Doppelte Spurensuche: Der Weg des Flügels

Die jüdische Pianistin Henny Bromberger, in Minsk ermordet, war ein Mittelpunkt des Bremer Kulturlebens. So wie nach dem Krieg Rudolf Blaum, der vehement für die Rückführung von Beutekunst kämpfte. Beide hatten einen Bechstein - möglicherweise dasselbe Instrument.

Um den Anfang dieser Geschichte zu finden, muss man dicht über dem Boden suchen: der Stolperstein für Henny Bromberger. Bild: Michael Bahlo

BREMEN taz | Diese Geschichte endet in Vornehmheit. Zumindest vorläufig. In einer ruhigen Straße in Bremens bester Lage, unter hohen Bäumen und hinter Sprossenfenstern. Es ist die Geschichte eines Flügels, der in Schwachhausen steht. Er wurde 1942 ersteigert. Auf einer „Judenauktion“.

Der Enkel des Ersteigerers kennt diese Geschichte erst seit wenigen Tagen. „Sie rufen wegen Opas Flügel an?“, fragt Stefan Blaum am Telefon. Der stünde in der Tat immer noch im Wohnzimmer seiner verwitweten Mutter. Ja, ein Bechstein. Aber nicht mehr schwarz. „Mein Vater hat ihn umlackieren lassen.“

Blaums Vater, Rudolf, war der große alte Mann des Bremer Musiklebens. Und des Kunstlebens. 32 Jahre Vorsitzender der Philharmonischen Gesellschaft, 55 Jahre im Vorstand des Kunstvereins. Als dessen Vorsitzer setzte er sich vehement – und völlig zu Recht – für die Rückführung von Beutekunst ein. Um die kriegsbedingten Verluste der Kunsthalle kümmerte er sich auch in der Beutekunst-Kommission des Bundes: „Die Russen sollen sehen, dass wir wissen, wo unsere Sachen sind, und dass man mit gestohlenen Kunstwerken keine Geschäfte macht.“ Schließlich gelte: „Deutsches Eigentumsrecht ist durch den Krieg nicht beeinträchtigt.“ Alles andere sei „abenteuerlich und ungerecht“. 2005 starb Rudolf Blaum.

Es gibt in Bremen noch eine zweite Flügel-Geschichte. Und möglicherweise ist es die Geschichte desselben Instruments. Sie beginnt damit, dass der jüdische Musiker David Bromberger 1876 nach Bremen zieht, „wo das Klavier nur selten vertreten war“, wie Senator Friedrich Nebelthau rückblickend schrieb. Bromberger, mit Brahms befreundet, habe in Bremen entscheidende Pionierarbeit auf dem Gebiet der Kammermusik geleistet, betonte der Senator gegenüber der städtischen Musikkommission. Die ernannte Bromberger daraufhin zum Professor. Das war 1902. 39 Jahre später wurden Brombergers Töchter nach Minsk deportiert, sein Flügel beschlagnahmt.

Beide Geschichten spielen in den höchsten gesellschaftlichen Sphären der Stadt. Deren Hautevolee veranstaltete für Bromberger und seine Tochter Henny ständig großformatige Hauskonzerte. Werke der Tochter Dora, der Malerin, wurden von der Kunsthalle angekauft. Die „besten“ Familien schickten ihre Töchter als Schülerinnen zu den Brombergers. Einige dieser Namen stehen auf den Listen der „Judenauktionen“ – als Bieter.

Blaums Enkel, Inhaber einer Treuhand- und Wirtschaftsprüfgesellschaft, hat einen herrlichen Blick auf die Wall-Anlagen. Im selben Gebäude arbeitete schon sein Vater, Chef einer 1885 gegründeten Anwalts-Sozietät. Durch ein beeindruckendes Treppenhaus geht es ins erste Obergeschoss. Was wird Blaum zu der Liste sagen? Er sagt: „Ich bin nicht überrascht.“ Denn: „Dass meine Familie nicht gerade zum Widerstand gehörte, ist mir klar.“

In der Tat: Großvater Blaum war technischer Direktor der Atlas-Werke, die kriegswichtige Motoren produzierten. 1933 gehörte er zu den ersten, die dem NS-Senat gratulierten. Den Flügel ließ er sich durch einen Angestellten für 2.000 Reichsmark ersteigern, bezahlt in bar. „Der konnte es sich leicht leisten, so ein Instrument ganz normal im Geschäft zu kaufen“, sagt sein Enkel kopfschüttelnd. Dort hätte er etwa das Doppelte gekostet.

Von Blaums Fenster aus sieht man die Stelle, wo das Bromberger-Haus stand: Contrescarpe 93. Hier starb 1930 David Bromberger, von den Bremer Nachrichten wegen seiner „vornehmen Gesinnung“ und Verdienste „um die musikalische Entwicklung der Stadt“ betrauert. Und hier traf im Oktober 1941 ein amtliches Schreiben an seine unverheiratet im Elternhaus lebenden Töchter ein: die Ankündigung der „Evakuierung“ in den Osten.

Die mittlerweile völlig zurückgezogen lebenden Schwestern – Dora durfte schon lange nicht mehr ausstellen, Henny hatte ihre letzten Schülerinnen, die sich noch durch den Hintereingang hinein getraut hatten, längst verloren – mussten kurz darauf eine Erklärung unterschreiben: „Ich, der unterzeichnende Jude, bestätige hiermit, ein Feind der Deutschen Regierung zu sein und als solcher kein Anrecht auf das von mir zurückgelassene Eigentum, auf Möbel, Wertgegenstände, Konten und Bargeld zu haben.“

Sie bekamen ein Merkblatt: „Meine Wohnung habe ich so herzurichten, dass sie bei meinem Verlassen polizeilich versiegelt werden kann (…). Die Gas- und Lichtrechnungen sind vorher zu begleichen.“ Das 16-seitige Formular, in dem die Deportierten über allen erdenklichen Besitz vom Bankdepot bis zum Weckglas Auskunft geben mussten, ist von den Brombergers nicht überliefert. Doch in den Akten des Evangelischen Zentralarchivs in Berlin steht, was mit dem Flügel geschah.

