Ein kleiner Akt des Widerstands: Liebeserklärung an das Streunen

Flanieren ist zu bourgeois. Aber im ziellosen Herumgehen liegt die Gelegenheit des Zufalls. Streunen steckt voller Überraschungen.

Defekte Parkbank

Man soll sich eher in ein Café setzen als auf eine Parkbank Foto: Stefan zeitz/imago

Mit einer Freundin steige ich an einem Freitagabend in die U-Bahn. Wir setzen uns nebeneinander in eine 4-er-Insel. Ein lesbisches Pärchen setzt sich uns gegenüber. Eine hat einen Zauberwürfel in der Hand. Ich spreche sie darauf an. Sie dreht den Würfel schnell ein paar Mal in irgendwelche Richtungen und – tadaa! – der Würfel ist auf jeder Seite in je einer Farbe. Inzwischen haben sich andere um uns geschart und wollen es auch probieren. Sie bringt den Würfel wieder durcheinander und wirft ihn mir zu. Sie sagt mir, in welche Richtung ich drehen muss, bis es klappt. Dass ich mal den Zauberwürfel hinkriege, an dem ich als Kind oft gescheitert war, hätte ich nicht gedacht.

Wir verabschieden uns und laufen ziellos durch die Gegend, die netter ist als die, aus der wir kommen. Wir wollen in keine Kneipe, in kein Restaurant, auf keine Party. Wir streunen. So machen meine Friends und ich das oft: ziellos durch die Gegend laufen.

Es ist kein Spaziergang an einem schönen Ort mit Ziel und Ende. Flanieren sagen vielleicht andere, aber das ist mir natürlich zu bourgeois. Streunen gibt einer die Möglichkeit, sich einzubringen ins Geschehen, mehr als einfach nur zu beobachten und abschätzig über andere Herumtreiber zu lästern wie beim Flanieren. Man beobachtet das Geschehen nicht, man ist Teil davon.

Streunen steckt voller Überraschungen. So wie das Leben sie manchmal bereithält. Vor einem Kiosk kommen wir ins Gespräch mit dem Inhaber. Er lädt uns auf eine Runde Spielautomat ein. Wir verlieren, aber er erzählt uns von seinem Liebeskummer und wie hoch der Schnee liegt in Kurdistan im Frühjahr. Er schenkt uns einen Schnaps ein, den wir draußen verschenken.

Es riecht nach Crack

Wir laufen weiter die Straße runter. Niemand gibt uns die Richtung vor, niemand sagt, was wir tun sollen, niemand erwartet etwas. Wir müssen nichts konsumieren, nichts leisten. Die Rumtreiberei ist eine der letzten antikapitalistischen Bastionen in unseren Leben. Sie wird einer nicht leicht gemacht, denn unsere Städte sind auf Konsum ausgerichtet. Man soll sich eher in ein Café setzen als auf eine Parkbank.

Immer wieder liest man, dass sich in Städten und Gemeinden über fehlende Parkbänke beschwert wird. Hinlegen soll man sich auf denen schon gar nicht. Nicht, dass Obdachlose sich breit machen! Man ist eher bereit, den öffentlichen Raum weniger lebens- und liebenswert zu machen, als Obdachlosigkeit zu bekämpfen. Wir sind aus unserem Stadtteil hinausgefahren, weil es bei uns viel Armut gibt. Bevor man sich in der U-Bahn-Station auf eine Bank setzt, muss man nach Spritzen schauen. Es riecht nach Crack. In dieser Gegend zu streunen, ist stressig. Arm sein ist stressig. Politik für Reiche hat kein Interesse, das zu ändern. Bei Armen ist schließlich kein Geld zu holen. Auch deswegen werde ich weiter streunen, als Akt der Rebellion in der Leistungsgesellschaft.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.