Dilek Kolat im Interview: "Der Protest wird instrumentalisiert"

Das Zeltlager auf dem Oranienplatz ist keine Dauerlösung, sagt die Senatorin für Integration. Ein Gespräch über Flüchtlingsproteste und den Roma-Aktionsplan.

Seit Oktober 2012 protestieren Flüchtlinge mit einem Zeltlager auf dem Kreuzberger Oranienplatz gegen die deutsche Asylpolitik. Bild: dpa

taz: Frau Kolat, im Dezember haben Sie den hungerstreikenden Flüchtlingen am Brandenburger Tor Ihre Hilfe versprochen. Heute protestieren diese noch immer, auf dem Oranienplatz. Was ist schiefgelaufen?

Dilek Kolat: Es ist gar nichts schiefgelaufen. Ich hatte den Flüchtlingen damals versprochen, mich für ihre Forderungen einzusetzen, weil ich 70 bis 80 Prozent davon teile. Und nach dem Besuch haben sie den Hungerstreik ja auch aufgegeben, weil sie gemerkt haben, dass sie Gehör finden.

Gehör vielleicht – erfüllt ist aber bislang keine der Forderungen. Und die CDU will gar nicht mehr darüber reden, bis das Camp nicht geräumt ist.

Wir müssen zusammen mit den Flüchtlingen eine behutsame Beendigung des Camps erreichen. Ihnen zu suggerieren, das wäre eine Dauerlösung, finde ich verantwortungslos.

Wer suggeriert das?

Der Protest wird sehr stark instrumentalisiert: auf der einen Seite von Aktivisten oder dem grünen Exbezirksbürgermeister Franz Schulz; auf der anderen Seite von Teilen der CDU. Was wir jetzt brauchen, sind aber pragmatische Lösungen.

46, ist seit November 2011 Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration in Berlin. Die SPD-Politikerin kam mit drei Jahren aus der Türkei nach Berlin. Sie studierte Wirtschaftsmathematik an der Freien Universität.

CDU-Staatssekretär Bernd Krömer verweist auf eine zunehmende Kriminalität um den Oranienplatz, die eine Räumung des Camps rechtfertigen soll.

Das ist natürlich nicht hilfreich. Und von seinem Parteikollegen Mario Czaja hören wir ja, dass die Kriminalitätsrate im Umfeld von Flüchtlingsunterkünften nicht steigt. Ich glaube, es wäre besser, diesen Fakt in die Bevölkerung hineinzutragen, um den Menschen ihre Ängste zu nehmen, die ja oft auch von Unkenntnis herrühren.

Ein erneutes Treffen mit den Flüchtlingen haben Sie vor zwei Wochen, wie alle anderen eingeladenen Senats- und Bundespolitiker, aber auch abgesagt. Warum?

Die Integrationsbeauftragte Monika Lüke hat an meiner Stelle teilgenommen. Sie behandelt den ganzen Bereich ja auch. Ich kannte die Forderungen der Flüchtlinge ja nun bereits und versuche sie auf politischer Ebene umzusetzen.

Was nur nicht so richtig klappt.

Ich bin aktiv geworden dort, wo die politischen Forderungen auch hingehören – auf der Bundesebene. Und es gibt Fortschritte. Um noch mehr von den berechtigten politischen Forderungen umzusetzen, brauchen wir andere politische Konstellationen. Ich habe damals gesagt und sage auch noch heute, dass ich die Residenzpflicht für nicht zeitgemäß halte und abschaffen will.

Auch die wird von Ihrem Koalitionspartner verteidigt, der vor „Flüchtlingsschwemmen“ warnt.

An dieser Stelle ist unser Koalitionspartner aber nicht maßgeblich, denn in Berlin haben wir die Residenzpflicht ja schon zusammen mit Brandenburg gelockert. Es wird immer so getan, als würden alle Flüchtlinge aus der ganzen Bundesrepublik nach Berlin kommen, wenn man die Regelung aufheben würde, aber das entspricht nicht der Realität. Die Zuteilung der Flüchtlinge zu den Ländern und Landkreisen würde ja bestehen bleiben, was eine gerechte Lastenaufteilung sichert. Nur reisen zwischen den Gebieten dürften sie. Dass das jetzt verboten ist, ist eine unnötige Freiheitseinschränkung. Man kann nicht sagen: Freiheit ist ein hohes Gut in unserer Demokratie, aber Flüchtlinge dürfen ihre Bezirke nicht verlassen, nicht mal zum Beispiel dort sich aufhalten, wo Frau und Kind in Aufnahmestellen in anderen Regionen gemeldet sind.

Die Initiative, die Residenzpflicht abzuschaffen, ist aber im Bundesrat gescheitert.

