Historiker zu Antisemitismus in Schulen: „Stärker über Ideologie sprechen“

Eine neue Website informiert Jugendliche über Antisemitismus. Projektleiter Malte Holler über Leerstellen im Unterricht und Fehlannahmen der Politik.

Die Scherben zerbrochener Scheiben auf einem Gehsteig

Scherben überall: Am Tag nach der Reichspogromnacht in Berlin Foto: dpa

taz: Herr Holler, am Donnerstag jährt sich die Reichspogromnacht zum 85. Mal. Wie verbreitet der Hass auf ­Jüdinnen und Juden in Deutschland auch heute ist, hat der Angriff der Hamas auf Israel sichtbar gemacht. Wird die deutsche Gesellschaft ihrer besonderen Verantwortung gerecht?

Malte Holler: Diese Frage lässt sich nicht mit einem klaren Ja oder Nein beantworten. Zunächst müssen wir feststellen, dass antisemitische Einstellungen in der deutschen Bevölkerung weit verbreitet sind. Die politische Elite des Landes bekundet immer wieder, dass sie sich der historischen Verantwortung bewusst sei. Nun kommt es aber darauf an, daraus auch die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Denn neben dem Erinnern an die Schrecken der NS-Zeit und dem Schutz von jüdischem Leben braucht es auch eine nachhaltige Demokratieförderung. Davon sind wir momentan weit entfernt.

49, ist Historiker und seit knapp 20 Jahren in der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung tätig. Aktuell arbeitet er beim Berliner Verein „Bildung in Widerspruch“, wo er mit seinem Team das Portal „An allem Schuld – Wie Antisemitismus funktioniert“ entwickelt hat. Vorher war Holler für die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA) tätig.

Aktuell klingt es bei Po­li­ti­ke­r:in­nen so, als trügen auch die Schulen Schuld an den antisemitischen Vorfällen. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) etwa kritisierte, das Thema Antisemitismus werde im Unterricht nicht genügend behandelt. Stimmen Sie zu?

Ich stimme zu, dass die Institution Schule momentan nicht in die Lage versetzt wird, dem Thema Antisemitismus den Raum zu widmen, den er einnehmen müsste. Dafür sind die Curricula zu eng und die Personalnot zu groß. In der Praxis sehen wir doch, dass es an vielen Schulen oft nur zu einem Projekttag mit einem externen Bildungsträger kommt und das war’s. Im regulären Unterricht kommen Themen wie Antisemitismus oder Rassismus dann häufig zu kurz. Dazu kommt, dass nicht alle Lehrkräfte den Anforderungen, wie man beispielsweise jetzt gut über den Nahostkonflikt reden sollte, gerecht werden.

Woran liegt das?

Über die fehlenden Ressourcen haben wir schon gesprochen. An manchen Schulen stimmen die Bedingungen, an anderen nicht. Aber es gibt noch andere Gründe. Viele Päd­ago­g:in­nen denken, dass die Beschäftigung mit der Shoah den Antisemitismus beseitigen könnte. Meiner Erfahrung nach gehört das zu den am weitesten verbreiteten Missverständnissen. Tatsächlich wird Judenhass dann oft auf seine Folgen verkürzt. Es ist aber wichtig, dass im Unterricht auch stärker über die Grundstrukturen antisemitischer Ideologie gesprochen wird. Dadurch bietet sich viel eher der Raum, die eigenen Vorurteile kritisch zu hinterfragen. Zum Glück gibt es aber auch einzelne Lehrkräfte und Schulleitungen, die hier sehr gute Arbeit leisten.

Sie haben vor drei Jahren rund 400 Schü­le­r:in­nen zu Antisemitismus befragt. Viele hatten Probleme, subtilere Formen von Judenhass zu erkennen. Wie erklären Sie sich das?

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass den meisten Menschen in Deutschland jüdisches Leben im Alltag nicht begegnet. Dazu kommt, dass Antisemitismus an Schulen meist nur historisch betrachtet wird, im Zusammenhang mit der Judenverfolgung in der NS-Zeit. Für junge Menschen bleibt Antisemitismus deshalb sehr abstrakt. Uns ist beispielsweise aufgefallen, dass Jugendliche antisemitische Aussagen verteidigen, wenn sie glauben, das sei ja nicht wirklich so gemeint.

Die aktuelle Memo-Jugendstudie zeigt, dass 16- bis 25-Jährige heute sensibler für Diskriminierung sind als ihre Eltern und sich auch mehr für die NS-Zeit interessieren. Wie passt das zu Ihren Befunden?

Es gibt eine subtile Konkurrenz zwischen den verschiedenen Ausgrenzungsdynamiken. Ich habe viele Jahre Antisemitismus-Projekte an Berliner Schulen begleitet. Dabei habe ich oft gehört: „Warum reden wir heute über Antisemitismus? Warum reden wir nicht über unsere Probleme?“ Das liegt natürlich an den eigenen Ausgrenzungs- oder Rassismuserfahrungen heutiger Schüler:innen. Interessanterweise findet sich diese persönliche Beobachtung auch in unserer breit angelegten Umfrage. So bezeichneten Schü­le­r:in­nen Rassismus deutlich häufiger als Problem in unserer Gesellschaft als Antisemitismus. Zu welchen Konflikten diese Konkurrenz führen kann, sieht man heute.

