranationalistischer und antisemitischer Akteure aus allen Richtungen ausgesetzt“, diese würden „verbreitete Mythen über Israel als rassistischer Kolonialstaat“ bestärken und Hass schüren.

Räume für Trauer und Wut

Flucht und Vertreibung im ersten arabisch-israelischen Krieg müssten als Familienhintergrund großer Teile der Neuköllner Schü­le­r*in­nen anerkannt werden, ebenso wie der Hintergrund von Schü­le­r*in­nen aus israelischen oder jüdischen Familien.

Die Broschüre sei unge­eignet als Unterrichtsmaterial, sagt auch eine Lehrerin einer Schule im Bezirk. Die Texte seien für Schü­le­r*in­nen zu schwierig. Allerdings seien sie geeignet, um Leh­re­r*in­nen ergänzendes Hintergrundwissen zu vermitteln. „Gerade mit Schüler*innen, die teils auch persönlich von dem Krieg und dem Nahostkonflikt betroffen sind, braucht es Räume, um auch deren Trauer und Wut zuzulassen“, sagt sie.

„Es gibt den Beutelsbacher Konsens, dem wir in den Schulen verpflichtet sind. Der besagt, dass wir Themen, die in der Gesellschaft kontrovers diskutiert werden, auch im Unterricht kontrovers darstellen.“ Sie würde daher auf vielfältiges Material zurückgreifen, um unterschiedliche Blickwinkel einzubeziehen. Und das würden die meisten Leh­re­r*in­nen wohl ebenso tun.

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