Die Mutterrolle im Theater: Die Angst, nie zu genügen

Für das Nationaltheater Mannheim hat Laura Linnenbaum den großartigen Roman von Daniela Dröscher „Lügen über meine Mutter“ auf die Bühne gebracht.

Drei Frauen auf der Bühne hantieren mit historischen Kostümen. Viele Kleider hängen hinter ihnen auf einer Leine

Wäscheleinen versinnbildlichen das straff gespannte Netz, in dem vor allem die Töchter viel emotionale Verantwortung übernehmen Foto: Maximilian Borchardt

Das Buch endet mit der Szene, wie die Mutter nach vielen Jahren geht: aufrecht, mit leeren Händen und diesem großen Herzen, dem keine Demütigung etwas anhaben kann. Der Theaterabend endet mit einer Art Märchen, in dem der endlich entkommene Mutterkörper eine Kometenbahn beschreibt. Und da erkennt man schon, aus welcher Per­spek­tive Laura Linnenbaum und ihre Dramaturgin Annabelle Leschke die Geschichte betrachten, die Daniela Dröscher in „Lügen über meine Mutter“ erzählt.

In ihrem autofiktionalen Meisterinnenwerk in der Tradition von Annie Ernaux und Édouard Louis, das 2022 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, geht ­Dröscher ihren Erinnerungen an eine Frau nach, die alle Erwartungen übererfüllte, die an Frauen in der westdeutschen Provinz in den achtziger Jahren gestellt worden sind. Eine top Hausfrau, die neben ihren beiden Töchtern noch das Nachbarkind versorgt, 13 Jahre lang ihre eigene Mutter pflegt und auch beruflich voranzukommen versucht, kann es ihrem von eigenen Abstiegsängsten absorbierten Mann nicht recht machen.

„Es ist nie genug“, heißt es einmal, und das bezieht sich nicht nur auf das Gewicht, dass sie seiner Meinung nach verlieren soll. Es ist wie ein Wahn: Dass er nicht befördert wird, daran ist wie an allem, was ihm nicht gelingt, einzig die Nicht-„Vorzeigbarkeit“ seiner Frau schuld. Ihr dicker Körper ist das Schlachtfeld gesellschaftlicher Zwänge, worauf er mit chronischen Schmerzen reagiert. Daniela Dröscher feiert sie trotzdem als Heldin.

Laura Linnenbaum, die mit der Uraufführung von „Lügen über meine Mutter“ ihr Regie-Debüt am Nationaltheater Mannheim gibt, umzingelt diese Heldin mit Fragen: „Wie und wann nahm dieses Drama seinen Anfang?“, rufen Maria Munkert, Ragna Pitoll und Antoinette Ullrich, die meistens alle drei das Kind Daniela, genannt Ela, sind. Sie leihen aber auch dem Vater, der Mutter oder Oma ihre Stimmen.

Geschickte Vermeidung des Illustrativen

Verkörperung ist nicht, aber sehr viel Körper und Bewegung. Zwischen den Klippen des Papiernen und der Illustration, an denen theatrale Romanadaptionen oft zerschellen, navigiert Linnenbaum geschickt gen opulente Abstraktion.

Für den dicken Körper, der auch im Roman nie beziffert und vermessen wird, gibt es kein Bild. Nur einmal stopft sich Pitoll hektisch Zettel unter ihr strumpfartiges Kostüm. Ansonsten tanzen drei sehr schlanke Frauen das Dilemma der modernen Frau zu Wirtschaftswunder-Jazz, machen Aerobic für das Zeitkolorit oder lassen Ballons quietschen: Pinkfarbene Stellvertreter des einen Ballons, den sich die Mutter in den Magen implantieren ließ.

Massen von Kleidern, die vom Schnürboden fallen und an Wäscheleinen gehängt werden, machen vor allem bildlich was her. Die Leinen selbst aber versinnbildlichen das straff gespannte familiäre Netz, in dem vor allem die Töchter zu früh zu viel emotionale Verantwortung übernehmen. In einer besonders eindringlichen Szene sitzt Ullrich als Kind unter dem langen Tisch, an dem die beiden anderen große weiße Köpfe aufgezogen haben.

Das Kratzen des Bestecks

Der Vater macht gerade mit wenigen Worten alle Aufbruchsfantasien der Mutter zunichte, orchestriert vom Kratzen des Bestecks in überdimensionierten Metallschüsseln. Und dann träumt das Kind, wie die Gedemütigte mit der Gabel auf ihren Demütiger losgeht.

Traum- und Fantasiebilder wie diese, ob in Zeitlupe oder hektisch und fast albern, rücken die Perspektive der kleinen Ela ins Zentrum, die Mitte der Achtziger noch keine zehn Jahre alt ist. Aber auch das erwachsene, heute 46-jährige Autorinnen-Ich bekommt seine Szene, das im Netz aus Angst, Scham und der Überzeugung, nie zu genügen, hängengeblieben ist.

Damit können sich sicher viele Frauen nicht nur dieser Generation identifizieren. Dass das Leid und die unsichtbare Überlastung der Mutter daneben fast zum Begleitrauschen geraten, ist dennoch schade. Beides so anrührend plastisch gemacht zu haben, ist eine der großen Leistungen von Dröschers Buch.

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