Gewaltprävention nach Brokstedt-Attentat: Stützen, bevor es kracht

Mit Gewaltpräventionsambulanzen will Schleswig-Holstein schwere Straftaten im Vorfeld verhindern: eine Reaktion auf die Messerattacke von Brokstedt.

Schatten symbolisieren, wie ein Kind versucht, sich vor der Gewalt eines Erwachsenen zu schützen

Präventionsambulanzen: Ein Baustein, sodass Gewalt nicht entsteht Foto: Maurizio Gambarini/dpa

KIEL taz | Die Jugendliche im Wohnheim, die auf jede Kritik mit Geschrei und Spuckattacken reagiert, der alkoholisierte Obdachlose, der in der Unterkunft den Bettnachbarn angreift – auch professionelle Hel­fe­r*in­nen sind oft ratlos, wie sie mit gewaltbereiten Menschen umgehen sollen. Es fehlen Zeit, Personal und manchmal auch Fachkenntnis.

Damit aber Wut und Frust nicht in schweren Straftaten münden, will Schleswig-­Holstein Gewaltpräventionsambulanzen schaffen, die als Anlauf- und Koordinierungsstellen dienen sollen. Der Landtag hatte das neue Angebot im Frühjahr beschlossen, kurz nachdem ein mutmaßlich psychisch kranker Mann in einem Regionalzug nahe dem Ort Brokstedt mit einem Messer um sich ­gestochen, zwei Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt hatte.

„Wer am meisten Hilfe bräuchte, erhält oft am wenigsten, und einige fallen komplett durch die Maschen“, fasste Christian Huchzermeier, Direktor des Instituts für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie (ISFP) am Uniklinikum Kiel die aktuelle Lage zusammen. Wie es besser laufen könnte, stellte er gemeinsam mit Reiner Johannsen von Pro Familia, Bernd Priebe vom Verein „Wendepunkte“ in Elmshorn und Inke Asmussen vom Verein „Krisendienst“ in Schleswig am Mittwoch vor.

Mit dabei war Otto Carstens, Staatssekretär des Justiz- und Gesundheitsministeriums, das die Fördermittel für die Gewalt­präventionsambulanzen stellt. 200.000 Euro fließen im Jahr 2023, im Haushalt 2024 sind 400.000 Euro eingeplant.

Taser sind teurer

Klingt viel, sei im Verhältnis aber wenig, so Huchzermeier: In Bayern, das erste Bundesland, das Gewaltpräventionsambulanzen eingerichtet hat, stünden pro Jahr 2,4 Millionen Euro zur Verfügung. Und Jan Kürschner, der sich in der Grünen Landtagsfraktion für das Thema der Ambulanzen stark gemacht hatte, verwies darauf, dass Taser, die Personen per Stromschlag außer Gefecht setzen und mit denen die Polizei zurzeit ausgestattet wird, pro Stück 250.000 Euro kosten. Im Vergleich gebe es also wenig Geld für Prävention, dennoch lasse sich damit viel erreichten, ist der Abgeordnete überzeugt.

Geplant ist, dass die Anlaufstellen, die bereits heute mit psychisch kranken Straffälligen arbeiten, künftig auch denen helfen, die noch keine Straftaten begangen haben, aber zu Gewalt neigen. Es gelte, „Täterkarrieren zu vermeiden“, sagte Bernd Priebe, dessen Verein im Hamburger Randgebiet vor allem Jugendliche betreut.

Im Zentrum stehen die Forensischen Ambulanzen in Kiel, die zur Uni-­Klinik gehört, sowie in Flensburg und Lübeck, die von Pro Familia betrieben werden. „Mit den Mitteln, die wir zurzeit haben, können wir zwar nicht ständig Sozialarbeiter rausschicken, aber wir können eine Lotsenfunktion übernehmen“, erklärte Pro-Familia-Landesgeschäftsführer Reiner Johannsen.

Denn es gebe durchaus viele Hilfsmöglichkeiten, etwa Sucht- oder Schuldnerberatungen, sozialpsychiatrische Dienste, Wohnungslosenhilfen. Auch staatliche Stellen wie die Ausländerbehörde, die Polizei oder Ministerien könnten zu Teilen eines Hilfsnetzes werden, hofft Huchzermeier.

Reaktion auf Brokstedt-Attentäter

Geplant ist, Mitarbeitende zu schulen, ihnen Tipps zu geben, wie sie mit Personen umgehen sollen, die zu Gewalt neigen oder sich feindselig verhalten. Denn oft haben Taten eine lange Vorgeschichte. So hatte der aus Palästina stammende Ibrahim A., der zurzeit wegen der Messerattacke im Regionalzug in Itzehoe vor Gericht steht, zuvor in Hamburg in Untersuchungshaft gesessen, weil er in einer Wohnungslosenunterkunft jemanden verletzt haben soll.

Kein Einzelfall: Der Verlust der Wohnung gehöre zu immer wieder auftauchenden Risikofaktoren, so Huchzermeier. Er nannte außerdem Drogenkonsum, finanzielle Probleme oder einen ungeklärten Aufenthaltsstatus. Auch psychische Krankheiten könnten eine Rolle spielen – wobei generell psychisch Kranke nicht häufiger gewalttätig seien als der Schnitt der Gesellschaft.

Aber viele Fragen bleiben zum Start der Ambulanzen offen: Was tun, wenn jemand jede Behandlung ablehnt? Wer zahlt, wenn ein Mensch im Asylverfahren eine langwierige Therapie bräuchte? Ja, es gebe noch einige praktische Probleme und Fragen, sagte Huchzermeier. Dennoch sei der Start wichtig, betonte Inke Asmussen vom Krisendienst in Schleswig, der ehrenamtlich und telefonisch Menschen in psychischen Ausnahmesituationen berät. „Das Neue ist, dass wir jetzt zusammenarbeiten. Das Ziel muss sein, dass es weniger darum geht, wer zuständig ist, als um die Frage, was am besten hilft.“

Auch mit dem neuen Angebot gebe es keine Garantie, dass sich Taten wie die bei Brokstedt verhindern ließen, sagte Staatssekretär Carstens. „Aber jeder Baustein, der hilft, dass Gewalt gar nicht erst entsteht, ist wertvoll.“

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