Irina Scherbakowa über Lage in Russland: „Krieg ist Putins politisches Kapital“

Trotz der über 300.000 gefallenen russischen Soldaten bleibt die Unterstützung für Putin groß. Die Historikerin Irina Scherbakowa im Gespräch.

Irina Scherbakowa trägt mittellanges braunes Haar und eine dunkle Brille

Die Autorin und Historikerin Irina Scherbakowa, hier bei einer Lesung in Dresden Foto: Ronald Bonss/imago

taz: Mit dem Winter nehmen die russischen Angriffe auf die Ukraine zu. Sind wir an einem kritischen Punkt des Konflikts angelangt, Frau Scherbakowa?

Irina Scherbakowa: Nein, das glaube ich nicht. Natürlich nehmen die Attacken an manchen Orten, zum Beispiel um das Donbass-Gebiet, zu. Aber ich habe überhaupt nicht das Gefühl, dass es zu irgendeiner Wende kommen kann. Im Gegenteil, es kommt auch schlechtes Wetter und Winter dazu und das verhindert immer die Kriegshandlungen. Eher glaube ich, dass wir jetzt so etwas wie einen eingefrorenen Konflikt erleben werden.

ist Germanistin und Historikerin. Sie forscht zu Oral History, Totalitarismus und Erinnerungspolitik. Sie ist Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial, die 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Scherbakowa lebt heute in Deutschland und Israel.

Andrij Jermak, Chef des Präsidial­amtes der Ukraine, hat gesagt, das Jahr 2024 wird entscheidend sein. Glauben Sie das auch?

Ich hoffe es. Aber das hängt von der Frage ab, wie standfest die Ukraine noch ist und wie viel Potenzial man hat. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Putin noch Möglichkeiten hat, sowohl wirtschaftliche als auch menschliche, diesen Krieg fortzusetzen. Ich denke also, das hängt alles nun von der westlichen militärischen Unterstützung ab.

Halten Sie Friedensverhandlungen mit dem Kreml-Chef in irgendeiner Form überhaupt für möglich?

In meinen Augen sind Verhandlungen nicht möglich. Ich glaube, das sind falsche westliche Erwartungen und vorprogrammierte Enttäuschungen. Auch für Putin wären Friedensverhandlungen jetzt kein politischer Gewinn. Man muss ja bedenken, dass er sich schon im Wahlkampf befindet, im nächsten Jahr sind seine Wahlen. Ich denke, es ist für ihn politisch besser, diesen Krieg irgendwie weiterzuführen, um den Leuten immer weiter zu versprechen, es kommt zu einem Sieg. Krieg ist für ihn heute sein politisches Kapital. Das ist leider die traurige Realität in der Ukraine.

Realität ist auch, dass bis dato mehr als 300.000 russische Soldaten gefallen sind. Dennoch scheint in Russland die Unterstützung für Putin nicht nachzulassen. Wie ist das zu erklären?

Dazu gibt es verschiedene, auch sehr widersprüchliche Umfrageergebnisse in Russland. Über die Hälfte der Befragten nämlich sagen, sie wollen den Frieden. Andererseits bleibt die Unterstützung für Putin nach wie vor ziemlich groß, und zwar weil die Menschen keinen Ausweg aus der Situation sehen. Es gibt also sehr wenig Menschen in Russland, die diesen Krieg bejubeln. Aber bei den Menschen gibt es auch die Hoffnung, dass es mit Putin irgendwie weiter so stabil wie vor dem Krieg bleibt. Das ist aber eine Illusion.

Das heißt, die Sanktionen haben die wirtschaftliche Lage in Russland nicht so stark getroffen?

Die Situation in Russland hat sich schon in mancher Hinsicht verschlechtert. De facto kommt aber das Geld vom Öl nach wie vor ins Land und die Rüstungsindustrie wird weiter ausgebaut. Da braucht man noch Arbeitsplätze und die Löhne werden erhöht. Es ist noch viel Geld im Land. Auch die Menschen, die sich für die Armee rekrutieren lassen, kriegen ziemlich viel Geld.

Welche Rolle spielen Propaganda und Desinformation für die Stabilität des Regimes in Moskau?

Es gibt kein einheitliches Bild, warum überhaupt dieser Krieg geführt wird, und auch die Propaganda ist in sich widersprüchlich. Von Anfang an hat man mit dem Narrativ gearbeitet, die in der Ukraine seien Nazis, korrupte Faschisten und so weiter. Andererseits sagt man ja, dass man nicht ­gegen die Ukraine kämpft, sondern gegen den Westen und die Nato. Abgesehen von jeglicher Hetze und Fake News ist das Wichtigste, den Leuten permanent zu erzählen: Wir werden angegriffen. Wir Russen sind die Opfer des Westens. Der Westen will uns erobern und wir müssen uns verteidigen. Ja, wir sind von Feinden eingekreist. Und ich glaube, das wirkt und generiert die fatale Unterstützung für Putin.

Wie haben Sie auf die Nachricht reagiert, dass Putin einen der Mörder von Anna Politkowskaja begnadigt hat?

Leider ist das nicht der einzige Fall. Es sind viele Menschen von Putin begnadigt worden, die ganz schreckliche Serienmörder sind. Es gibt ja ehemalige Mörder, die von der Front zurückkommen und mit dem Töten weitermachen! Das ist die schlimme Botschaft, dass man in diesem Land die Strafe nicht ernst nehmen kann. Es gibt kein Recht in „Putins Land“. Das Recht existiert überhaupt nicht in Russland, und das nicht nur für die Regimekritiker.

Ist es möglich, dass der Krieg zu Ende geht und Putin weiter Chef im Kreml ist?

Ich glaube, dass eine deutliche Niederlage in der Ukraine eine Krise in Moskau bewirken könnte. Aber so wie es aussieht, bei diesem dauernden und zermürbenden Krieg, könnte es sein, dass Putin an der Macht bleibt. Ich sehe schon Risse im System, aber zugleich sehe ich momentan nicht den Willen von genügend Menschen, Putin zu entmachten. Vor allem sehe ich das nicht bei der sogenannten Elite oder bei denen, die in Russland als Elite bezeichnet werden.

Putin wird also im März bei der Präsidentschaftswahl wieder kandidieren.

Ja, das ist absolut sicher. Er wird es wahrscheinlich in seiner Ansprache im Dezember verkünden. Es werden gefälschte Wahlen sein, ganz klar. Aber er wird sich weiter profilieren als der Verteidiger Russlands, als derjenige, der für den Schutz des Landes und des russischen Volkes steht. Das wird er den Menschen wieder so verkaufen und hinzufügen, dass es heute für Russland gar keine Alternative zu ihm und seinem Krieg gibt.

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