Gedenkstätte erinnert an Zwangsarbeiter: Im Namen Jesu

In Neukölln gab es das deutschlandweit einzige von Kirchengemeinden betriebene Zwangsarbeitslager. Hier waren Männer aus der Ukraine, Belarus und Russland interniert.

Ein Mann posiert für ein Foto vor Stelen, die dem Gedenken an Zwangsarbeiter während der NS-Zeit gewimdet sind. Der Mann Wolfgang Krogel.

Für Wolfgang Krogel sind die Stelen und die Gedenkstätte eine Art Lebenswerk Foto: Stefan Boness

„Ich hatte und habe aber diese Arbeit zu leisten – sie wurde zu meinem Schicksal. Ich arbeite hier schon seit 1942. Ich sehe nicht die geringste Chance, nach Hause zurückzukehren.“

Eintrag im Tagebuch des Zwangsarbeiters Wasyl Kudrenko, Berlin im Januar 1944

Einhundert Jungen und Männer schritten am Morgen durch das Tor im Zaun. Sie liefen zum U-Bahnhof Leinestraße, zum S- Bahnhof Hermannstraße gingen sie auch. Sie fuhren stehend, meistens, denn Ber­li­ne­r:in­nen schlugen sie, wenn sie sich hinsetzten. Sitzen war für Deutsche. Sie fuhren zu den Friedhöfen dieser Stadt. Sie hoben Gräber aus, schleppten Steine und sammelten nach Bombenangriffen Leichenteile von Wiesen und Bäumen. Sie waren Zwangsarbeiter für Berliner Kirchengemeinden. Abends kehrten sie in das Lager zurück, schlafen mussten sie in einer Baracke.

Dort, wo dieses Lager stand, zwischen dem südöstlichen Ende des Tempelhofer Feldes und der Hermannstraße – damals war dort ein Friedhof –, gibt es seit Herbst 2022 eine Gedenkstätte für ebendiese Zwangsarbeiter der Kirche. Ein metallenes Tor führt vom Anita-Berber-Park hinein, dahinter hellgraue, mit Splitt bestreute Wege, mit Stein ummauerte Umrisse von Gebäuden – und 25 schwarze Säulen aus Metall. Darauf stehen die Namen der Männer, die hier einst eingesperrt waren, wie etwa Gavril Tkalitsch, Machthej Schepel und eben Wasyl Kudrenko, der Autor des zitierten Tagebuchs. Einige Stelen sind leer, nicht alle Namen sind bekannt.

Für Wolfgang Krogel sind diese Säulen so etwas wie ein Lebenswerk. Er hat die vergangenen 25 Jahre mit diesem Ort verbracht, mit der Idee für diese Gedenkstätte, er hat mitausgegraben, mitgeplant, Geld gesammelt, gebaut. 1995 kam er nach Berlin, um das Landeskirchliche Archiv der Evangelischen Kirche am Bethaniendamm in Kreuzberg aufzubauen, bis Sommer des vergangenen Jahres war er dessen Direktor. Im Vorstand des Vereins zum Erhalt der Gedenkstätte ist er immer noch.

Wir treffen uns an einem sonnigen Mittwochmorgen im März. Krogel steht zwischen den schwarzen Namenssäulen im hinteren Teil der Gedenkstätte. Der 68-Jährige lacht, wenn er von seiner Studienzeit in Rom erzählt, seine schwarze Motorradjacke leiht ihm die Schultern eines Bodybuilders. Krogel sagt, wie sehr er die Anlage der Gedenkstätte mag, die Ebene des Gedenkens hier oben, wo er inmitten der Säulen steht, und die Ebene zwei Treppenstufen darunter, wo sie die Fundamente der Baracken ausgegraben haben, in der Wasyl Kudrenko und die anderen Arbeiter schliefen.

Schwere Arbeit auf den Friedhöfen

Keller für Kartoffeln und Kohlen haben Krogel und seine Kol­le­g:in­nen außerdem gefunden, dazu eine Baracke für die Küche und einen Splitterschutzgraben, in dem sich die Zwangsarbeiter bei Bombenangriffen der Alliierten verstecken sollten. „In die Luftschutzbunker durften sie in der Regel nicht“, sagt Krogel. Denn auch hier galt: „Die waren für Deutsche.“

Die Gedenktstätte für das Zwangsarbeiterlager in NS-Zeiten in Neukölln.

