Geschichtsjahr 2009: "Vergangenheit ist ein Reservoir fürs Erinnern"

2009 wird das Mega-Erinnerungsjahr: 20 Jahre Mauerfall, 60 Jahre Grundgesetz und 70 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs. Interessant wird vor allem die Frage, wem die Erinnerung an 1989 gehört, meint der Historiker Martin Sabrow.

Nach dem Mauerfall: Feiern am Brandenburger Tor Bild: AP

taz: Herr Sabrow, auf was freuen Sie sich 2009 am meisten?

MARTIN SABROW, 54, ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und Professor für Neueste Geschichte an der Uni Potsdam. Den Herbst 1989 und den Mauerfall am 9. November erlebte er als Geschichtslehrer in Grunewald.

Martin Sabrow: Eine Fußball-WM gibt es ja nicht.

Nur die Leichtathletik-WM.

Die interessiert mich nicht so sehr. Dann also auf die TSG Hoffenheim und der Aufstieg von Holstein Kiel in die dritte Bundesliga.

Und als Historiker?

Als Historiker freue ich mich darauf, dass uns 2009 die Chance gibt, die Leistungskraft der Zeitgeschichtsforschung darzustellen. Zwar sind Jubiläen und Jahrestage für Historiker ein Problem, weil sie nicht aus der Logik der fachwissenschaftlichen Entwicklung erwachsen, sondern eventartig einzelne Ereignisse herausgreifen …

… und damit ihre eigenen Konjunkturen schaffen.

Aber wir Historiker können uns diese Konjunkturen auch zunutze machen. Wie schon die Preußenausstellung 1981 zeigte, können öffentliche Geschichtsinszenierungen für große Umschwünge in der Geschichtskultur selbst stehen. Und sie sind natürlich für Historiker ein eigenes Forschungsfeld, in dem sich die Formungskräfte der Geschichtskultur dingfest machen lassen. Ich erwarte mir im Hinblick auf 2009 in beiderlei Hinsicht viel: einmal ein stärkeres Bewusstsein für die Vielschichtigkeit der SED-Diktatur und ihres Untergangs. Und auf der anderen Seite, dass wir besser verstehen lernen, wie sich Geschichtskulturen in unserer Zeit verändern.

Wenn Sie vom Eventjahr 2009 reden, wie sieht da die Reihenfolge aus? An erster Stelle 20 Jahre Mauerfall, dann 60 Jahre Grundgesetz und schließlich 70 Jahre Beginn des Zweiten Weltkriegs?

Wollen wir nicht noch ein bisschen weitergehen? Es mag gut sein, dass beim Fortgang der Wirtschaftskrise der 80. Jahrestag des Schwarzen Oktobers 1929 eine unvermutet starke Rolle spielen wird, weil Vergangenheit eben immer ein Reservoir ist, aus dem heraus jede Zeit Geschichte immer neu konstruiert und Antworten auf aktuelle Fragen erhofft.

Was haben Sie sonst im Angebot?

Unter anderen Bedingungen hätte es auch sein können, dass dem Jahr 1919 eine besondere Rolle zukommen würde. 1919 war für eine ganze Erinnerungsgeneration das Jahr, das die Idee eines "dritten Weges" zwischen Kapitalismus und Kommunismus in sich beschloss. Wenn das in unserem Blick heute nicht mehr aufscheint, hat das auch damit zu tun, dass die Revolutionsromantik der 68er und Post-68er das letzte Aufflackern einer historischen Heldenkultur bedeutete. Einer historischen Heldenkultur, die der Gewalt von Revolutionen als vermeintlichen Lokomotiven der Weltgeschichte huldigte. Das Geschichtsbewusstsein unserer Gegenwart hingegen arbeitet sich ab am Leid der Unterdrückten und gibt der Klage der Entrechteten mehr Gehör als dem Appell der Beglücker. Auch deshalb wird sicherlich der 70. Jahrestag des Kriegsausbruchs 1939 eine wichtige Bedeutung haben.

Auch wegen des großen Interesses aus dem Ausland am Zweiten Weltkrieg?

Das spielt auch eine Rolle, natürlich. Aber dominant wird natürlich nicht 1919 sein und nicht 1939, sondern die gewaltfreie Niederstürzung des zweiten großen Diktatursystems des 20. Jahrhunderts.

Gedenkjahre bergen immer auch Kontroversen in sich. Was 1989 betrifft, gab es eine solche bereits im Vorfeld, und Sie selbst waren als Vorsitzender der Expertenkommission zur Aufarbeitung der SED-Diktatur mittendrin. Während Kulturstaatssekretär Bernd Neumann eine stärkere Beachtung der Diktatur forderte, plädierten Sie für mehr Aufmerksamkeit gegenüber dem Alltag in der DDR. Ist das Stoff für einen neuen Historikerstreit?