Projekte wie „meet2respect“ oder „Meet a Jew“ setzen auf Begegnung mit Jüdinnen und Juden. Ist das der Schlüssel?

Eine persönliche Begegnung kann eine wichtige Erfahrung sein. Wichtig ist aber immer, dass solche Besuche gut vor- und nachbereitet werden. Besonders, wenn es sich um einmalige Veranstaltungen handelt. Da müssen wir die vielen engagierten Lehrkräfte, die es schließlich auch gibt, unterstützen. Das Anliegen, die Perspektive von Jüdinnen und Juden sichtbar zu machen, ist jedenfalls sehr wichtig. Auf unserer neuen Website zum Thema Antisemitismus haben wir deshalb auch Videos integriert, in denen junge Jüdinnen und Juden von ihrem Glauben, ihrem Alltag oder auch ihren Diskriminierungserfahrungen erzählen.

Die Website www.an-allem-schuld.de ist seit Montag freigeschaltet. Sie soll Jugendliche ab 14 Jahren einladen, sich mit Antisemitismus zu beschäftigen. Was finden sie dort?

Wir stellen auf der Seite verschiedene Facetten von Judenhass dar, als Faktenwissen, aber auch analytisch. Wir geben Antworten auf die Fragen „Was ist Antisemitismus? Wie äußert er sich? Wie verbreitet er sich?“ Wir geben auch Anregungen, was man dagegen tun kann. Auf der Website gibt es kleine Spiele, kurze Erklärfilme, Experteninterviews. Das Angebot richtet sich an Jugendliche, soll aber auch für junge Erwachsene und Päd­ago­g:in­nen interessant sein.

Warum braucht es diese neue Website? Gibt es im Netz nicht bereits genügend Informationen zum Thema?

Ja, die gibt es. Aber nicht unbedingt für diese Zielgruppe und häufig weit verstreut. Wir haben versucht, die verschiedenen Aspekte von Antisemitismus und jüdischem Leben in Deutschland zu bündeln und altersgerecht zusammenzufassen. Sie werden sehen, die Website sieht auch deutlich bunter und moderner aus als andere Angebote.

Sie sind mit dem Angebot auch auf Tiktok, Instagram und Youtube. Glauben Sie, dass Sie dort viel Beachtung finden?

Bildungsarbeit über soziale Medien ist ein Experimentierfeld. Wenn man dort erfolgreich Bildungsarbeit machen will, muss man permanent aktiv sein und Content produzieren. Vor allem auf Tiktok. Das können wir nicht leisten – da fehlen uns schlicht die Ressourcen. Im Projekt entstandene Videos stellen wir auf Youtube und Tiktok. Auf Instagram posten wir kontinuierlich und werben für unsere Seite. Aber auch das kostet Zeit, die dann für andere Arbeiten fehlt. Ein weiteres Problem liegt in der zeitlichen Befristung unseres Projekts. Es ist völlig offen, wer nach Projektende Website und Social-Media-Accounts betreut.

Wie lange werden Sie noch gefördert?

Bis Ende 2024. Ob und wie es weitergeht, ist nach wie vor unklar. Als Träger der politischen Bildung müssen wir uns ständig damit befassen, neue Projekte für die Zeit danach an Land zu ziehen. Das ist ein großer Nachteil der aktuellen Förderstruktur. In ganz regelmäßigen Abständen stehen die Träger vor existentiellen Nöten.

Auf dem Bundeskongress Politische Bildung hat Innenministerin Nancy Faeser (SPD) soeben versprochen, die geplanten Kürzungen bei der Bundeszentrale für politische Bildung zurückzunehmen. Sind Sie vom Hin und Her betroffen?

Leider ja. Unser Projekt wird auch zum Teil von der Bundeszentrale für politische Bildung finanziert. Und die hat uns nach Bekanntgabe der Sparpläne im Sommer mitgeteilt, dass die Förderung bei uns eingestellt wird. Wir mussten Arbeitsstunden, Sachmittel und auch Ziele streichen. Ob wir jetzt vielleicht doch wieder gefördert werden, wissen wir nicht. Es ist schwer auszuhalten, dass viele wichtige Demokratieprojekte regelmäßig vor dem Aus stehen. Die Politik muss endlich umdenken und die Strukturen nachhaltiger gestalten.

Wenn Sie an die Ergebnisse der Mitte-Studie oder die Wahlerfolge der AfD in Bayern und Hessen denken: Wie positiv blicken Sie in die Zukunft?

Mich stimmt positiv, dass die Politik heute deutlich mehr für Demokratiebildung ausgibt als vor 10, 15 Jahren. Doch Bildung ist immer wieder eine der ersten Optionen für Einsparungen. Diese Sparlogik im Bund und in Ländern für höchst problematisch. Wenn man die Demokratiebildung nur schätzt, wenn es gerade knallt, und in ruhigeren Zeiten die Mittel streicht, hat das eine schlimme Signalwirkung.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.