Vorerst gibt es keine Mehrheit dafür. Ich halte dennoch an der Forderung fest. Dafür sind wir bei der Forderung nach schnellerem Zugang zum Arbeitsmarkt einen Schritt weitergekommen. Von mir aus bräuchte es da gar keine Fristen. Nun wurde die Wartezeit immerhin von einem Jahr auf neun Monate verkürzt, wie es Europastandard ist. Das ist ein Fortschritt.

Was sind denn Forderungen der Flüchtlinge, die Sie nicht teilen?

Das sofortige Bleiberecht für alle. Da kann ich nicht mitgehen.

Und die nach Auflösung der Sammelunterkünfte?

Vom Grundsatz her teile ich diese Forderung, und in Berlin legen wir die Priorität ja auch schon länger auf eine Unterbringung in Wohnungen. In der Umsetzung haben wir damit aber Probleme, weil preiswerter Wohnraum einfach nicht ausreichend da ist. Je schwieriger der Wohnungsmarkt in Berlin ist, desto schwieriger wird es natürlich auch, diesen Anspruch umzusetzen. Erst recht, wenn die Zahl der Flüchtlinge, die zu uns kommen, steigt. Wir brauchen momentan Gemeinschaftsunterkünfte, damit wir überhaupt Unterkünfte haben.

Es sind oft Bezirkspolitiker, die sich derzeit mit kreativsten Ausreden gegen die Unterbringung von Flüchtlingen wehren. Auch Sozialdemokraten.

Dass die prüfen, wo passt eine solche Unterkunft hin und wo nicht, finde ich in Ordnung. Natürlich müssen wir für Unterkünfte sorgen. Auf der anderen Seite müssen wir aber auch gucken, dass wir das mit Blick auf die Vor-Ort-Gegebenheiten sensibel machen.

Also kein Flüchtlingsheim in Hellersdorf, wo Anwohner und Rechtsextreme gerade Stimmung gegen eine Flüchtlingsunterkunft machen?

Selbstverständlich gehören Flüchtlingsunterkünfte auch nach Hellersdorf! Verbunden mit der notwendigen Aufklärung und Sensibilität sehe ich dort auch keine unüberwindbaren Schwierigkeiten. Anwohnersorgen müssen wir ernst nehmen. Aber rechtsextreme Hetze dürfen wir keinesfalls hinnehmen. Den Versuch, Flüchtlinge zu kriminalisieren, dürfen wir Demokraten nicht zulassen.

Jetzt in den Sommermonaten beschäftigen Berlin auch wieder andere Zuwanderer: die Roma. Warum braucht die Stadt für diese Gruppe einen eigenen Aktionsplan, wie Sie ihn gerade veröffentlicht haben?

Erst mal lege ich großen Wert darauf, diese Themen zu trennen. Fast alle Roma-Familien sind EU-Bürgerinnen und Bürger und halten sich hier rechtmäßig auf. Das ist Folge der EU-Osterweiterung. Und jeder, der dafür war, muss auch damit rechnen, dass diese Menschen hierherkommen.

Laut Ihren eigenen Zahlen leben in Berlin derzeit 16.000 Bulgaren und 8.800 Rumänen. Ist die Stadt damit wirklich schon überfordert?

Auch wenn die Zahlen jetzt nicht so groß erscheinen, ist der Zuwachs an Menschen aus Rumänien und Bulgarien in den letzten Jahren beachtlich gewesen. Ihre soziale Situation ist sehr speziell, sodass Handeln dringend geboten war. Ich glaube, dass die Anforderungen an diese Menschen bei der Partizipation um ein Vielfaches höher sind als für Menschen mit Migrationshintergrund, die schon länger hier sind. Da müssen wir sehr früh reagieren, damit wir nicht in zehn Jahren sagen: Mein Gott, hätten wir mal mehr gemacht.

Wie hilft da der Aktionsplan?

Damit wollen wir ganz pragmatische Lösungen anbieten. Über Straßensozialarbeit sollen die Menschen an unsere Hilfssysteme herangeführt werden. In Lerngruppen lernen die Kinder die deutsche Sprache. In den Schulen werden den Jugendlichen berufliche Perspektiven aufgezeigt. Und wir sorgen für Impfschutz und gesundheitliche Beratung. Diese Menschen haben das Recht darauf, hierzubleiben. Wir wollen sie deshalb vollständig integrieren. Dafür gibt es den Aktionsplan.

Sie nennen Maßnahmen, die es alle bereits gibt. Zudem fehlt dem Aktionsplan eines völlig: die finanzielle Unterfütterung. Was soll das bringen?