Der Streit ist schon Geschichte, und außerdem war er nur eine medial aufgeheizte Minikontroverse …

… in der man Ihnen vorgeworfen hat, die DDR weichzuspülen.

Da spielten auch die Medien eine Rolle und der Wunsch, konträre Positionen zu isolieren: Stasi gegen Kinderkrippen. Wenn Sie sich das jetzt beschlossene Gedenkstättenkonzept des Staatsministers anschauen, dann sind nahezu alle Elemente enthalten, die wir als Expertenkommission eingebracht haben, einschließlich der unentbehrlichen Alltagsdimension, zum Beispiel in dem im Gedenktstättenkonzept prominent erwähnten Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt.

Welche Kontroversen erwarten Sie für 2009?

Die werden sich nicht um das Verhältnis von Diktatur und Alltag drehen, sondern sicherlich viel mehr um die Frage, wem 1989 denn gehört.

Wer erhebt alles Anspruch?

Wir können drei Umbruchsgedächtnisse unterscheiden, die miteinander um Deutungshoheit konkurrieren. Einmal ist da das Revolutionsgedächtnis, getragen vor allem von der Opposition gegen das SED-Regime, von der Bürgerbewegung und denjenigen, die 1989 als eine friedliche Revolution begreifen. Daneben gibt es aber ein zumindest in Ostdeutschland vermutlich weit tiefer verankertes soziales Arrangementgedächtnis. Es zeigt sich schon semantisch, indem man vom Herbst 1989 nicht als Revolution spricht, sondern als Wende. Das Arrangementgedächtnis versucht das eigene Leben mit den sich verändernden Rahmenbedingungen in der Erinnerung zu verbinden. Da ist der eigentliche Umbruch oft nicht der 9. November, auch wenn er natürlich von fast allen als eine explosive Befreiung erlebt wurde, sondern der spätere Verlust des Arbeitsplatzes.

Und das dritte Gedächtnis?

Das wird keine so große Rolle spielen, zumindest nicht öffentlich. In Suböffentlichkeiten vielleicht schon. Das ist das Anschlussgedächtnis derer, die sagen: "Was heißt hier Revolution? Es handelt sich eher um einen Anschluss!" Diese drei Gedächtnisse werden sich aneinander abarbeiten, und es erscheint mir wichtig, dieser Auseinandersetzung Raum zu geben und nicht das eine Gedächtnis mit dem anderen zu erschlagen - sei es durch das Verstummen mit zusammengebissenen Lippen, sei es durch triumphale Gesten der öffentlichen Erinnerungsherrschaft.

Der Berliner Senat zeigt aus gegebenem Anlass eine Ausstellung am Alexanderplatz, am 9. November selbst wird es ein Event geben, dessen Mittelpunkt das Umfallen tausender Dominosteine ist. Wo hört Erinnerungskultur auf, wo fängt Tourismusmarketing an?

Touristen sind ein ganz wesentlicher Bestandteil der Erinnerungskultur. Auch die Touristen, die auf die Wartburg fahren, um nach dem Luther-Fleck zu schauen, folgen einer touristischen Erinnerungskultur. Erinnerungskultur ist die beherrschende Form der Vergangenheitsvergegenwärtigung unserer heutigen Zeit, die dem Gedächtnis dieselbe affektive Bedeutung beimisst wie die vorausgegangenen Generationen der Idee des Fortschritts und dem Bild einer strahlenden Zukunft. Geschichte wird für die Identitätsbildung von Städten, von Nationen, von Bürgern, von Milieus immer wichtiger.

Mit der zunehmenden Bedeutung von Geschichte verändert sich auch deren Vermittlung. Was verändert das Histotainment am Berufsbild des Historikers?

Bis in die Sechziger- und frühen Siebzigerjahre wurden Geschichtsstudenten entweder Hochschullehrer oder Geschichtslehrer. Später wurden sie oft auch Taxifahrer und zeugten so von einer Krise der Historikerausbildung. Es zeigte sich aber auch, dass Historiker viel breitere Berufsbilder entwickelten als andere geisteswissenschaftliche Disziplinen. Sie eroberten sich Berufsfelder in Unternehmensarchiven, sie beteiligten sich an dem, was heute Geschichtskultur heißt. Sie sind heute in vielen Professionen tätig, in denen mit Geschichte gearbeitet und gehandelt, aber oft nicht auf Geschichte reflektiert wird. Ich glaube deshalb, dass wir auch neue Studiengänge für Historiker brauchen, die den klareren Anwendungsbezug mit der Reflexion auf die Entwicklungskräfte der Geschichtskultur verbinden.