Blick auf die Gedenkstätte in der früheren Einflugschneise Foto: Stefan Boness

42 kirchliche Gemeinden ließen die 100 Jungen und Männer im Lager von 1942 bis 1945 auf ihren Friedhöfen arbeiten, 39 evangelische und drei katholische. Wasyl Kudrenko war 16 Jahre alt, als ihn die Deutschen deportierten, ein halbes Kind wie viele seiner Kollegen. Ihre Arbeit war schwer, zu essen gab es immer zu wenig.

Ein Großteil von Kudrenkos Tagebuch-Einträgen dreht sich darum, wie viel Gramm Brot, Margarine oder Zucker er bekam oder zusätzlich auftreiben konnte. Die Friedhofsverwalter beschwerten sich, wie unterernährt die Arbeiter waren, zu schwach, um zu graben und zu schleppen. Bezahlt wurden die Zwangsarbeiter offiziell zwar, aber ob das Geld bei ihnen ankam und wie viel davon, war der Willkür der Deutschen unterworfen.

Die Dokumente aus der NS-Zeit und Interviews mit ehemaligen Insassen des Lagers machen zwei Dinge klar: Die Verantwortlichen in der Kirche wollten Jungen und Männer aus der Sowjetunion, weil sie billiger waren als andere Zwangsarbeiter. Und: Selbst Mitglieder der sich gegen die Nazis wehrenden Bekennenden Kirche ordneten die Insassen des Lagers entsprechend der rassistischen Hierarchie ein. Auch der Leiter des Lagers gehörte zur Bekennenden Kirche. Er schrieb im Januar 1945 in einen Beschwerdebrief an seine Vorgesetzten, er müsse sein „Leben unter 100 verdreckten und verwanzten Russen“ führen, „von denen ein guter Prozentsatz Schwerverbrecher sind – einer ist erst hingerichtet“.

Debatte über Zwangsarbeit im Nationalsozialismus

Bei diesen 100 Menschen sollte es wohl nicht bleiben. „Die Fundamente der Wohnbaracke sind viel größer als das, was tatsächlich gebaut wurde“, sagt Krogel. Er streckt den rechten Arm aus und zieht mit dem Zeigefinger eine Linie von den ausgegrabenen Umrissen der Baracke über den Zaun, der die Gedenkstätte umgibt, hinüber auf die schwarze Erde hinter der Anlage. Überreste von Bäumen liegen dort, Stämme, Äste, Zweige. „Ich vermute, dass die Kirche noch mehr Zwangsarbeiter hier unterbringen wollte, wenn Deutschland den Krieg gewonnen hätte.“

Dass Institutionen und Mitglieder der Kirche die Geschichte des Lagers überhaupt aufgearbeitet und den Bau der Gedenkstätte vorangetrieben haben, liegt unter anderem an der deutschlandweiten Debatte über die Zwangsarbeit im Nationalsozialismus in den 90er Jahren. Damals ging es vor allem um Entschädigungszahlungen, die evangelische Kirche und die Diakonie zahlten Anfang der 2000er Jahre je fünf Millionen DM in einen entsprechenden Fonds ein.

Wolfgang Huber, der damalige Berliner Landesbischof, sprach ab Sommer 2000 öffentlich über das Lager und die Verantwortung der Kirche, die Diskussion war von oben gewollt. Und es gab Menschen wie Gerlind Lachenicht, die für die Kirche lange in der politischen Bildung gearbeitet hatte, bevor sie sich mit den Zwangsarbeitern beschäftigte: „Das Entsetzen darüber, dass die Kirche so ein Lager betrieben hat, war damals spürbar“, sagt sie. „Wer auch nur irgendetwas vom Christentum erwartet hat, wusste, dass wir das aufarbeiten müssen.“

In vielen der einst beteiligten Gemeinden hätten Menschen Geld für die noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter gesammelt, insgesamt etwa 70.000 Euro. Natürlich haben nicht alle mitgemacht, hat es interne Widerstände gegeben, die Unlust, sich zu beteiligen. Selbst die offiziellen Publikationen zur Gedenkstätte erwähnen solche Störgeräusche hin und wieder.

