Erinnerungskulturen im 21. Jahrhundert: Streifzüge durch das Gedenken

„Gewalt und Gedächtnis“ heißt das neue Buch der Historikerin Mirjam Zadoff. Sie sucht nach gemeinsamen Erzählungen in der globalen Erinnerung.

Ort der Erinnerung an den Holocaust: Anne-Frank-Haus in Amsterdam, Versteck hinter einem Regal Foto: Peter Dejong/ap

In nicht unerheblichem Maße stehen die Wahrnehmung und Darstellung der Vergangenheit unter dem Eindruck der jeweiligen Gegenwart. Seit einiger Zeit ist zu beobachten, dass sich die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um die Vergangenheit verlagern. Dem Gedächtnis wird gegenüber der Geschichte zunehmende Bedeutung eingeräumt. Während die Ereignisse selbst in den Hintergrund rücken, drängt die Frage, wie sie erinnert werden, in den Vordergrund.

Deutlich wurde dies nicht zuletzt in der mit einiger Lautstärke geführten Kontroverse um das Verhältnis zwischen dem von Deutschland ausgehenden Gewaltgeschehen des Zweiten Weltkriegs mit dem Holocaust als seinem negativen Zentrum und anderen, vornehmlich im kolonialen Raum verorteten Gewalterfahrungen.

Mit ihrem soeben im Hanser Verlag erschienenen Buch „Gewalt und Gedächtnis“ knüpft die Historikerin und Leiterin des NS-Dokumentationszentrums in München, Mirjam Zadoff, nun an diese Debatten an. Sie tut dies weniger im expliziten Dialog mit spezifischen Posi­tio­nen der zurückliegenden Diskussion als vielmehr auf vermittelte Weise. In je eigenständigen, inhaltlich jedoch miteinander verwobenen Essays spürt sie der Vielgestaltigkeit von Erinnerungskultur im 21. Jahrhundert nach.

Mirjam Zadoff: „Gewalt und Gedächtnis. Globale Erinnerung im 21. Jahr­hundert“. Hanser Verlag, München 2023, 237 Seiten, 25 Euro

Ausgangspunkt der Beiträge sind Recherchereisen der Autorin zu Gedächtnisorten, Museen oder Gedenkstätten in verschiedenen Teilen der Welt und ihre dortigen Begegnungen mit Menschen, die sich auf ganz unterschiedliche Weisen, mal künstlerisch, mal wissenschaftlich oder kuratorisch, mit der Vergangenheit auseinandersetzen. Mitunter in überraschend persönlichem Stil und erklärtermaßen ohne den Anspruch auf Vollständigkeit unternimmt Zadoff von dort aus Streifzüge in die Gewaltgeschichten derjeweiligen Regionen.

Mirjam Zadoff: „Gewalt und Gedächtnis. Globale Erinnerung im 21. Jahr­hundert“. Hanser Verlag, München 2023, 237 Seiten, 25 Euro

Japan oder Korea

So führen die Essays etwa nach Japan, wo die Erinnerung an dessen imperialistische Expansionspolitik auf das Gedenken der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki trifft oder nach Korea zur dortigen Aufarbeitung von Zwangsprostitution während des Zweiten Weltkriegs; in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Pen beobachtet die Autorin das ambivalente Verhältnis der Bevölkerung zu den Gedächtnisorten des Massenmords der Roten Khmer oder widmet sich von Brüssel aus den Anfängen der europäischen Kolonialgeschichte in Afrika.

Den Resonanzraum der fünfzehn Kapitel des Buchs bildet die Erinnerung an den Holocaust

Den Resonanzraum der insgesamt fünfzehn Kapitel bildet hingegen die Erinnerung an den Holocaust. Knapp die Hälfte der Essays widmet sich dezidiert der Erinnerung an die Vernichtung des europäischen Judentums. Dabei wendet sich Zadoff wiederum unterschiedlichen Formen der Annäherung an die Vergangenheit zu: von den Arbeiten Avrom Sutzkevers zum Wilnaer Ghetto über das niederländische Anne-Frank-Haus zur Gedenkstätte Binario 21 im Mailänder Hauptbahnhof für die deportierten Juden Italiens.

Zweifellos liegt das große Potenzial des Bandes in der Vermittlung zwischen überaus heterogenen sowohl europäischen als auch außereuropäischen Gedächtnisinitiativen. Es kommt immer dann zur Entfaltung, wenn es Zadoff gelingt, die ereignisgeschichtliche Verflechtung zunächst disparat erscheinender Gewalterfahrungen nachzuzeichnen. So zeigt sie zum Beispiel in einem Essay zu Kapstadt und dessen Museen die Überlagerung von jüdischer Immigrations- und Verfolgungsgeschichte, der Apartheid in Südafrika und dem schließlich anhebenden Kampf gegen sie auf.

Vornehmlich konzentrieren sich die Essays jedoch auf die Beschreibung gedächtnisgeschichtlicher Initiativen und Arbeiten. Die dort erinnerte Gewaltgeschichte selbst erscheint bisweilen nur als durch sie vermittelte. Historische Verbindungslinien werden meist lediglich kursorisch angedeutet. Nicht die zurückliegenden Ereignisse stehen im Zentrum des Bands, sondern ihre Erinnerung und deren wechselseitige Bezugnahme.

Antworten auf multiple Krisen

Denn der Autorin geht es nicht zuletzt darum, im globalen Nachdenken über Vergangenheit gemeinsame Narrative zu identifizieren, aus denen sich Antworten auf die „multiplen Krisen“ der Gegenwart, wie Fluchtbewegungen, Pandemie oder Erderwärmung, entwickeln lassen. Dafür eignen sich in der Tat vielgestaltige und doch verbindende Erzählungen besser als jene, die historische Besonderheiten herausarbeiten und damit letztlich auf die Spannungen zwischen Universellem und Partikularem verweisen.

So wird am Ende weniger deutlich, inwiefern multiperspektivisches Erinnern zu einem tieferen Verständnis vergangener Gewalterfahrungen und ihrer Spezifik beitragen kann. Denn in manchen der von Zadoff beschriebenen Beispiele klingt vielmehr an, dass in der ästhetischen oder inhaltlichen erinnerungspolitischen Bezugnahme auf den Holocaust dessen Geschehen und vor allem seine Präzedenzlosigkeit kaum mehr eine Rolle spielt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.