Demokratiebewegung in Israel: Durch die rechtsreligiöse Linse

Die Rechte triumphiert. Israels Protestbewegung will weiter gegen die Justizreform demonstrieren. Kri­ti­ke­r*in­nen fehlt in beiden Lagern etwas.

Protestierende in Israel.

Zu nationalistisch, zu militaristisch, finden einige: Auch Reservisten gehören zur Protestbewegung Foto: Amir Cohen/reuters

BERLIN taz | Nach dem großen Knall der vergangenen Woche hat sich das israelische Parlament in die Sommerpause verabschiedet. Während Israels Rechte mit Triumphgefühlen in die Ferien geht, nachdem die Regierung den ersten Teil ihrer umstrittenen Justizreform in Gesetzesform gegossen hat, will die israelische Protestbewegung den Druck aufrechterhalten. Auch am Wochenende kam es erneut zu Massenprotesten gegen die rechtsreligiöse Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

Tausende Menschen gingen dazu am Samstagabend mit Nationalflaggen auf die Straßen und verwandelten Tel Aviv erneut in ein blau-weißes Flaggenmeer. Auf den Plakaten standen Sprüche wie „Wir weigern uns, einer Diktatur zu dienen“ oder einfach nur das Wort „Demokratie“. Mehr als 170.000 Menschen sollen allein in Tel Aviv demonstriert haben. Nachdem der erste Teil nun beschlossen ist, wollen sie verhindern, dass die Regierung nach der Sommerpause weitere Elemente der geplanten Reform vorantreibt – und die Justiz weiter schwächt.

Während die Protestbewegung sich selbst als Hüterin von Demokratie und Rechtsstaat versteht und von vielen internationalen Be­ob­ach­te­r*in­nen als solche gefeiert wird, blickt die israelische Linke bisweilen zwiegespalten auf das heterogene Lager der Regierungskritiker*innen. Der Aktivist und Journalist Haggai Matar, Geschäftsführer des Magazins +972, spricht sogar lediglich von einer „sogenannten Demokratiebewegung“.

„Einerseits bin ich schwer beeindruckt, wie die Leute das verteidigen, was ihre Erfahrung von Demokratie ist“, sagt er. „Andererseits ist vieles an dieser Bewegung gewissermaßen reaktio­när.“ Man wolle einfach zu dem zurück, wie es vor einem Jahr noch war. Das einflussreiche Oberste Gericht des Landes solle all seine Befugnisse behalten und die israelische Armee weiter so arbeiten wie bisher.

Die anhaltende Besatzung? Werde ausgeblendet

Was von großen Teilen der Protestbewegung ausgeblendet werde, seien die anhaltende Besatzung der palästinensischen Gebiete und die Folgen, die der Konflikt mit den Palästinensern auch für Israel hätte. Die Aufrechterhaltung der dauerhaften militärischen Kontrolle über das Westjordanland und den Gazastreifen sowie die israelischen Siedlungen im Westjordanland spielten für viele schlicht keine Rolle.

„Viele ignorieren die Rolle des Obersten Gerichts, das grünes Licht für Kriegsverbrechen gegeben hat, und die Hauptfunktion der Armee als Besatzungskraft“, kritisiert Journalist Matar. Sieben Monate nach Beginn der Proteste bleibe Israels linkes Spektrum deshalb trotz grundsätzlicher Unterstützung der Protestbewegung skeptisch hinsichtlich ihrer reaktionären, nationalistischen und militaristischen Schlagseite.

Selbst die viel beachteten Proteste der Re­ser­vis­t*in­nen der israelischen Armee, die aus Protest gegen die Justizreform drohen, ihren Militärdienst zu verweigern, sieht Matar kritisch. „Sie organisieren sich politisch auf Grundlage ihrer militärischen Identität“, sagt er. Dabei würden sie Glaubwürdigkeit und Einfluss aus der Tatsache ziehen, Teil des Sicherheitsapparats zu sein. „Das ist sehr wirksam im israelischen Kontext, aber gleichzeitig hochgradig problematisch“, findet Matar.

Auch für den Politikwissenschaftler Yoav Peled ist die Protestbewegung eingebettet in eine breite gesellschaftliche und ­politische Hegemonie der Rechts­religiösen. „Sogar die Protestbewegung versteht die Realität durch die Linse des religiösen Zionismus“, meint Peled. Der religiöse Zionismus ist eine ­Bewegung, die sich als Gegenentwurf zum sozialistischen Zionismus der ­israelischen Arbeiterpartei versteht. Als gleichnamiges Parteienbündnis ist die Bewegung auch in der aktuellen ­Koalitionsregierung vertreten und stellt mit dem Finanzminister, Bezalel ­Smotrich, und dem Minister für ­nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, zwei der extremsten Kräfte der Regierung.