Für eine große Infotafel fehlt bisher das Geld

Dass es ein Vierteljahrhundert gedauert hat, bis die Gedenkstätte in Neukölln existiert, sei aber normal, sagt Wolfgang Krogel. Ähnliche Orte hätten vergleichbar lange für Ausgrabungen, Planungen, Gespräche, Konzeptionierung und Bau gebraucht. In diesem Fall sei es so, dass der Friedhof der Gemeinde auf dem ehemaligen Lagergelände viele Jahre lang alles ablud, was anderswo störte: alte Grabsteine, Erde, Müll. Ganz fertig ist der Gedenkort auch jetzt nicht. Für eine große Tafel mit mehr Informationen fehlt bisher das Geld.

Jedes Jahr zum Volkstrauertag hält Ulrike Trautwein, die Generalsuperintendentin der Evangelischen Kirche, hier zusammen mit anderen einen Gottesdienst ab, in dessen Fokus die kirchliche Verantwortung für Zwangsarbeit steht. „Der Ort ist nicht so pathetisch und das mag ich sehr“, sagt Trautwein. „Er lässt einem viel Freiraum dabei, wie viel man sich mit dem Thema beschäftigen möchte und wie viel man sich zumutet.“

Ulrike Trautwein, Generalsuperintendentin

„Der Ort ist nicht so pathetisch, das mag ich“

Wer sich etwas zumuten möchte, könnte das Tagebuch von Wasyl Kudrenko lesen. Es lässt sich über den Verein zum Erhalt der Gedenkstätte besorgen, in dem Wolfgang Krogel und Gerlind Lachenicht mitarbeiten. Wasyl Kudrenko hat vieles damals nicht aufgeschrieben, aus Angst, Polizei oder Gestapo könnten sein Tagebuch finden. Das sagte er Wolfgang Krogel 2004 in einem Interview.

Aber Kudrenko schreibt genug, um ihn nicht nur als Opfer zu erleben. Sondern als jemandem, der sich dagegen wehrte, Verfügungsmasse zu sein, nur zu funktionieren, nur den Platz einzunehmen, den die nationalsozialistische Ideologie ihm zuwies. Er spielte Karten, er trank, er traf Mädchen und er besuchte Deutsche in ihren Wohnungen, obwohl das streng verboten war. Er schlug sich mit einem deutschen Arbeiter, der ihn schlecht behandelte, und landete zu seinem Glück zwar bei der Polizei, aber nicht im KZ.

Mehr als nur ihre Namen

Kudrenko und neun andere ehemalige Zwangsarbeiter der Kirche haben Wolfgang Krogel, Gerlind Lachenicht und ihre Mit­strei­te­r:in­nen persönlich getroffen. Über diese zehn steht mehr auf den Säulen als nur ihre Namen: die Friedhöfe, auf denen sie Zwangsarbeit leisten mussten, ein Zitat von ihnen, ein kurzer Lebenslauf, der Geburtsort und ein eingeprägtes Gesicht.

Krogel läuft zu Kudrenkos Säule und zeigt dessen Porträt. Es ist nicht das Gesicht des Teenagers Wasyl, der hier in Berlin lebte, sondern das Gesicht des Mannes, der nach Hause zurückgekehrt, auch wenn er nicht daran glaubte, als er im Januar 1944 das erste Mal in sein Tagebuch schrieb. 2007 ist er gestorben, Wolfgang Krogel hat Kudrenko 2004 getroffen, in dessen Heimatdorf, in der Nähe der zentralukrainischen Großstadt Poltawa.

Im Vorwort zu Kudrenkos Tagebuch ist ein Foto von Krogel und Kudrenko zu sehen. Krogel fährt auf seiner BMW Enduro durch hohes Gras, Kudrenko sitzt hinter ihm. Das Motorrad gibt es immer noch, es steht neben der Gedenkstätte, Wolfgang Krogel ist heute damit hierher gefahren.

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