Debütroman „Lawinengespür“ über Gen Z: Verlorene Geschwisterseelen

Paula Schweers' Romandebüt beschreibt das Lebensgefühl einer Generation, die in lauter Krisen aufwächst. „Lawinengespür“ widmet sich den Ratlosen.

Portrait der Autorin Paula Schweers

Die Autorin Paula Schweers Foto: Juan Hernandez

Eine Schneedecke von nur dreißig Zentimetern Dicke genügt, um einen Menschen lebendig zu begraben. Rollt eine Lawine über ihn hinweg, kann er sich selbstständig nicht befreien. Man muss zuvor die Zeichen erkennen, jene Stellen identifizieren, an denen eine unbedachte Bewegung die Katastrophe lostreten könnte. Oder man ist mit jenem Talent ausgestattet, das eine der zwei Hauptfiguren in Paula Schweers’ Roman besitzt.

„Lawinengespür“ nennt sie es selbst, und nennt Schweers ihr Debüt. Schon zu Kindheitstagen hat Nora eine besondere Sensibilität für das Unheil entwickelt. Sie weiß im Vorfeld, wann die Schneemassen in ihrem baye­rischen Dorf niedergehen.

Das Inferno, das ihrer Jugend jäh ein Ende setzte, konnte sie mit dieser Gabe aber nicht verhindern. Ihr Halbbruder Leo zündete eines Tages das Elternhaus an und verschwand spurlos. Unbeachtet von den Eltern, die viel zu sehr mit sich beschäftigt waren, hatten die Halbgeschwister sich eine Struktur, eine Art Alltag geschaffen. Nora kümmerte sich um den Haushalt und die depressive Mutter, während Leo Fensterscheiben einschlug, Graffiti sprühte, Drogen verkaufte und sie vor allem selbst nahm. Sein spektakulärer Abgang war auch ein Verrat an der Schwester, die allein zurückblieb.

Zehn Jahre später hat Nora noch nicht recht ins Leben hineingefunden. Sie ist inzwischen in Berlin gelandet, hat ihr Geologiestudium abgeschlossen, und ihre Professorin bietet sich als eine Art Ersatzmutter an. Das könnten beste Aussichten auf eine akademische Karriere sein, aber gerade als sie erfährt, dass sie für ihre Abschlussarbeit einen Preis erhalten soll, geschieht ihr ein Unglück. Sie kann von einem auf den anderen Moment nicht mehr lesen. Zwar erkennt sie die Buchstaben, doch vermitteln sie ihr keine Bedeutungen mehr.

Paula Schweers: „Lawinen­gespür“. Frankfurter Verlags­anstalt, Frankfurt am Main 2023, 258 Seiten, 24 Euro

Die Ärzte wissen nicht, was los ist, als Leser aber ahnt man es. Dieser junge Mensch, der sich so tapfer durch eine höllische Jugend gekämpft hat, durfte nie lernen, Sinn zu empfinden. Nora hat einfach durchgehalten, geschuftet, pflichtschuldig Beziehungen gepflegt, getan, was man eben tun muss. Bloß hat sie keine Freude gefunden, hat sich nicht selbstwirksam gefühlt, kam nie aus ihrer Ohnmacht heraus.

Leergeräumte Seelen

Man kann nicht sagen, dass Leo es besser getroffen hat, den man parallel auf einer Irrfahrt durch die Moskauer Unterwelt verfolgt, wohin es ihn zehn Jahre nach seiner Flucht verschlagen hat. Wie Nora findet dieser haltlose, verlorene junge Mann keinen Schwerpunkt in sich, nichts, was ihn stabilisieren könnte. Nur auf seine Lügen ist Verlass.

Man wird nicht erfahren, warum er damals die Molotowcocktails geworfen hat, und nicht einmal, ob er es selbst weiß. Die beiden Halbgeschwister mögen sehr unterschiedlich sein, doch gleichen sie sich darin, dass ihre Seelen leergeräumt sind und dass sie strikt darauf achten, diese Blöße zu verbergen.

Die Autorin Paula Schweers, geboren 1992 in Bremen, hat Literarisches Schreiben am Literaturinstitut in Leipzig und Europäische Kulturgeschichte in Frankfurt (Oder) studiert. Mit ihrem Romandebüt verfolgt sie einen ehrgeizigen Plan. Ihr geht es nicht allein darum, die Folgen einer verlorenen Kindheit zu schildern, sondern zugleich abstrakter darum, das prekäre Lebensgefühl einer jungen Generation herauszuarbeiten, die in ständigen Ausnahmezuständen aufgewachsen ist, für die eine Krise nach der anderen kam, während beständig eine Katastrophe planetaren Ausmaßes auf sie zurollte.

Der Klimawandel bildet den Hintergrund dieser Geschichte. Man darf die Hauptfiguren und ihre Versuche, sich durchzuschlagen, exemplarisch lesen. Die eine schottet sich emotional ab, um ihre Hilflosigkeit nicht zu spüren und bloß keine Hoffnung zuzulassen. Der andere giert nach Betäubung, flieht in Traumwelten, meidet den Kontakt zu einer Wirklichkeit, in der er nicht lebensfähig wäre.

Jene Panik, von der Greta Thunberg sprach, ist ein wenig in den Hintergrund gerückt, wenn man über die Generationen Y und Z nachdenkt. Mit Fridays for Future, mit Klima- und Politaktivisten oder den Soldaten im Ukrainekrieg sind vor allem solche jungen Menschen medial sehr präsent, die Wehrhaftigkeit aufbringen, die sich auflehnen und zu kämpfen bereit sind. Schweers erinnert an all die anderen, sie widmet sich jenen, die gelähmt sind und nicht wissen, was aus ihnen in dieser Welt werden soll. Man sollte sie nicht aus dem Blick verlieren.

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