Frankreich auf Sparkurs: Auf Kosten der Banlieue

Die Kürzung von staatlicher Subventionen in den Vorstädten sei kontraproduktiv. Das sagt der betroffene Bürgermeister Stéphane Gatignon.

Ein Mann sitzt vor einem Zelt

Sevrans Bürgermeister Stéphane Gatignon im Hungerstreik (Archivbild von November 2012) Foto: Imago/PanoramiC

SEVRAN taz | Noch vor dem Flughafen Paris-Roissy geht die Autobahnausfahrt Richtung Norden rechts raus in die Industriezone. Dem Wegweiser „Sevran Centre“ folgend gelangt man an Hochhaussiedlungen vorbei, bis man einer Tankstelle gegenüber vor einem umzäunten Neubau steht. Über dem Tor, auf dem drei Trikoloren im Wind wehen, steht „Hôtel de ville“. Das bezeichnet in Frankreich nicht ein Hotel, sondern den Sitz der Stadtbehörde. „Unser altes Rathaus ist 2005 abgebrannt“, erklärt Bürgermeister Stéphane Gatignon. Ort und Datum sagen schon alles über die Brandursachen. Denn damals wurden bei Jugendunruhen in den Vororten der Großstädte, und vor allem im Nordosten von Paris, neben Tausenden von Autos auch öffentliche Einrichtungen und Geschäfte zerstört.

Wenn Sevran seitdem wieder gelegentlich in Frankreichs Medien negativ auffällt, dann mehr wegen Gewalt auf dem Drogenmarkt oder ein paar Radikalisierten, die sich in Syrien oder Irak dem Dschihad angeschlossen haben. In Paris – einer anderen Welt – ist vor allem der Name des Quartiers Les Beaudottes in Sevran im übel beleumdeten Departement „93“ (Seine-Saint-Denis) ein Synonym für ein heißes Pflaster in einer Siedlung. In der gilt Gerüchten zufolge mehr das Faustrecht von Banden als das Gesetz der Republik.

Der 48-jährige Gatignon kann über solche Klischees nur seufzen. Als zu Beginn der 90er Jahre Kodak und Westinghouse ihre Fabriken schlossen, ging es mit Sevran bergab. Er versucht zu „reparieren“, wie er das nennt. Er ist seit 2001 Bürgermeister und weiß, was auf seine Initiative hin getan wurde, um das Zusammenleben zu verbessern.

An der Zusammensetzung der Bevölkerung kann und will er nicht viel ändern: „Wir haben hier 73 Nationalitäten, und fast die Hälfte sind Kinder und Junge unter 30.“ Die Jugendarbeitslosigkeit liege bei mehr als 30 Prozent, die Hälfte der Haushalte seien zu arm, um Einkommensteuern bezahlen zu müssen. „Wir sind auf die Unterstützung des Staates angewiesen, schon so sind unsere lokalen Steuern vergleichsweise enorm hoch.“

Vor fünf Jahren musste Gatignon vor der Nationalversammlung mit einem Hungerstreik erzwingen, dass er 4 bis 5 Millionen Euro bekam, die eine staatliche Agentur für die Renovierung Sevrans schuldete. Auch wollte er auf die Finanzprobleme der armen Vorstädte hinweisen: „Meine Aktion war extrem, hat aber gewirkt. Seither hat sich einiges gebessert. Doch wir sind bei den kommunalen Investitionen sehr vorsichtig. Wir setzen unsere Hoffnung auf zwei langfristige Projekte: Erstens die urbane Erschließung dank des Vorhabens Grand-Paris mit dem Bau von zwei Metrolinien bis Sevran. Und zweitens die Olympiade von 2024. Sevran soll einer der Austragungsorte werden. Wir spüren schon jetzt die positiven Auswirkungen in Form von Investitionen. Die Immobilienpreise beginnen zu steigen, und ich fürchte, das fördert bald die Gentrifizierung.“ Das war bis vor Kurzem noch ein Fremdwort in Quartieren wie Les Beaudottes, wo nur Leute hinziehen, die keine andere Wahl haben.