Wenige Tage vor ihrem Abtransport versuchte die 60-jährige Henny Bromberger verzweifelt, ihr Instrument, das sie vom Vater geerbt hatte, zu verschenken. Das geht aus einer Selbstanzeige des Pfarrers der Liebfrauen-Gemeinde hervor. Die hatte es nicht gewagt, sich das Haus der Brombergers schenken zu lassen – den Flügel aber nahm Pastor Wilken auf Hennys Drängen hin an. Er kam ins Pfarrhaus – doch von dort ließ ihn eine halbe Stunde später die Gestapo versiegelt abtransportieren. „Zu Evakuierende“ durften nichts mehr verfügen.

In Bremen sind die Wege kurz. Als Henny Bromberger im Juli 1942 in Minsk ermordet wurde, stand der Flügel, der vielleicht ihrer war, bereits in Direktor Blaums Wohnzimmer, nur etliche Straßenzüge von der Contrescarpe entfernt. 1956, als der Direktor starb, zog der Flügel zum bislang letzten Mal um. Die Parkallee hinauf, eine Seitenstraße hinein, dann über einen Kiesweg. Die Haus der Witwe von Rudolf Blaum liegt weit zurückversetzt. Doch noch in der Entfernung sieht es sehr stattlich aus. Hie wäre wohl sogar Platz für zwei Flügel – doch Blaum wollte 1956 den Bechstein und veräußerte sein bisheriges Instrument.

Wusste er, dass er seine Leidenschaft nun auf einem „Beutekunst“-Instrument auslebte? „Nicht zwingend“, sagt Sohn Stefan. Rudolf Blaum war bei der Militärischen Abwehr in Portugal, als sein Vater den Flügel ersteigerte. Allerdings: „Mein Vater war sehr gut darin, die Vergangenheit schön zu reden.“

Dabei half ihm sein enger Freund Karl Carstens. Blaum sei „trotz starken politischen Drucks nicht Mitglied der NSDAP geworden“, behauptete der Alt-Bundespräsident 1989, als Laudator einer der zahlreichen Auszeichnungen, die Blaum erhielt. Beide wussten es besser.

Die Geschichte der beiden Flügel lässt sich in ihren Ansätzen nur erzählen, weil es unermüdliche Leute wie Rolf Rübsam und Jörg Wollenberg gibt. Wollenberg stieß Anfang der 80er im Nachlass eines Betriebsrats auf die Erwerbungsliste der Atlas-Direktoren. Sie ist ein seltenes Dokument: Im Staatsarchiv sind lediglich Unterlagen von zwei der neun Gerichtsvollzieher zu finden, die in Bremen „Judenauktionen“ durchführten. Rübsam wiederum sammelte vor 25 Jahren zahlreiche Berichte von mittlerweile längst verstorbenen Zeitzeugen über die Brombergers. Hatten Rübsam und Wollenberg zwei Enden derselben Geschichte gefunden?

Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Bechsteins identisch sind, ist groß. Von den 1.400 Juden, die 1933 in Bremen lebten, hatten nur wenige einen Flügel im Wohnzimmer. Aber wurde in Bremen nicht auch konfisziertes Auswanderer-Gut verscherbelt? Nicht im Frühling 1942. Und der erste Transport der „M-Aktion“, die die Möbel französischer Juden ins Reich schaffte, erreichte Bremen erst im Dezember.

Das sind Eingrenzungen von Möglichkeiten. Doch der letzte Link, das letzte Bindeglied zwischen den Geschichten des Bromberger- und/oder Blaumflügels verbrannte am frühen Morgen des 21. Oktober 1941.

Damals ging das Klaviergeschäft von Hermann Rabus am Fedelhören/Ecke Dobben in Flammen auf. Britische Bomber hatten an diesem Tag 140 Tonnen Sprengmaterial über Bremen abgeworfen. 20 Jahre zuvor, am 30. September 1921, war der heute bei den Blaums stehende Flügel am Feldehören eingetroffen - das lässt sich auf den akkurat geführten Lieferlisten nachvollziehen, die im Berliner Bechstein-Archiv erhalten sind. Die im Instrumenten-Korpus eingelassene Seriennummer lässt an der Identität des Instruments keinen Zweifel.

Aber wurde er von Rabus tatsächlich an die Brombergers verkauft, oder stand Blaums "arisiertes" Instrument bei einer anderen jüdischen Familie? Über einige Umwege lässt sich ein Enkel von Hermann Rabus in Süddeutschland finden: Volker Rabus, ein Cembalobauer. Der aber sagt: "Sämtliche Geschäftsunterlagen sind 1941 verbrannt." Hier muss die Recherche enden.

Wenn der Schwachhauser Flügel den Leuwers oder Bambergers gehört hat, wäre die Situation allerdings nicht „besser“. Wie also geht die Enkel-Generation mit dem Erbe um? Noch gehört das Instrument der 91-jährigen Mutter. „Wir haben im Geschwisterkreis besprochen", sagt Stefan Blaum ein paar Wochen später, "dass wir den Flügel der jüdischen Gemeinde übergeben werden. Wenn wir an der Reihe sind."

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