Bundesweiter Bildungsprotest: Die Bildungskrise des Kanzlers

Am Samstag demonstrieren in 29 Städten Menschen für ein besseres Bildungssystem. Sie fordern 100 Milliarden – und einen aktiveren Kanzler.

Eine Person mit einer Mütze der GEW in einer Menschenmenge

Ein Vorgeschmack auf den bundesweiten Bildungsstreik am Samstag Foto: Florian Gaul/imago

BERLIN taz | Einen Vorgeschmack auf den nationalen Bildungsprotest am Samstag haben die Hessinnen und Hessen erhalten. Am Mittwoch, zum Weltkindertag, demonstrierten mehrere Tausend Menschen in insgesamt fünf hessischen Städten für ein besseres Bildungssystem. „Wir stehen heute hier, weil das Bildungssystem von der Kita über die Schule und die Erwachsenenbildung bis zur Hochschule in einer tiefen Krise steckt“, sagte der Vorsitzende der GEW Hessen Thilo Hartmann bei der Abschlusskundgebung in Frankfurt.

Die Bildungsgewerkschaft gehört zu dem breiten Bündnis, das zu dem Protest in Hessen aufgerufen hat. Gut zwei Wochen vor der Landtagswahl wollen die In­itia­to­r:in­nen ein Signal an die Politik senden. In der nächsten Legislaturperiode müsse die Politik die Bildungskrise stärker in den Fokus rücken. „In allen Bildungsbereichen ist es normal geworden, den Mangel zu verwalten“, kritisierte Hartmann. Das müsse sich endlich ändern.

In den übrigen 15 Bundesländern findet der Protest am Samstag statt. In 29 Städten sind Kundgebungen angemeldet. Die Ziele sind die gleichen wie in Hessen. Das bundesweite Bündnis „Bildungswende jetzt!“ fordert die Bundesregierung und die Landesregierungen auf, die Weichen für ein „gerechtes und inklusives“ Bildungssystem zu stellen. Mehr als 150 Bildungsorganisationen, Gewerkschaften, Kitaverbände, Eltern- und Schü­le­r:in­nen­ver­tre­tun­gen unterstützen den Protest.

„Das Ausmaß der Bildungskrise ist mittlerweile so groß, dass die politischen Ent­schei­dungs­trä­ge­r:in­nen es jetzt endlich mit Priorität anpacken müssen“, sagt der Mitinitiator des Bildungsprotestes Philipp Dehne zur taz. Wenn nicht, würde die Gesellschaft immer mehr Kinder verlieren, um die sich Er­zie­he­r:in­nen und Lehrkräfte wegen der schlechten Arbeitsbedingungen nicht mehr ausreichend kümmern könnten.

Vier Forderungen gegen Bildungskrise

Im Kern stellt das Bündnis vier Forderungen auf. Erstens ein Sondervermögen für Bildung über mindestens 100 Milliarden Euro für die notwendigen Investitionen in Kitas und Schulen sowie eine Anhebung der Bildungsausgaben auf 10 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Zweitens ein Staatsvertrag, der alle Bundesländer dazu verpflichtet, genügend Lehrkräfte auszubilden sowie mehr Praxisbezug im Lehramtsstudium.

Drittens eine Neuorientierung von Lehrplänen hin zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), die Schü­le­r:in­nen mehr auf die Herausforderungen der Zukunft vorbereitet. Und viertens einen Bildungsgipfel mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), bei dem Lehrkräfte und Schü­le­r:in­nen auf Augenhöhe über die Lösungen für die Bildungskrise sprechen können.

Tatsächlich sind die Probleme im Bildungssystem gewaltig. Aktuell fehlen bundesweit fast 400.000 Kitaplätze. Jedes vierte Grundschulkind kann am Ende der vierten Klasse nicht richtig lesen. Rund 50.000 Jugendliche verlassen jedes Jahr die Schule ohne Abschluss. Die Chancen für Kinder aus sozial benachteiligten Familien, es aufs Gymnasium zu schaffen, sind immer noch sehr gering. Und von denen, die ein Studium beginnen, ist ein Drittel von Armut gefährdet. Dazu ist der Personmangel an Kitas und Schulen gewaltig.

Erst in dieser Woche haben zwei Studien gezeigt, wie vielschichtig die Krise ist. Eine Umfrage der Robert Bosch-Stiftung unter Lehrkräften hat ergeben, dass die Kinderarmut an Schulen deutlich zugenommen hat und Kinder von der sozialen Teilhabe ausschließt. Und dann warnt eine Hochrechnung der GEW, dass im Jahr 2035 sogar mehr als 500.000 Lehrkräfte fehlen werden.

„Die subjektiven Erfahrungen von uns Fachkräften, dass es nicht mehr geht, wird gefühlt alle paar Wochen von einer Studie bestätigt“, sagt Dehne vom Bündnis „Bildungswende Jetzt!“ Das Eklatante sei, dass die Politik nicht radikal umsteuert, um dieser Krise zu begegnen. Aus diesem Grund fordern Dehne und seine Mitstreiter:innen, dass Kanzler Scholz die Bildungskrise zur Chefsache mache.

Bereits im Juni hat das Bündnis den Mi­nis­ter­prä­si­den­t:in­nen der Länder ihre Forderungen überreicht. Niedersachsens Stephan Weil und Hendrik Wüst aus Nordrhein-Westfalen nahmen damals den Brief im Namen der SPD- und der unionsgeführten Länder entgegen. Eine Übergabe des Appells an den Kanzler hat damals nicht geklappt.

Am Mittwoch gab sich Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) durchaus selbstkritisch. Die Menschen und Familien warteten darauf, dass auch die Politik Signale setze, dass Bildung wirklich ernst genommen wird und Priorität hat, sagte sie im RBB-Inforadio. Sie äußerte aber die Hoffnung, dass ärmere Schulkinder ab dem Schuljahr 2024/25 durch das geplante Startchancen-Programm stärker unterstützt würden. Am Donnerstag gab Stark-Watzinger bekannt, dass sich Bund und Länder auf die Eckpunkte des Programms verständigt haben.

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