Das Geld wird noch knapper

Trotz seiner langfristigen Zuversicht bereitet Gatignon die unmittelbare Zukunft Sorgen. Die Regierung hat angekündigt, dass die Regionen, Departemente und Kommunen weniger Geld bekommen und dass die Zahl der emplois aidés, das heißt der staatlich subventionierten Stellen in kommunalen Dienstleistungen oder Vereinen zur Eingliederung von Arbeitslosen um 120.000 verringert wird. Die noch laufenden Stellen will der Staat nach Kritik des Rechnungshofes nur noch zur Hälfte und nicht mehr zu 70 Prozent finanzieren.

Alle Beamtenverbände protestierenIn kürzester Zeit hat sich Präsident Emmanuel Macron mit seinen Reform- und Sparplänen an verschiedenen Fronten Feinde gemacht. Am Dienstag haben erstmals seit zehn Jahren alle Gewerkschaftsverbände der Beamten vereint und gegen den angekündigten Lohnstopp und den Abbau von 120.000 öffentlichen Stellen demonstriert. Linksparteien und Gewerkschaften lehnen die per Verordnung in Kraft gesetzte Revision des Arbeitsrechts ab.

Umverteilung von unten nach oben Studierende und Sozialhilfe­berechtigte sind empört über die völlig überraschende Kürzung ihrer Wohnbeihilfen um monatlich 5 Euro. Dies schockiert besonders, weil sie zugleich mit einer Reform der Vermögensteuer ISF zugunsten der Reichsten erfolgt. Zugleich regt sich auf kommu­naler Ebene Widerstand gegen den Zentralstaat, der seine Sparanstrengungen auf die lokalen Behörden abwälzt und diese mit reduzierten finanziellen Zuwendungen zu mehr Haushalts­disziplin zwingen will. RB

„Wir unterzeichnen in Sevran ohnehin nur dann solche Verträge für emplois aidés, wenn wir sicher sind, dass am Ende eine Festanstellung möglich ist“, versichert Gatignon, der die pauschale Begründung der Kürzung für nicht legitim hält. „Offenbar weiß die Regierung nicht, welche Konsequenzen das etwa für Sportvereine und vor allem für den Fußball haben wird, der bei uns das beste Mittel zur Integration der Jungen darstellt!“

Die staatliche Subventionskürzung sei kontraproduktiv, sagt Gatignon. Er war bei seiner ersten Bürgermeisterwahl Kommunist, dann trat er den Grünen bei und setzte danach vergebliche Hoffnungen in das zusammen mit Daniel Cohn-Bendit lancierte Projekt Europe-Ecologie-Les Verts (EELV). Bei den Präsidentschaftswahlen unterstützte er – „mangels besserer Alternative“ – den jetzigen Staatschef Emmanuel Macron.

Heute bezeichnet sich Gatignon als „parteilos engagiert“. Wie viele der eher halbherzigen Fans im Frühling ist er im Herbst ernüchtert, aber nicht überrascht. „Macron ist gewiss äußerst brillant, aber er ist autoritär“, lautet das Urteil aus Sevran. Dass die Regierung nun ausgerechnet auf Kosten der Kommunen sparen will und dabei nicht zwischen reichen Städten und armen Dörfern oder Vororten unterscheidet, bestätigt Gatignons Bild von Macron.

„Realitätsfremd“ findet er die offizielle Zuversicht der Regierung. Die hoffe anscheinend, irgendwie werde die Rechnung aufgehen. „Das erinnert mich an meinen Besuch in der DDR als Jungkommunist 1987. Als wir dort die ostdeutschen Genossen fragten, wie die DDR das angekündigte Ziel des BRD-Lebensstandards erreichen wolle, antworteten sie mit entwaffnender Naivität: ‚Mit dem Plan‘!“

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