Für Peled sinnbildlich war ein Demonstrationsmarsch der Protestbewegung am Montag vergangener Woche, dem Tag, als das israelische Parlament mit der Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel ein erstes Element der Justizreform verabschiedete. Tausende israelische Demonstrierende marschierten von der Altstadt bis zum Knesset-Gebäude. Ausgangspunkt des Marsches war ausgerechnet die Klagemauer in Jerusalems Altstadt – für Peled ein klarer Hinweis, dass es selbst dem oppositionellen Lager nicht mehr gelingt, sich aus der Hegemonie der Rechtsreligiösen zu lösen, dass es sich im Religiösen verorten muss, um Gehör zu finden.

„Um es kurz zu machen: Der religiö­se Zionismus – und das heißt die Siedler – hat das Land übernommen“, sagt Peled. Seit Langem schon sei eine kulturelle Hegemonie der Rechtsreligiösen zu beobachten gewesen. Mit der aktuellen Regierungskoalition sei diese nun zu politischer Vorherrschaft geworden. Das Sagen habe in Israel derzeit eine breite Koalition des religiösen Zionismus, der ultraorthodoxen Juden und einer, wie Peled sagt, Ethnoklasse, die sich aus der unteren Mittelschicht und Mittelschicht zusammensetzt, unter denen viele Mizrachim seien, Juden also, die aus Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas stammen.

Peled verweist auf den Philosophen Jeschajahu Leibowitz, der bereits kurz nach dem Sechstagekrieg 1967, also dem Beginn der militärischen Besatzung der palästinensischen Gebiete, vor der derzeit zutage tretenden Entwicklung gewarnt habe. „Er sagte: Wenn man die Siedlungen weiter wachsen lässt, werden sie das Land übernehmen. Er hat recht behalten.“ Der andauernde Konflikt mit den Palästinensern, das ständige Gefühl von existenzieller Unsicherheit und Schuldgefühle aufgrund der Militärbesatzung hätten die Israelis immer weiter nach rechts getrieben, sagt Peled. Dass diese Kräfte nun in der Regierung sitzen, überrascht ihn nicht.

Der Rechtsruck trat bereits zwischen 2017 und 2021 zutage

Bereits in den Jahren 2017 bis 2021, als Donald Trump in den USA und Netanjahu in Israel an der Macht waren, trat der Rechtsruck in Israel offen zutage. Gleiches gilt für die dezidiert anti­palästinensische, gegen die Rechte von Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen gerichtete Stoßrichtung. In enger Absprache mit Netanjahu verlegte Trump nicht nur die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem und anerkannte israelische Siedlungen im Westjordanland als legal, während der israelische Premier eine offizielle Annexion des Westjordanlands versprach. Trumps Nahost-Team war auch aktiv in die Förderung der Siedlerbewegung involviert.

Washingtons damaliger Israel-Botschafter David Friedman lässt sich, wie heute die extremen Kräfte in Netanjahus Regierung, am besten als Teil der Siedlerbewegung fassen. Während Smotrich in einer Siedlung im Westjordanland lebt, war Friedman Präsident eines US-amerikanischen Vereins, der Spenden in Millionenhöhe für die Siedlung Bet El sammelte. „Zwischen Netanjahu und Trump war das eine richtige Freundschaft“, sagt Peled, „viele hoffen nun, dass Trump die nächste Wahl in den USA gewinnt.“

Doch vorher stellt sich die Frage, wie es in Israel weitergeht. Der Journalist und Aktivist Matar, der sich bei den Protesten gegen die Justizreform dem sogenannten Anti-Besatzungs-Block anschließt, gibt sich „zutiefst besorgt“, was die Pläne der Regierung angeht. Im gleichen Atemzug sagt er: „Ich bin seit über zwanzig Jahren Aktivist und spüre derzeit eine Offenheit für eine ernsthafte Diskussion über die Besatzung in wachsenden Teilen der israelischen Gesellschaft, wie ich sie noch nicht erlebt habe.“ Erstmals seit zwanzig Jahren bestehe die Möglichkeit, ein breites politisches Lager aufzubauen, das sich der Besatzung widersetzt.

Anfangs sei dem Anti-Besatzungs-Block auf den Demonstrationen mit viel Kritik, ja sogar mit Feindschaft begegnet worden. Nun würden immer mehr Menschen auch im Mainstream der Protestbewegung die Botschaften des Blocks übernehmen. „Der Wandel der Meinungen innerhalb der Protestbewegung ist sehr ermutigend“, sagt Matar, „immer mehr Menschen verbinden die Punkte“ – dass zwischen Besatzung und Siedlung einerseits und den Plänen zum Umbau des israelischen Rechtsstaats andererseits eine klare Linie besteht.

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