Film über homosexuelle Liebe: Vom Verbindenden im Fremdsein

Schwules Begehren, Einsamkeit und Sehnsucht nach Verbundenheit. Andrew Haigh hat mit „All of Us Strangers“ ein sentimentales Melodram gedreht.

Adam (Andrew Scott) und sein mysteriöser Nachbar Harry (Paul Mescal) im einem Aufzug

Adam (Andrew Scott) und sein mysteriöser Nachbar Harry (Paul Mescal) Foto: Walt Disney Studio Motion Pictures GmbH

Es bleibt“, so hat Hermann Hesse einmal notiert, „zwischen zwei Menschen, sie seien noch so eng verbunden, immer ein Abgrund offen, den nur die Liebe, und auch nur mit einem Notsteg, überbrücken kann.“ Je nachdem, ob man sich für diese Beschreibung tiefer menschlicher Einsamkeit und der Sehnsucht nach Verbundenheit erwärmen kann oder sie als gefühligen Kitsch abtut, wird man sich wahrscheinlich auch von Andrew Haighs neuem Film berührt fühlen – oder aber sich an seiner Rührseligkeit stören.

Mit „All of Us Strangers“ hat der britische Filmemacher ein sentimentales Melodram gedreht. Es ist ein Film über schwules Begehren, das Gefühl des Fremdseins bis in die eigene Familie hinein und den Wunsch nach Liebe, durch die am Ende doch noch alles gut werden könnte.

Dafür führt Haigh mit ungekannter Emotionalität jene Themen zusammen, die sein Schaffen immer wieder prägen: Das Empfinden von Isoliertheit („Lean on Pete“), die Furcht davor, sich bei allem entgegengerichteten Verlangen wahrlich zu öffnen („Weekend“, „Looking“), und vor allem die riskante Versuchung, stattdessen in der Vergangenheit nach Geborgenheit zu suchen und darüber die Gegenwart aus dem Blick zu verlieren („45 Years“).

In diesem, seinem fünften Spielfilm, gibt Andrew Haigh allerdings die sonstige Nüchternheit seines Inszenierungsstils auf und beschwört mit einer ungewöhnlich warmen Farbpallette und einem Soundtrack, auf dem sich Frankie Goes to Hollywoods „The Power of Love“ gleich mehrmals findet, nicht nur die ganz großen Gefühle herauf. Auch die Toten selbst werden bemüht. Oder sind es nur die Erinnerungen, die seinen Protagonisten Adam (Andrew Scott) heimsuchen? In ihm, ein Drehbuchautor mittleren Alters, der an einer Schreibblockade leidet, kulminieren all diese Motive jedenfalls.

Adam lebt alleine

„All of Us Strangers“: Regie: Andrew Haigh. Mit Andrew Scott, Paul Mescal u. a. England 2023, 105 Min.

Adam lebt alleine in einem seltsam steril wirkenden Bürokomplex am Stadtrand Londons, in seinem teuren Apartment stapeln sich die Take-Away-Boxen, der Fernseher flimmert unaufhörlich vor sich hin, um die Stille auszutreiben. Die Einsamkeit hat ihn sichtlich im Griff, doch als ihn sein anscheinend einziger Nachbar Harry (Paul Mescal) eines Nachts angetrunken auf einen Drink einlädt und ihm schließlich noch ein zweites, weniger unzweideutiges Angebot unterbreitet, lehnt er ab.

Stattdessen treibt es Adam in sein altes Heimatdorf, einen piefigen Vorort der britischen Hauptstadt. Während seines ziellosen Umherstreifens ­begegnet er dort unvermittelt seinem Vater (Jamie Bell). Wie sich bald herausstellt, wirkt der etwa gleichalt aussehende Mann mit Achtziger-Jahre-Schnauzbart und abgewetzter Lederjacke nicht nur aus der Zeit gefallen. Er ist es tatsächlich. Als Adam zwölf Jahre alt war, kamen sein Vater und seine Mutter (Claire Foy) bei einem Autounfall ums Leben.

Wie es sein kann, dass die Beiden plötzlich wieder in seinem seit damals gänzlich unverändertem Elternhaus leben, erklärt Andrew Haighs Film, der lose auf dem japanischen Geisterroman „Sommer mit Fremden“ von Taichi Yamada basiert, nicht. Um derlei erzählerische Einzelheiten geht es „All of Us Strangers“ zumindest in dieser traumähnlichen Dimension seiner Geschichte aber auch gar nicht, sondern vor allem um Trost, um Anerkennung und späte Wiedergutmachung.

Hemdsärmeliger Vater aus der Arbeiterschicht

Jamie Bell spielt den hemdsärmeligen Vater aus der Arbeiterschicht, der unter seiner ruppigen Männlichkeit aber eine große Liebe für seinen Sohn hegt, zwar überraschend überzeugend. Und auch Claire Foy ist wahrlich umwerfend als warmherzige Mutter, die einzig, als Adam sich ihr gegenüber outet, aus Sorge um sein Wohlergehen (Krankheit! Kinderlosigkeit! Schikane!), kurz in schroffe Panik verfällt –ansonsten aber nur aus Hingabe für ihren Sohn zu bestehen scheint.