Dieser Plan bringt eine ganze Menge an neuen Ansätzen. Auch weil sich alle Senatsverwaltungen und Bezirke dazu bekennen, dass das Thema Roma eine gemeinsam zu lösende Querschnittsaufgabe ist.

Am Ende aber könnte es von allen heißen: Wir würden ja gerne helfen, aber wir haben kein Geld. Und nichts passiert.

Die Wahrscheinlichkeit dafür ist sehr gering. Ich sehe bei allen die Bereitschaft, sich zu beteiligen. Und unsere Aktivitäten der letzten zwei Jahre haben sich doch schon ausgezahlt: Die ganze Roma-Debatte hat sich heute beruhigt. Senat und Bezirke haben frühzeitig Integrationsmaßnahmen getroffen und sich gekümmert. Die Stadt hat gezeigt, dass sie integrationsfähig ist.

Mal abgesehen vom Roma-Aktionsplan passiert derzeit allerdings integrationspolitisch wenig in Berlin.

Wie kommen Sie denn darauf?

Der jüngste Bericht zum Partizipationsgesetz hat vor allem gezeigt, dass kaum etwas umgesetzt wurde. Die neue Integrationsbeauftragte Monika Lüke ist kaum präsent. Und vom Landesbeirat für Integration hört man seit der missglückten und dann nachgeholten Wahl nichts mehr.

Das ist mir zu vergangenheitsorientiert. Medien schauen gerne auf Konflikte, damit sie was zum Schreiben haben. Wir machen eine erfolgreiche, aber nicht sehr laute Arbeit.

Wir schreiben auch über Erfolge. Wo sehen Sie diese denn für Ihre Integrationspolitik?

Wir haben nicht nur die Themen Flüchtlinge und Roma vorangebracht, sondern auch die Umsetzung des Partizipations- und Integrationsgesetzes. Die neuen Förderrichtlinien für die Selbstorganisationen von Migranten sind auf dem Weg. Da wird ab 2014 viel Bewegung reinkommen. Wir haben die interkulturelle Öffnung erstmals auch in die Privatwirtschaft gebracht: In der Metall- und Elektrobranche gibt’s jetzt auch unser Modell ’Berlin braucht dich‘, das gezielt migrantische Jugendliche anspricht. Und wir werden die Stadtteilmütter landesweit auf eine solide Basis stellen.

Was heißt das?

Zum einen will ich Kontinuität: Dass wir Stadtteilmütter bekommen, die dauerhaft im Einsatz sind, statt ständig zu wechseln. Zum anderen möchte ich das Projekt aber auch mehr als Beschäftigungsmaßnahme nutzen. Meine Erfahrung ist, dass sich viele arbeitslose Frauen als Stadtteilmutter ungemein selbst entwickeln. Sie werden selbstbewusst, sie lernen die Sprache schneller, sie sind im Kiez bestens vernetzt. Das ist eine Chance, diese Frauen später in eine richtige Beschäftigung zu vermitteln.

Wie soll das alles finanziert werden? Der Senat hat gerade beschlossen, Ihren Etat bis 2015 von heute 101 auf 77 Millionen zu kürzen. Und zugestandene EU-Gelder haben Sie nicht abgerufen.

Das sehe ich gelassener, als es gerade diskutiert wird. Die Etatkürzung begann ja bereits bei meiner Vorgängerin. Dahinter steckt auch eine Umstellung der Bundesinstrumente für die Arbeitsmarktförderung. Und nicht verausgabte EU-Mittel sind nicht nur ein Thema für mein Haus, sondern für alle Senatsverwaltungen. Und diese Gelder verfallen ja nicht. Mein Ziel bleibt, die Arbeitslosenquote in Berlin zu reduzieren, vor allem die der Jugendlichen. Das trifft ja gerade Menschen mit Migrationshintergrund. Wenn wir da Arbeit schaffen, ist das die Basis für Teilhabe und wird viele Probleme beseitigen, die wir heute mit Migration in Verbindung bringen. Übrigens gibt es für den Bereich Integration in meinem Etat keine Kürzungen, sondern einen Zuwachs, was ich als einen Erfolg sehe.

Letzte Frage: Sie galten mal als Anwärterin für die Nachfolge von Bürgermeister Klaus Wowereit. Zuletzt waren nur noch Jan Stöß und Raed Saleh im Gespräch. Machen das jetzt die Männer unter sich aus?

Ach kommen Sie, diese Diskussion stellt sich absolut nicht.

Für Stöß und Saleh vielleicht schon.

Der Regierende hat klar gesagt, dass er bis zum Ende der Legislatur gewählt ist. Es bleibt dabei: Die Diskussion stellt sich nicht.

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