Historischer Gerichtsprozess zu Belarus: Morde im Auftrag des Regimes

In Belarus verschwanden vor über 20 Jahren viele Regimekritiker. Juri Garawski sagt, er war daran beteiligt. Deshalb steht er in der Schweiz vor Gericht.

Ein Mann mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze steigt aus einem Auto

Der 45-jährige Juri Garawski (mit Kapuze) vor dem Gericht in der Schweiz Foto: Gian Ehrenzeller/Keystone/dpa

BASEL taz | Die Schilderungen des Angeklagten könnten aus einem Krimi stammen: Ein Mann behauptet, er sei an mehreren Morden beteiligt gewesen. Laut seiner Aussage befällt ihn nach mehr als 20 Jahren Reue. Er beschließt, zu gestehen. Aber da die Opfer als verschollen gelten, sind weder Beweise noch Zeu­g:in­nen vorhanden und niemand glaubt ihm.

Die Beamten, denen er seine Geschichte erzählt, tun diese als fiktionalen Einfall ab. Also setzt er alles daran, seine eigene Schuld zu beweisen. Gemeinsam mit der Tochter eines der Opfer gibt er einer Zeitung ein Interview. „Ich glaube Ihnen, dass Sie meinen Vater umgebracht haben“, sagt die Tochter zu ihm. „Alles, was ich will, ist eine faire Verhandlung“, meint der Mann.

Zu einer Verhandlung kam es diese Woche am Kreisgericht Rorschach in der Ostschweiz. Das internationale Interesse am Fall war derart groß, dass die Verhandlung an das Kantonsgericht St. Gallen verlegt werden musste. Der Prozess erregt vor allem wegen seiner politischen Bedeutung Aufmerksamkeit.

1999 in Belarus war der damals 20-jährige Juri Garawski laut eigener Aussage Teil der Sondereinheit Sobr, die Oppositionelle entführt und ermordet habe – darunter der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko. Bis 2003 sei Garawski in der Einheit geblieben, deren angebliche Aufgabe war, Kriminalität zu bekämpfen.

Wie Lukaschenko an die Macht kam

Die Entführungen Ende der 1990er-Jahre seien Teil des Kampfes gegen die Opposition gewesen, meint die Politikwissenschaftlerin und Herausgeberin der Belarus-Analysen Olga Dryndova: „Mit dem Image des einfachen, normalen Mannes fuhr Lukaschenko bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen klaren Sieg ein. Er inszenierte sich als Volkspräsident im Gegensatz zu den alten Eliten und intensivierte die Bekämpfung der Korruption.“

Gleichzeitig habe er eine Politik der Annäherung an Russland betrieben, basierend auf sowjetnostalgischen Gefühlen in der Gesellschaft. Im wirtschaftlichen Chaos nach dem Zerfall der Sowjetunion argumentierte Lukaschenko mit Stabilität. In zwei Referenden 1995 und 1996 trieb er eine Annäherung an Russland sowie die Konsolidierung der Autokratie voran. Auf die Parlamentarische folgte die Präsidiale Republik, die rot-weiße Nationalflagge musste den alten sowjetischen Symbolen weichen. „Alles, was einen Bezug zur belarussischen Sprache oder Kultur hatte, musste bekämpft werden“, sagt Dryndova.

Die Methoden des Sicherheitsapparates gegen die Opposition seien bis heute dieselben. Wer in Belarus mit rot-weißen Symbolen auf der Straße erwischt wird, muss mit einer Verhaftung rechnen. Die gewaltsam niedergeschlagenen Proteste nach der manipulierten Präsidentschaftswahl 2020 verleihen dem Prozess gegen Juri Garawski in St. Gallen zusätzliche Bedeutung.

Doch wie kommt es, dass ein Kreisgericht in der Ostschweiz über ein Verbrechen verhandelt, das sich vor über 24 Jahren im Norden von Minsk zugetragen haben soll? Das liegt am Tatbestand des Verschwindenlassens. Weil der Vorwurf so lautet, kommt das Weltrechtsprinzip zur Anwendung. 2015 wurde die UN-Konvention gegen das Verschwindenlassen durch einen Entscheid des Schweizer Parlamentes ins Strafrecht integriert. Das Weltrechtsprinzip bezieht sich auf Straftaten, die direkt durch das Völkerrecht geregelt werden. Sie können überall auf der Welt angeklagt werden, auch in der Schweiz, wo Juri Garawski als vorläufig Aufgenommener lebt.

Da er sich in Belarus nicht mehr sicher gefühlt habe, sei der heute 45-jährige Garawski 2018 in die Schweiz geflohen und habe Asyl beantragt, wie die NZZ berichtete. Laut Garawskis Worten brach er sein Schweigegebot als Mitglied der Sobr-Einheit Anfang 2019, als er seine Geschichte Beamten des Staatssekretariats für Migration erzählte. Doch weil das, was er beschrieb, so abenteuerlich klang und es an Beweisen mangelte, vermuteten diese, Garawski erfinde die Geschichte, um einen positiven Asylentscheid zu erhalten.

