Integrationsdebatte nach Silvester: Zurück in den Neunzigern

Ein Staat kann sich nicht gefallen lassen, wenn Rettungskräfte angegriffen werden. Aber die Debatte über die Täter ist erschreckend verblödet.

Polizisten werden mit Böller und Raketen beworfen

Konservative wünschen sich angesichts dieser Bilder mehr Härte Foto: Florian Boillot

Armes Deutschland. Da wollte es einfach wohlverdient ins neue Jahr rüberrutschen und schon meldete sich die nächste Krise an. In sozialen Brennpunkten in Berlin gab es in der Silvesternacht Randale und Attacken auf Polizei- und Rettungskräfte. Das hat zu einer heftigen Debatte geführt über, ja, äh, was eigentlich?

„Da geht es eher um ungeregelte Migration, gescheiterte Integration und fehlenden Respekt vor dem Staat statt um Feuerwerk“, sagt der stellvertretende Unionsfraktionsvorsitzende Jens Spahn und reiht sich ein bei Konservativen und Rechten, die längst ihr rassistisches Narrativ ausgepackt haben: das der gewaltbereiten Ausländer und Migranten. Hingegen fehlt Teilen der Linken eine ernstzunehmende Erklärung. Die ersten Tage sprachen die lieber vom Böllerverbot, weil Verbote ja so progressiv sind.

Scheiße, sind wir ver­sehentlich statt in 2023 zurück in den Neunzigern gelandet?

Konservative wünschten sich mehr Härte und Ordnung, träfen aber mit einem Böllerverbot auch eigene Anhänger, und so weichen sie lieber aus und fordern Debatten über Integration oder Einwanderung. Strategisch ist das natürlich klug. So hat man gleich ein paar potentielle Wäh­le­r:in­nen rechts der Mitte abgeholt. Seehofer, bist du’s? Scheiße, wir sind versehentlich statt im Jahr 2023 zurück in den Neunzigern gelandet.

Weil die Randalen in Bezirken stattgefunden haben, in denen mehrheitlich arabisch- oder türkischstämmige Menschen leben und die Täter, junge Männer, also aus migrantischen Milieus kamen, sollen die Ausschreitungen einen migrantischen Hintergrund haben, las ich häufiger.

Faeser liegt richtig – und komplett daneben

Dabei erklärt sich der Hintergrund der Taten doch nicht mit der Herkunft von Eltern oder Großeltern der Täter, sondern mit Problemen, die sehr nah sind und mitten in unseren Großstädten liegen: Armut, Perspektivlosigkeit, patriarchale Strukturen, fehlende Aufstiegschancen, Rassismus.

Abgehängte junge Männer, Halbstarke, fühlen sich 364 Tage im Jahr machtlos und abgelehnt und wollen an Tag 365 einmal Macht verspüren. Oder, wie es die Neuköllner Integrationsbeauftragte Güner Balci in einem Interview mit dem Spiegel etwas ehrlicher formulierte: „Es sind die hoffnungslos Abgehängten, platt gesagt: absolute Loser.“

Wenn Innenministerin Nancy Faeser von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“ spricht, liegt sie richtig und gleichzeitig völlig daneben. Gewaltbereit waren die Täter, ja. Aber welcher Integration sollen sich Heranwachsende verweigern, die hier groß geworden sind, in ihrem Berlin, in dieser Gesellschaft, in Deutschland?

Produkte ihrer Umwelt

Es kann nicht sein, dass wir uns als Gesellschaft erst verantwortlich für diese Milieus fühlen, wenn es zu Problemen kommt. Würden weite Teile unserer Gesellschaft anerkennen, dass auch diese jungen Männer Teil dieser Gesellschaft sind und der Umgang mit ihrem Freidrehen somit Aufgabe dieser Gesellschaft ist, könnten wir uns Integrationsdebatten zukünftig sparen.

Ihre Exzesse sind nicht nur das individuelle Ergebnis ihrer Lebensentscheidungen, sondern von einer fehlgeleiteten Sozial- und Jugendpolitik. Diese jungen Männer sind Produkte ihrer Umwelt. Oder wie Bushido rappte: „Ihr habt mich erschaffen und jetzt guckt, wie euer Weltbild umfällt“.

Natürlich kann sich ein Staat nicht gefallen lassen, dass Rettungskräfte und Feuerwehrleute im Einsatz angegriffen werden. Straftaten müssen angemessen verfolgt werden. Die Politik könnte aber dazulernen: und stärker diejenigen unterstützen, die Probleme in sozialen Brennpunkten angehen.

Oder aber wir verbieten erst Böller, sperren später alle Migranten weg. Wem dann noch nicht klar geworden ist, wie verblödet und rückständig diese vermeintliche Debatte ist, der nimmt wahrscheinlich auch gerne brennende Feuerwerkskörper in die Hand.

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Redakteurin für Gesellschaft im Ressort taz zwei. Schreibt über postsowjetische Migration, jüdisches Leben und Antisemitismus sowie Osteuropa. Axel-Springer-Preis für jungen Journalismus 2021, Kategorie Silber. Freie Podcasterin und Moderatorin.

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