Entstehung einer ökologischen Klasse: Alte Weltbilder umstülpen

Trotz Alarmsignalen passiert wenig in der Klimakatastrophe. Bruno Latour und Nikolaj Schultz setzen auf den Begriff der „ökologischen Klasse“.

Die indigene Aktivistin, Umweltschützerin und Politikerin Sonia Guajajara aus Brasilien trägt einen Kopfschmuck aus Federn

Klimagipfel: Die indigene Aktivistin, Umweltschützerin und Politikerin Sonia Guajajara aus Brasilien Foto: Nariman El-Mofty/ap

Kurz vor seinem Tod hat der französische Soziologe und Philosoph Bruno Latour noch ein schmales Bändchen veröffentlicht. Darin versucht er zusammen mit seinem Co-Autor Nikolaj Schultz, den Begriff der Klasse zu retten. Als „ökologische Klasse“ bezeichnen sie Menschen, die fundamentale Veränderungen zur Rettung der Lebensgrundlagen für notwendig halten.

Allerdings haben diese bisher keine gemeinsamen sozialen Erfahrungen, sondern setzen sich zusammen aus Aktivistinnen, gewöhnlichen Bürgern, Gärtnern, Industriellen, Indigenen und Investoren. Warum die Autoren am Begriff der Klasse unbedingt festhalten wollen, ist nicht plausibel. Auch die Zuschreibung „links“ behalten sie bei und begründen das mit einer „Ablehnung einer Verselbständigung der Wirtschaft auf Kosten der Gesellschaften“.

Auf den folgenden Seiten aber finden sich dann doch spannende Gedanken. Die Autoren umkreisen das Paradox, dass seit 40 Jahren die Alarmglocken schrillen, Millionen Menschen durch Dürren und Überschwemmungen bereits ihre Lebensgrundlagen verloren haben und sich die Mehrheit inzwischen unwohl fühlt – und trotzdem so wenig passiert, was die Katastrophe aufhalten kann. „Nichts wird uns retten, und ganz bestimmt nicht die Gefahr.“

Macht euch die Erde untertan

Panik und Lähmung resultierten aus der bisherigen Fortschrittsperspektive: Wo es stets darum ging, sich die Erde untertan zu machen, bedeuten Umwelt- und Ressourcenschutz Freiheitsverlust und Einschränkungen. Doch die realistische und von immer mehr Menschen wahrgenommene Per­spek­tive ist: Die Menschheit ist völlig abhängig vom Planeten.

Bruno Latour, Nikolaj Schultz: „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse“. Aus dem Französischen von Bernd Schwibs. edition suhrkamp, Berlin 2022, 93 Seiten, 14 Euro

„Auf einmal ist die Natur kein Opfer mehr, das es zu schützen gilt; sie besitzt uns.“ Die Welt, in und von der wir leben, ist der Rahmen, in dem Emanzipation künftig stattfinden muss. Das ist das Gegenteil der von Rousseau beschriebenen Einhegung, bei der Leute einfach Flächen einzäunen und behaupten, der Boden gehöre nun ihnen. Nur die Einsicht, dass wir völlig von der Erde abhängen, kann heute neue Perspektiven und Gestaltungsräume eröffnen.

Viele dominierende Vorstellungen müssen umgestülpt werden. Indigene, die als „Wilde“ und „unzivilisiert“ diffamiert wurden, wissen tatsächlich viel mehr von einer zukunftsfähigen Lebensweise als die von Naturwissenschaften geprägten, modernen Ausbeutungskulturen. Die Jugend repräsentiert nicht mehr die Zukunft des Produktionssystems, die archaische Techniken überwindet. Vielmehr betrachten sie die Alten und ganz besonders die Babyboomer als „verwöhnte und unreife Teenis“, die die Zukunft im Voraus verschlungen haben.

Noch sind solche Positionen in den wirtschaftlichen und politischen Machtstrukturen marginalisiert, die durch Bürokratie und staatliche Strukturen stabilisiert werden. „Keine Beamtin, kein Abgeordneter vermag anzugeben, wie der Wechsel von Wachstum – und dessen damit einhergehenden Elendsformen – zur Prosperität … gelingen kann.“ Klagen und Proteste in diese Richtung gehen also ins Leere.

Den Machtanspruch infrage stellen

Zugleich stellen viele Ver­tre­te­r*in­nen marginalisierter Gruppen Machtansprüche per se infrage – schließlich haben sie zu den fatalen Entwicklungen geführt, wodurch die Menschheit heute am Abgrund steht. Demgegenüber fordern die Autoren, dass die „ökologische Klasse“ Institutionen und Funktionen auf allen Ebenen durchdringt und dabei durch vielfältige Vernetzung die Transformation in Richtung Dezentralität, situativer Angepasstheit und vielfältiger und komplexer Bezogenheit vorantreiben.

„Es gibt Zeiten, in denen die Versuchung groß ist, sich der Verzweiflung hinzugeben“, räumen die Autoren in ihrem Nachwort ein und verweisen darauf, dass der Krieg gegen die Ukraine wesentlich stärkere Leidenschaften hervorruft als die unbarmherzige Zerstörung der Biosphäre. Doch zugleich gehen sie davon aus, dass die meisten Menschen in ihrem tiefsten Inneren begriffen haben, dass die alte Weltordnung am Ende ist. „Man muss bereit sein, jede unerwartete Gelegenheit beim Schopfe zu packen“, so das Plädoyer.

Das Büchlein bezeichnet sich selbst als Memorandum und ist ein durchaus inspirierender Beitrag zu den vielfältigen Suchbewegungen in Richtung Transformation. Die Thesen, die längst nicht alle überzeugend und stringent sind, regen im Kopf der Leserin Auseinandersetzungen mit den eigenen Positionen an – und das ist nicht wenig.

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