Danach suchte Garawski Öffentlichkeit. Er schilderte die Ereignisse in einem Film der Deutschen Welle, ließ sich von der NZZ gemeinsam mit der Tochter Juri Sacharenkos interviewen.

Die Tat einer Todesschwadron

In dem Film legte Garawski Dokumente vor, die beweisen sollen, dass er Mitglied der Sondereinheit Sobr gewesen sei, sowie eine Namensliste jener Leute, die an den Entführungen und Ermordungen teilgenommen haben sollen. Als Soldat sei er jedoch bloß ein Ausführender gewesen, meint Garawski. „Wir haben sie nur festgenommen.“ Den Abzug gedrückt habe jeweils Dmitri Pawlitschenko, ein Offizier des weißrussischen Innenministeriums und Gründer der Sobr-Einheit, so Garawski.

Zwei Ermittler des Europarates kamen nach Untersuchungen zum Fall 2004 zum Schluss: Der Mord am Ex-Innenminister Juri Sacharenko sei zweifellos die Tat einer Todesschwadron gewesen. Davon geht auch Jelena Sacharenka aus, die Tochter des verschwundenen Politikers. Im Film der Deutschen Welle äußerte sie zu Garawski: „Es geht nicht um ihn, es geht um das ganze System, das hinter ihm steht. Ihm kann man nichts vorwerfen. Menschen wie er sind abhängig von diesem System. Sie sind gezwungen, dessen blutige Verbrechen auszuführen.“

Als Privatklägerin ist Jelena Sacharenka vor Gericht in St. Gallen. Für sie und die Tochter Anatoli Krasowskis, eines weiteren verschwundenen Oppositionellen, die ebenfalls als Privatklägerin auftritt, sei die Bedeutung des Prozesses hoch, wie ihr Anwalt Severin Walz im Gespräch mit der taz sagt: „Seit 24 Jahren warten sie auf einen solchen Prozess und darauf, dass es vor Gericht zu einer Gewissheit kommt.“

Eine Woche bis zum Urteil

Obwohl Staatsanwaltschaft und Gerichte an der Glaubwürdigkeit des Angeklagten zweifeln, gehe der Anwalt von einem Schuldspruch aus. Die Urteilsverkündung soll in der kommenden Woche schriftlich erfolgen. Solange hat sich das Gericht für eine Konsultation zurückgezogen.

Ob die lange Wartezeit mit dem medialen Druck zusammenhänge, darauf gibt das Kreisgericht Rorschach auf Anfrage der taz keine Antwort. Längere Beratungen seien üblich, und da während der Verhandlung neue Akten hinzugekommen seien, brauche das Gericht die Zeit, um zu einem Urteil zu kommen.

Wegen der 2015 angenommenen UN-Konvention könnte das Kreisgericht Rorschach Garawski nun aufgrund des Tatbestandes des Verschwindenlassens, nicht jedoch für die Entführung und die Morde verurteilen. „Das Verschwindenlassen wird von autokratischen Regimen dazu eingesetzt, um Angst und Schrecken zu verbreiten“, sagt Walz.

Mit der Liquidierung des ehemaligen Innenministers Sacharenko, der das Land zurück zum Recht hatte führen wollen, sei der Weg für Lukaschenko in Richtung Autokratie frei gewesen. „Niemand wurde jemals zur Verantwortung gezogen, es fand keine Aufklärung statt“, meint Walz weiter.

Vor Gericht bat Garawski die Angehörigen der Opfer um Verzeihung. Während seine Anwältin auf Freispruch plädierte, forderte die Staatsanwaltschaft eine Freiheitsstrafe von drei Jahren, eines davon unbedingt.

Eine Verurteilung hätte eine politische Signalwirkung, wie Severin Walz sagt: „Es wäre das erste Mal, dass jemand aus dem Lukaschenko-Regime verantwortlich für jene Taten gemacht würde.“ Gleichzeitig könnte eine Verurteilung bewirken, dass sich Menschen, die sich an Menschenrechtsverbrechen von Regimen beteiligen, nicht mehr sicher vor Strafverfolgung fühlen können. Doch an der Tatsache, dass man in Belarus nicht zu seinem Recht kommen kann, würde dies nichts ändern.

Klar ist jedoch, dass eine Verurteilung Druck auf das Regime in Belarus ausüben würde. Denn eines der Tatbestandsmerkmale besagt, dass die Morde im Auftrag des Staates vollzogen wurden. So blickt die Welt gespannt in die Ostschweiz – und wartet auf das Urteil von nächster Woche.

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Mehr Geschichten über das Leben in Belarus: In der Kolumne „Notizen aus Belarus“ berichten Janka Belarus und Olga Deksnis über stürmische Zeiten – auf Deutsch und auf Russisch.

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