Auch die Frage, die Andrew Haigh eröffnet, was man wohl mit verstorbenen Verwandten bereden würde, wenn man nochmal die Gelegenheit dazu hätte, ist in sich so reizvoll wie rührend. „All of Us Strangers“ strebt allerdings zu sehr danach, jeden Dissens in schnödes Wohlgefallen aufzulösen, um daraus ein packendes Gedankenspiel zu entwickeln. Als Adam seinen Eltern davon erzählt, was sich seit ihrem Tod in seinem Leben ereignete, von seinem Beruf als Autor, seiner Wohnung in London etwa, reagieren sie mit uneingeschränkter Begeisterung.

Auch wenn alte Traumata thematisiert werden und Adam anspricht, was in seiner Kindheit unausgesprochen blieb, finden seine Eltern eine passende Entschuldigung auf jede seiner schmerzlichen Erinnerungen. Etwa daran, dass der Vater ihn mit seinen Tränen allein ließ, als der Sohn wegen seiner Andersartigkeit in der Schule zum Außenseiter wurde. Die bald regelmäßigen Besuche bei seinen Eltern sind Balsam für Adam und Linderung für das nagende Gefühl des Fremdseins, das sie ihm wahrscheinlich ohne Absicht vermittelten.

Schlicht durch ihre Erwartungen, dass ihr Sohn in jeder Hinsicht wie alle anderen Kinder sein würde – und ihm auswichen, wo sich Anderes abzeichnete. In Momenten, in denen der erwachsene Adam im Kinderschlafanzug ins Ehebett seiner Eltern schlüpft oder von seiner Mutter zärtlich Zeilen aus „Always on my Mind“ der Pet Shop Boys vorgesungen bekommt, wirkt „All of Us Strangers“ allerdings auch an das Publikum gerichtet wie kollektive Kinotherapie, ein schales filmisches „Alles wird gut“.

Versöhnlicher Ansatz

Man kann in Andrew Haighs versöhnlichem Ansatz eine betörende Barmherzigkeit sehen. Dass ihm gleichsam eine gewisse Grausamkeit innewohnt, weil sein Trost in einer Illusion besteht, also gänzlich außerhalb des Möglichen liegt, lässt sich aber nur schwer leugnen. Ebenso wenig, dass Dialoge, die unter dem strengen Vorzeichen der Versöhnung stehen, und Szenen, die letztlich immer in der Affirmation münden, bald repetitiv wirken müssen.

Wesentlich bestechender ist „All of Us Strangers“ in seiner Meditation über die Sehnsucht nach Nähe und die Dinge, die ihr im Wege stehen, wenn sich der Film in seinem zweiten, zwischen den elterlichen Besuchen langsam erwachsenden Handlungsstrang der besonderen Dynamik zwischen Adam und Harry widmet.

Als zwischen den beiden Männern schließlich dennoch eine Affäre entsteht, die bald in eine enge Beziehung übergeht, zeigt der ältere Adam eine tiefere Scham gegenüber seiner eigenen Körperlichkeit, eine stärkere Vorsicht im Sprechen über seine Sexualität – und größere Schwierigkeiten, dem jüngeren Harry seine Zuneigung zu zeigen.

Hier ergründet Andrew Haigh die Geschichte schwuler Emanzipation, ihrer Entwicklung über die Zeit hinweg, wohltuend feinsinnig. Während sich Harry auch gegenüber seiner Familie längst offen als queer bezeichnet, hegt Adam aufgrund Diskriminierungs- und Verlusterfahrungen während der Aids-Krise einem vorsichtigeren Umgang mit seiner Homosexualität.

Generationenunterschiede als Gesten

Andrew Scott („Fleabag“) und Paul Mescal („Aftersun“) transportieren einen Großteil der Generationsunterschiede, die zwischen ihren beiden Figuren existieren, die Differenzen in ihrer Selbstwahrnehmung als schwule Männer, mit einnehmender Subtilität, über kaum merkliche Reaktionen, die sich flüchtig im Gesicht des jeweiligen Gegenübers abzeichnen. Mehr als alles andere aber über unauffällige Gesten, wie die zudringliche Zärtlichkeit von Harrys Händen, auf die sich Adam nur zögerlich zu reagieren traut.

Mit eindrücklicher Unaufgeregtheit erzählt Andrew Haigh so gleichsam von etwas Tröstlicherem als einer Hoffnung auf eine Absolution, die niemals kommen wird: vom Verbindenden im Fremdsein. Eine Erfahrung, die Harry und Adam bei allem, was sich seither in der Gesellschaft getan haben mag, dennoch miteinander teilen.

So schließt „All of Us Strangers“ in einer finalen Wendung doch noch mit einer Mahnung, die sich mehr an die Lebenden denn an die Toten richtet: Wer nicht in den Abgrund gerissen werden will, muss seinen Blick irgendwann von ihm abwenden und Vertrauen in den Notsteg haben. Und, wie gesagt: Das mag man als rührselig empfinden oder sich schlicht tief berührt fühlen. So aber entlässt Andrew Haigh am Ende doch noch mit einer Aussicht, die nun immerhin im Bereich des Möglichen liegt.

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