Wie den Studiengang Public History, den das ZZF zusammen mit dem Friedrich-Meinecke-Institut der FU Berlin anbietet?

Das ist in der Süddeutschen Zeitung vor kurzem als kurzsichtiges Powerpoint-Studium kritisiert worden. Tatsächlich aber geht es darum, anwenderbezogen Fertigkeiten praktisch zu vermitteln und theoretisch zu reflektieren. Der Studiengang will den metareflexiven Beitrag zur Geltung bringen, den die Fachwissenschaft über das hinaus einbringen kann, was jeder leisten kann, wenn er sich mit Geschichte beschäftigt.

Die Kulturstiftung des Bundes beteiligt sich 2009 auch am Erinnern an den Herbst 1989. Sie veranstaltet, unter anderem mit Ihrem Institut, ein Geschichtsfest. Kann man sagen, dass sich da eine neue Dichotomie abzeichnet: auf der einen Seite die Geschichtspolitik von oben, auf der anderen eine neue Geschichtskultur von unten?

Das ist ein interessantes Bild. Allerdings sehe ich diese Dichotomisierung eher nicht. Ich kann im Gegenteil ein gewisses Unbehagen an dem nicht unterdrücken, was wir heute "Vergangenheitsaufarbeitung" nennen. Und zwar nicht, weil sich die Aufarbeitung etwa gegen die gedenkpolitischen Maximen des Staates oder der Öffentlichkeit stemmen würde. Ganz im Gegenteil: Unbehagen verspüre ich, weil wir alle auf eine verblüffende Weise im Konsens agieren. Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft sind sich seit dem heftigen Streit um die Wehrmachtsausstellung Mitte der Neunzigerjahre fast unheimlich einig geworden über die tragenden Linien der historischen Identitätsbildung. Ich frage mich, ob dies nicht am Ende einen schnell hart werdenden Panzer des historischen Bewusstseins geben kann, der dann von anderer Seite aufgesprengt wird - von außen oder von unten.

Zum Beispiel im Wahljahr 2009, wenn die NPD in weitere Parlamente ziehen würde.

Die differenzierende historische Auseinandersetzung erreicht Rechtsradikale nicht. Die Vertiefung historischer Kenntnisse hat nicht zu einer Austrocknung rechtsradikaler Positionen geführt. Umgekehrt sehe ich auch nicht, dass geschichtsrevisionistische Ansätze von rechts stärker in das kulturelle Gedächtnis einsickern.

Auch keine Umdeutung der Deutschen von einem Täter- zum Opfervolk?

Nein, das würde ich eher anders herum erklären. Der gesellschaftliche Opferkonsens ist mittlerweile so breit und so identitätsbildend geworden, dass er heute auch Bevölkerungsgruppen in ihrem erfahrenen Leid zur Geltung kommen lassen kann, die man früher alle auf der Täterseite gebucht hätte. Die zeitweilige Ausgrenzung etwa des Vertriebenenschicksals aus der Erinnerungskultur hatte damit zu tun, dass der Zeit ihrer Tabuisierung eine Zeit der Aufrechnung vorangegangen war. Die hat in nationalen Aufrechnungskategorien argumentiert und so versucht, eine Gleichrangigkeit der Schuld herzustellen. Mittlerweile sind wir von der moralischen Singularität des Holocaust so stark durchdrungen, dass unsere souveräner und sensibler gewordene Geschichtskultur es sich leisten kann, auch mit dem Leiden von Opfern umzugehen, in denen sich Tätergesichter spiegeln können.

Welche Rolle kann bei der Aufarbeitung, im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft, die Literatur spielen? Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" ist ein vielstimmiges Bild der untergehenden DDR, wie es von Historikern selten gezeichnet wird.

Ihre Frage berührt ein ganz wichtiges Feld der Forschung, das noch gar nicht erschlossen ist - nämlich die Frage nach dem Kommunismus als Erzählung. Wir wird kommunistische Herrschaft, wie wird das Leben in den Staaten Mittel- und Osteuropas im Nachhinein in der erzählten Lebensgeschichte repräsentiert? Wie stark wird es zum Beispiel genetisch erzählt, vom Anfang, von den Wurzeln? Wie stark wird es teleologisch erzählt, vom Ende her? Wie verarbeiten Biografien historische Umbrüche? Aus der Beantwortung solcher Fragen werden wir noch viel lernen über die Mechanismen zeitgeschichtlicher Diktaturverarbeitung.

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