Debütroman von Özge İnan: Revolutionsträume in der Türkei

In „Natürlich kann man hier nicht leben“ erzählt İnan von der Zeit um den dritten türkischen Militärputsch. Besonders stark: die aufgeworfenen Fragen.

Porträt von Özge Inan

Die Autorin Özge İnan Foto: Leonardo Kahn

„Ob du’s glaubst oder nicht, es gibt schlimmere Schicksale, als Migrantenkind zu sein.“ Diesen Satz muss sich die 16-jährige Nilay von ihrem großen Bruder Emre anhören, nachdem sie ihm erzählt hat, dass sie von Berlin nach Istanbul will, um dort an den Gezi-Protesten teilzunehmen. Emre wird schnell klar, dass seine Schwester sich nicht nur nach einer neuen Türkei sehnt, sondern ebenso weg aus Deutschland: „Aber frag zehn Leute auf den Straßen von Istanbul, neun von ihnen würden sofort mit dir tauschen.“

Zwei von ihnen waren einst auch Nilays Eltern Hülya und Selim, die eigentlichen Hauptfiguren in Özge İnans Romandebüt „Natürlich kann man hier nicht leben“. Sie haben guten Grund, an den Revolutionsträumen ihrer Tochter zu zweifeln. Wir springen nun ins Jahr 1980, kurz vor dem dritten türkischen Militärputsch. Auch Selim ist damals 16 und in einer Schülergruppe der Kommunistischen Partei in Izmir aktiv.

Seit Monaten gibt es blutige Zusammenstöße – Gerüchte über ein Einschreiten der Armee spitzen sich zu. Am Abend des Putsches wird Selim beim Plakatekleben verhaftet, kommt aber rechtzeitig wieder frei, um in der Stadt die Panzer einrollen zu sehen. Sein Leben wird auf absehbare Zeit nicht einfacher werden.

Ein Jahr später ist Hülya in der vierten Klasse, als ihr Vater verhaftet wird und für fünf Jahre ins Gefängnis kommt. Als er gerade wieder draußen ist, muss kurzzeitig auch Hülyas kurdischer Schwager hinter Gitter.

Özge İnan: „Natürlich kann man hier nicht leben“. Piper, München 2023, 240 Seiten, 24 Euro

Die Statistiken zum Ausnahmezustand infolge des Putsches sprechen für sich: mehr als eine halbe Million Festnahmen, tausende Anklagen zur Todesstrafe, Hunderte gestorben unter Folter. Verboten wurden Parteien, Vereine, Zeitungen et cetera. Immerhin 30.000 Menschen gelang die Flucht ins Ausland.

Als Hülya und Selim sich 1990 in einer linken Hochschulgruppe kennenlernen, ist das Kriegsrecht zwar aufgehoben, aber die (kritische) politische Arbeit weiterhin fast unmöglich. Immer mehr ihrer Freunde denken ans Auswandern, so auch Selim. Die selbstbewusste Hülya sieht es etwas widersprüchlicher: „Natürlich kann man hier nicht leben. Aber deshalb haut man doch nicht einfach ab.“ Zumal auch das Leben in der Fremde keineswegs ein Kinderspiel ist. Wir ahnen schon, dass Hülya es am Ende nicht ganz freiwillig gewählt haben wird.

Es gehört zu den erstaunlichen Seiten von İnans Roman, dass sie das Leben ihrer jungen Protagonisten trotz allem in scheinbarer Normalität schildert. Sie leben, lieben, arbeiten, studieren, gehen ins Café oder Kino und brennen für ihre Sache wie andere junge Menschen – nur dass sie eben regelmäßig ihre Zeit auch mit Polizeikontrollen, Schlägereien und Verhaftungen verbringen und froh sind, wenn sie dabei nur eine ordentliche Tracht Prügel kassieren.

Gerade diesen Lebensmut, das entschlossene, auch ausgelassene Nutzen der engen Freiräume, die man hat, wollte İnan vermitteln, so verrät sie im Verlagsinterview.

Humorvoller auktorialer Ton

Die genau wie ihre Heldin Nilay 1997 in Berlin geborene Autorin, die auch als Journalistin arbeitet, erzählt zwar nicht die Geschichte ihrer Familie (İnans Vater floh bereits 1980 aus der Türkei), aber setzt die Geschichten, mit denen sie im Umfeld ihrer Eltern aufgewachsen ist, nun zu fiktiven Charakteren zusammen. Das gelingt ihr auf überzeugende, durchaus auch ergreifende Weise. Sie erzählt in einem meist ruhig-gelassenen, oft humorvollen auktorialen Ton, der frei ist von Stilexperimenten (wenn auch nicht ganz von Stilblüten).

„Natürlich kann man hier nicht leben. Aber deshalb haut man

doch nicht einfach ab.“

Die zunehmend großen Zeitsprünge Richtung Gegenwart bringen es mit sich, dass vieles nicht auserzählt wird, nur einige szenische Schlaglichter den Fortgang der Handlung beleuchten. Das lässt Raum für eigene Gedanken: Wie würde man selbst an Nilays Stelle handeln und empfinden? Was hätten ihre Eltern anders machen sollen oder können? Wo und wie genau kann man denn nun wirklich (nicht) leben?

Es ist eine der großen Stärken des Romans, all diese Fragen aufzuwerfen, ohne dabei so zu tun, als könnte es für sie – umso mehr unter Bedingungen von politischer Unfreiheit – je eine eindeutige Antwort geben.

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